Soziale Arbeit als Befreiung aus der Enge des häuslichen Milieus

Adriane Feustels Buch über „Das Konzept des Sozialen im Werk Alice Salomons“ hat das Zeug zu einem Standardwerk

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Alice Salomon (1872-1948) ist eine der herausragenden deutschen Sozialreformerinnen und Feministinnen des 20. Jahrhunderts“, konstatiert Adriane Feustel in ihrer Untersuchung zum „Konzept des Sozialen im Werk“ Salomons. Nun handelt es sich bei Feustel nicht um irgendjemand, sondern mit einiger Sicherheit um die profundeste KennerIn der Biografie und des Werkes Alice Salomons, was ihrem Urteil umso mehr Gewicht verleiht. Relativieren könnte ihr Lob allenfalls, dass es sich bei Feustel nicht nur um eine langjährige Mitarbeiterin des Berliner Alice-Salomon-Archives, sondern zugleich um eine große Bewunderin der Namensgeberin handelt. Doch lässt sich seine Berechtigung anhand des Schaffens und Wirkens von Salomon sehr wohl belegen, wie auch Feustels Buch zeigt.

Die Relevanz der „Begründerin der professionellen Sozialen Arbeit und der Ausbildung dazu in Deutschland“ liegt der Autorin zufolge nicht zuletzt darin, dass sie „‚Denken und Tun‘ methodisch in einen Zusammenhang bringt“. Zudem zeichne noch heute eine „überraschende Aktualität“ „zahlreiche Texte Alice Salomons und ihrer Person“ aus. Beides „herauszuarbeiten“ ist das Ziel des vorliegenden Buches.

Indem Feustel Salomons „sozialreformerische, pädagogische und publizistische Tätigkeit“ vor dem Hintergrund ihres Lebens beleuchtet, zeichnet sie zugleich nach, wie die Begründerin der professionellen Sozialen Arbeit ihr „spezifisches Konzept des Sozialen“ herausbildete. Als die vier „grundlegenden Merkmale“ dieses Konzeptes arbeitet Feustel heraus, dass es erstens „das Soziale nicht von den konkreten Erscheinungen trennt, in denen es zum Ausdruck kommt und existiert“, dass Salomon es zweitens nicht nur als „zu entwickelndes“, sondern auch als „zu verwirklichendes Konzept“ verstanden wissen wollte, dass es drittens „die Verwirklichung des Sozialen als einer sozial gerechten Gesellschaft nicht delegiert, sondern in der Verantwortung des und der Einzelnen“ auffasst und viertens, dass es den „Konflikt zwischen der Freiheit, der Emanzipation des Einzelnen und der Gemeinschaft anerkennt und thematisiert“.

Die Autorin gliedert ihre Untersuchung zunächst in die beiden eher historisch orientierten Kapitel „Lebensgeschichte und sozialwissenschaftliches Werk“ sowie „Verdrängen und Erinnern – Alice Salomon im Öffentlichen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland“, denen ein Salomes „Konzept des Sozialen“ gewidmeter Abschnitt folgt, bevor sie abschließend die aktuelle „Bedeutung des Lebenswerks von Alice Salomon“ beleuchtet. Die hier zitierten Kapitelüberschriften könnten fast vermuten lassen, Salomons Anteil an der Frauenbewegung habe eine bloß nachrangige oder gar bedeutungslose Rolle gespielt. Das ist allerdings keineswegs der Fall. Denn, wie Feustel durchaus betont und auch zeigt, „hob“ Salomon „die Frauenfrage innerhalb der sozialen Frage hervor und rückte die soziale Bedeutung der Frauenfrage in den Mittelpunkt.“ Und dies keineswegs nur, weil sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Gründerin der „ersten interkonfessionellen Sozialen Frauenschule in Deutschland“ und der „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ hervortrat und „regelmäßig in den großen Frauenzeitschriften“ publizierte.

Überhaupt, das sei an dieser Stelle eingeflochten, war Salomon eine äußerst produktive Autorin, deren Bibliografie Feustel zufolge etwa 570 Titel umfasst, darunter „verschiedene Bücher über die Ausbildung zum sozialen Beruf“, „ferner Lehrbücher für Volkswirtschaftslehre, Wohlfahrtspflege und Methoden der Sozialen Arbeit sowie familiensoziologische empirische Untersuchungen“. Hinzu kommt eine umfangreiche Korrespondenz, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeiten im „Bund Deutscher Frauenvereine“ (BDF) und dem „International Council of Women“ (ICW) führte.

Salomon vreknüpfte ihr Engagement für die Frauen aufs Engste mit dem für die Soziale Arbeit. Denn wie Feustel darlegt, zielte ihr Einsatz für die „Befreiung der bürgerlichen Frauen aus der Enge des häuslichen Milieus“ darauf, sie für die Ausübung eines Berufes, den der Sozialen Arbeit, zu qualifizieren, wobei Salomon die Soziale Arbeit dezidiert von „philanthropische Wohltätigkeit der Wohlhabenden“ abgrenzte, da diese „an den Ursachen sozialer Probleme nichts zu ändern vermochte“.

