Zugänge zu Texten aus dem Mittelalter

Mediävisten stellen „Fragen an das Konzept der Alterität“

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Robert Jauss hat in den 1970er-Jahren das Konzept der Alterität postuliert, das vor allem die Mediävisten dankbar aufgegriffen und weiterentwickelt haben. Manuel Braun hat nun ein Buch herausgegeben, dessen Beiträge das Ziel verfolgen, „das Konzept der Alterität mithin der Kritik zu unterwerfen und es mit einem möglichen Korrektiv, nämlich der Konstante, zu konfrontieren“. Fünf Aufsätze (von Rüdiger Schnell, Florian Kragl, Katharina Philipowski, Timo Reuverkamp-Felber und Silvan Wagner) stehen unter der Überschrift „Kritik der Mediävistik am Konzept der Alterität“, vier Abhandlungen (von Christine Stridde, Klaus Kipf, Elisabeth Schmid und Annette Kehnel) befassen sich mit „Konstanten als Alternativen zum Konzept der Alterität“.

Einleitend untersucht Manuel Braun die „Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie“ und erläutert die Ziele des Sammelbandes. Er fragt nach, ob es für die Forschung wirklich fruchtbar ist, wenn sie „ihren Gegenstand zu etwas anderem und damit Besonderem erklärt“. Daran anschließend überprüft er die „Alterität als historiographische Kategorie“ und überlegt, „ob es nicht andere, genauso gut oder gar besser geeignete Möglichkeiten gibt, Geschichte zu konzeptualisieren.“ Im Vergleich mit anderen Disziplinen wird deutlich, „dass die Mediävistik den Begriff ,Alterität‘ oft und für sehr vieles verwendet“ und auf ihn eigentlich nur zurückgreift, „um die Bedeutung des Mittelalters und der Mittelalterwissenschaften zu behaupten“. Braun kommt zu dem Schluss, den er mehrmals wiederholt: „An Jauss’ Konzept einer Alterität der mittelalterlichen Literatur wird man heute nicht mehr ohne weiteres anschließen wollen, zu sehr scheint es einer abgeschlossenen Epoche der Wissenschaftsgeschichte anzugehören.“ Nach seiner Auffassung ist „einem Diskurs sein Begründer abhanden gekommen“, jedenfalls könne man an Jauss nicht anknüpfen, „wenn man ein tragfähiges Alteritätskonzept entwickeln will.“ Aber soll man das überhaupt tun? Nach Braun jedenfalls nicht, denn er stellt fest: „Die Neubegründung der Alterität als methodologische respektive methodische Kategorie scheint mir auch nicht hinreichend tragfähig zu sein.“ Und für ihn liefert Alterität zudem „kein schlagendes Argument, warum man sich mit dem Mittelalter und seiner Kultur zu befassen hat.“ Vehement bezweifelt Braun die Leistungsmöglichkeiten des historisch-deskriptiven Begriffs und formuliert sieben Einwände: Der Alteritäts-Begriff sei konstruiert, zu pauschal, ohne ausreichende Belege, funktionslos, weise eine „zirkuläre Struktur“ auf und sei „als historische Kategorie höchst problematisch“ und bei der „speziellen Situation der germanistischen Madiävistik“ nicht einsetzbar, da diese dadurch gekennzeichnet sei, „dass sich eine allgemeine Alteritätsvermutung und einzelne Alteritätsparadigmen wechselseitig stützen.“ Er empfiehlt der „germanistischen Mediävistik, die sich weithin der Alterität verschrieben hat, die Verwendung von „Konstanzen als Korrektiv“. Braun bezeichnet die Alterität „eher als Verlegenheits- denn als Leitkonzept“ und plädiert ihr gegenüber „zu größerer Zurückhaltung“, im Grunde genommen fordert er ihre Aufgabe. Es verwundert den Leser, dass diese Konsequenz bereits im Vorwort gezogen wird, denn er kann sich unter diesen Umständen denken, was ihn in den Fallstudien erwartet.

Rüdiger Schnell liefert mit seinem kenntnisreichen Beitrag einen fundierten Einblick in die Alteritätsdebatte der Mediävisten. Auch diejenigen, die sich seiner Forderung nach Einstellung der „Alteritätskampagne“ nicht anschließen können, werden seinen Aufsatz mit Gewinn lesen. Seine Kritik an der Suggestion, wonach das Mittelalter wie auch die Neuzeit „in sich geschlossene, monolithische Gebilde“ seien, ist nachvollziehbar, auch wenn man sie nicht teilt. Aufgrund der Tatsache, dass „‚Mittelalterliches‘ noch in der ‚Neuzeit‘ existiert und ‚Neuzeitliches‘ schon im ‚Mittelalter‘“ muss sich nicht gleich die Alterität des Mittelalters verflüchtigen, wie von Schnell behauptet, der daran die These anschließt: „Diese ist nur als Abstraktion zu denken, und als solche behindert sie die konkrete historische Analyse eher, als dass sie sie befördert.“ Später spitzt er sie sogar noch zu: „Das Schlagwort ‚Alterität des Mittelalters‘ legitimiert also die Neuzeitspezialisten, die Mittelalterforschung zu ignorieren und schadet so der Mediävistik.“

Schnell legt dar, wie „das kulturelle und publizistische Umfeld für die Alteritätskampagne der Mediävisten“ günstig war und welche Ziele die Wissenschaftler mit ihr verfolgt, seiner Meinung nach aber nicht erreicht haben. Er kämpft gegen die weit verbreiteten Klischees der „Neuzeitspezialisten“ und die „Folgen von Pauschalurteilen über das 10. bis 15. Jahrhundert“ an und gibt sinnvolle Anregungen, wie man sie beseitigen und „die Interdependenz von Neuzeit- und Mittelalterbild“ aufzeigen kann. Eine reizvolle Aufgabe sei es zum Beispiel, „Schnittmengen für die Individualitäts-, Subjektivitäts- und Identitätskonzepte von ‚Mittelalter‘ und ‚Neuzeit‘ herauszuarbeiten“. Im Besonderen müssten die Literaturwissenschaftler die Bereiche „Liebe und Ehe“, die „Einstellung zur Sexualität“, die „Liebe zu Kindern“, die „mittelalterliche Naturwissenschaft“ neu und intensiv untersuchen sowie beim Thema „Autorstatus/Textstatus/Autonomie“ die „Fiktionalitäts- und Autonomiediskussion“ unter Berücksichtigung des Textmaterials vertiefen. Dadurch würde nach seiner Auffassung das Alteritätsmodell noch weiter zurückgedrängt werden. Um seinen Anstößen Nachdruck zu verleihen, setzt Schnell zuweilen auch herzhafte Polemik ein: „Es bedarf schon einer gehörigen Portion an Ignoranz, behaupten zu wollen, die mittelalterliche Literatur habe Sexualität marginalisiert und sich einer Spiritualisierung der Liebe verschrieben.“ Schnell kommt zu den „Ein- und Aussichten“, dass es „dem historischen Befund angemessener“ sei, „die Relation von ‚Mittelalter‘ und ‚Neuzeit‘ (Moderne) nicht ausschließlich als Kontrast zu fassen und von der ‚Alterität des Mittelalters‘ zu sprechen. Denn dieses Alteritätsmodell bedient erstens die dominanten negativen Mittelalterbilder und blendet zweitens all das aus, was Neuzeitspezialisten für die Neuzeit reklamieren, was aber doch […] auch ‚das Mittelalter‘ aufweist: Rationalität, Individualität, Pluralität, Verinnerlichung, Liebesehe, Anerkennung sexueller Lust, Weltbejahung, Naturerforschung usw.“ Er fordert eine neue Ausrichtung der Forschung, bei der „die Mediävistik stärker eigene Themen und Forschungsparadigmen“ kreiert und ist davon überzeugt, dass dann „die Beschäftigung mit dem Zeitraum Mittelalter zu einer Entdeckungsreise werden“ könnte.

Mehrere Beiträge fallen durch ihre verschrobene Diktion auf, mit der die Verfasser offenbar Wissenschaftlichkeit vortäuschen möchten. Der Aufsatz von Florian Kragl über „Alterität als Methode“, der sich mit den Studien von Peter Czerwinski und Harald Haferland kritisch auseinandersetzt, fällt in diese Kategorie. Die verschachtelten und mit Fremdwörtern überladenen Sätze nerven den Leser. Als pars pro toto ein Zitat: „Selbst also wenn man mit HAFERLAND – und das scheint mir sogar recht wahrscheinlich – davon ausgeht, dass im ,Nibelungenlied‘ der alte ‚Stoff‘ zusammen mit einem kontiguitären Blick ein narratives Konvolut bildet, kann die Erzählung, kann das narrative Kondensat aus Stoff und kontiguitärer Perspektivierung ex posteriori wiederum neu, kausallogisch reinterpretiert werden – zumal wenn Kontiguität nichts anderes ist als eine kausallogische Abkürzung, wenn narrative Metonymien, wenn Verdichtung, Verschiebung und Vertretung doch immer wieder kausallogisch aufzudröseln sind. Das Erzählen des ‚Nibelungenliedes‘ wäre, in dieser hypothetischen Annahme, tatsächlich ein alteritäres – es aber als solches zu erkennen, wäre nur einer divinatorischen Interpretation gegeben.“ Nach dem Genuss von solchen Formulierungen kann man nur beglückt „Halleluja“ singen. Ambitionierten Germanisten sei also Kragls Aufsatz zur Lektüre empfohlen.