Dabei verdeutlichen Salomons Veröffentlichungen nicht selten, „die großen Auseinandersetzungen um den Konflikt zwischen Frauen- und Arbeiterbewegung“. In Salomons Versuch, beide Bewegung zu versöhnen und zu gemeinsamen Aktivitäten zu bewegen, „werden Arbeiterfrage und Frauenfrage als getrennt gesetzt und doch – vermittelt durch die Arbeiterinnenfrage – verbunden“. Denn um sich aus „ökonomischer Abhängigkeit und, damit verbunden, aus der Unterdrückung durch Mann und Familie zu befreien“, rangen die „bürgerlichen Frauen um ihr Recht auf Arbeit“. Eben darin sah Salomon die Möglichkeit, einen „Zusammenhang zwischen Arbeiterinnen- und Frauenbewegung“ herzustellen, gemeinsame Ziele zu entwerfen und gemeinsame Aktivitäten zu entfalten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandte sich Salomon noch gegen, wie Feustel formuliert, „polarisierende, verhärtende Verallgemeinerungen“ der „radikalen Frauenrechtlerinnen“ und hielt es eher mit dem gemäßigten Flügel. Im Laufe des Ersten Weltkrieges einte sie und die Radikalen jedoch der Wunsch nach einem möglichst schnellen Ende des Krieges. Nun neigte Salomon stärker den dezidiert pazifistischen Radikalen zu und wollte sich im April 1915 gemeinsam mit deren Protagonistinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann im Gegensatz zu den patriotischen kriegsbegeisterten Anhängerinnen der gemäßigten Frauenbewegung auf dem Internationalen Kongress zusammen mit Feministinnen anderer kriegführender Länder für den Frieden stark machen. Ihre eventuell zu Beginn der Kampfhandlungen noch vorhandene Kriegsbegeisterung war da jedenfalls bereits verflogen. Doch der drohende Ausschluss aus dem von den Gemäßigten dominierten „Bund deutscher Frauenvereine“ hielt sie von der Reise ab. Später erklärte sie, diese Entscheidung sei „falsch“ gewesen. Erst nach dem Krieg sollte sie sich zugunsten des nach dem Ersten Weltkrieg reaktivierten ICW und gegen den BDF entscheiden – und somit nicht unwesentlich zur Anerkennung jenes durch diesen beitragen.

Einen kritischen Blick wirft Feustel auf Salomons Haltung zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Während sich Salomon in ihren gegen Ende des Zeiten Weltkrieges verfassten Lebenserinnerungen nachdrücklich von der Kriegsbegeisterung der Deutschen zu Beginn des Ersten Weltkriegs distanziert, müsse man dergleichen in ihren während des Ersten Weltkrieges publizierten Texten vermissen. Vielmehr schlage sie in ihnen gelegentlich „Töne“ an, die zumindest heute „nach Kriegsbegeisterung klingen“. Feustel vermutet, Salomon habe in den ersten Kriegsjahren „die verbreitete Ansicht oder Hoffnung geteilt, der Krieg führe zu einer Versittlichung eines durch bloßen Egoismus bestimmten Verhaltens, zu einer Überwindung von Klassengegensätzen.“

Während ihres langjährigen Engagements im BDF hatte Salomon wiederholt unter den dort nicht unüblichen „Rücksichtnahmen auf antisemitische Strömungen zu leiden“, die etwa dazu führten, dass es der Bund 1928 ablehnte, sie für die Wahl zur Präsidentschaft im ICW zu nominieren. Unmittelbar nach der Machübernahme der Nazis wurde den jüdische Dozentinnen der Sozialen Frauenschule verboten, weiterhin Vorlesungen zu halten, und bald darauf durfte auch die Gründerin Alice Salomon „ihre Schule nicht mehr betreten.“ Vier Jahre später wurde sie ins US-amerikanische Exil gezwungen, wo sie – inzwischen naturalisiert – 1948 starb.

Nach dem Krieg blieb Salomons Werk lange vergessen. Noch zur Zeit der „politischen Auseinandersetzungen Ende der 1960er- und der 1970er-Jahre, in denen auch Bedeutung, Funktion und Methoden der Sozialen Arbeit kritisch hinterfragt wurden“, war es unbekannt. Erst ein weiteres Jahrzehnt später sollte sich das langsam ändern, so dass Salomon am Ende der 1980er-Jahre sogar mit einer Briefmarke der Deutschen Bundespost geehrt wurde.

Bleibend aktuell ist Salomons Ansatz Feustel zufolge, weil er darauf beharrt, „dass die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit nicht nur eine Aufgabe des Staates ist, der die gesetzlichen Grundlagen zu garantieren habe“, sondern, „soziale Gerechtigkeit nur durch die soziale Solidarität der Einzelnen verwirklicht werden könne.“

Feustel hat eine insgesamt erhellende und instruktive Arbeit vorgelegt. Nur ganz gelegentlich wagt sie einmal eine steile, ja allzu steile These, die dann etwa in der „Entwicklung von Sozialer Arbeit als Beruf eine Übersetzungsarbeit der expressionistischen Menschheitsformeln in profane Praxis“ erkennen will. Auch vermag Feustels eher vage Engführung von Sozialer Arbeit und Psychoanalyse, denen die „Annahme von Verdrängtem“ gemein sei, nicht recht überzeugen. Doch derlei kann man der Historikerin ebenso nachsehen, wie den Umstand, dass sie nicht zwischen der Autorin und der Erzählinstanz eines Romans unterscheidet. Denn ihre Kenntnisse von Salomons Leben und Werk sind profund. Sein Informationsreichtum prädestiniert das vorliegende Buch dazu, zu einem Standardwerk über „Das Konzept des Sozialen im Werk Alice Salomons“ zu werden.

Titelbild

Adriane Feustel: Das Konzept des Sozialen im Werk Alice Salomons.
Metropol Verlag, Berlin 2013.
296 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783863310295

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