Katharina Philipowski schreibt über „Vergangene Gegenwart, vergegenwärtigte Vergangenheit: Zeit und Präsenz in der mediävistischen Alteritätsdebatte“. Ihr erklärtes Ziel ist es, „aus einer medientheoretischen Perspektive heraus eine Kritik des Präsenzbegriffes“ zu entwickeln „und zwei altgermanistische Theorieansätze“ vorzustellen, „die meiner Auffassung nach das Ziel verfolgen, Präsenz und Medialität nicht in einem Ausschließungs-, sondern in einem generischen Verhältnis zu beschreiben.“ Außerdem möchte sie „nachweisen, warum es eine Verkürzung darstellt, die Alterität mittelalterlicher Literatur auf Präsenzeffekte innerhalb der erzählten Welt zurückzuführen.“ Obwohl sie über weite Strecken ihr Thema aus den Augen verliert, formuliert sie schließlich als Ergebnis ihrer Untersuchung, „dass die Fremdheit, die wir in mittelalterlichen Erzähltexten wahrnehmen, keine anthropologische Kategorie“ sei, „die uns den Zugang zur Alterität des Mittelalters erschlösse. Einfacher gesagt: Die Alterität mittelalterlicher Literatur ist stets nur die Alterität mittelalterlicher Literatur, nicht die ‚des‘ Mittelalters. Sie sagt so viel oder so wenig über dessen ‚Andersartigkeit‘ aus wie die Literatur jeder anderen Epoche, so viel oder so wenig, wie die zeitgenössische Literatur über uns.“

Timo Reuvekamp-Felber beschäftigt sich in seinem gut lesbaren Beitrag „Mittelalterliche Literatur als Schauraum einer performanzbestimmten Laienkultur?“ mit den „Visualisierungstechniken als Grundlagen des Erzählens in Vormoderne und Moderne“. Er kritisiert das Alteritäts-Postulat, das vielen Mediävisten lediglich „eine willkommene Begründung dafür“ geliefert habe, „eine institutionelle Verankerung als Teildisziplin der Germanistik zu garantieren“. Er geht der Frage nach, „ob es eine Spezifik mittelalterlicher Visualisierungstechniken gibt“ und stellt Überlegungen an, „was in Zukunft geleistet werden müsste, um herausarbeiten zu können, wofür historisch und typenspezifisch abweichende literarische Konzepte vom Körper letztlich signifikant sind.“ Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Studien Horst Wenzels zur „Poetik der Visualität“. Reuvekamp-Felber vergleicht Literaturbeispiele aus der Antike (Vergils „Aeneis“), dem Mittelalter (Wolfram von Eschenbach) und der Neuzeit („Henri Quatre“ von Heinrich Mann, „Extension du domaine de la lutte“ von Michel Houellebecq) und kommt zu dem Ergebnis, dass „die Semiotik der Körperdarstellung sich nicht grundlegend (ändert) von der Antike ins Mittelalter und ebenfalls nicht vom Mittelalter zur Neuzeit.“ Lediglich „die konzeptionelle Semantisierung des Körpers“ sei „kultur- und gattungsspezifisch“ und unterliege „der historischen Veränderung.“ Seine nachvollziehbare Schlussfolgerung lautet: „Die Signifikanz der literarischen Körpersprache und ihrer Wahrnehmung in den verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte ist nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erschließen.“

Silvan Wagner erörtert das Thema „Religion zwischen Alterität und Egalität“. Denn: „Die kulturelle Bedeutung von Religion gilt als Paradebeispiel für die Alterität des Mittelalters, indem man dieses als eine grundsätzlich religiös geprägte Epoche einer ebenso grundsätzlich als säkularisiert bestimmten Neuzeit gegenüberstellt.“ Wagner setzt nun beim „Bild einer neuzeitlichen Gesellschaft“ an, „die Religion als Privatsache aus dem öffentlichen Diskurs zunehmend ausschließt“. Seiner Meinung nach ist diese Vorgehensweise „zumindest für die Postmoderne nicht ungebrochen aufrechtzuerhalten.“ Allerdings scheint er selbst gemerkt zu haben, dass er sich die schwierigste, eigentlich unlösbare Aufgabe vorgenommen hat, wenn er die Untauglichkeit des Alteritäts-Konzepts in Bezug auf die Religion nachweisen möchte. Er begnügt sich daher mit vorsichtigen Formulierungen, die Unsicherheit verraten: „Freilich soll hier nicht behauptet werden, dass die interdiskursive Religiosität des höfischen Hochmittelalters derjenigen der Postmoderne gleich sei; es ergeben sich lediglich bei genauerer Betrachtung genügend Indizien dafür, dass eine grundlegende Alterität nicht selbstverständlich behauptet werden kann. Dies bedeutet freilich noch nicht, dass Alterität als operativer Begriff ausgedient hat; er büßt lediglich seinen Status der Selbstverständlichkeit ein“. Schließlich lässt er seine Überlegungen auf den Lösungsvorschlag zulaufen, der alles irgendwie offen lässt: „Alterität wird so zu einem möglichen, aber nicht notwendigen Ergebnis eines Vergleichs, der damit jedoch des Gegenbegriffs der Egalität bedarf, um sinnvoll operieren zu können.“

In ihrem Beitrag „Innovativer Formalismus und Konkretheit des Symbolischen“ beschäftigt sich Christine Stridde mit „Konrads von Würzburg poetologischem Programm“. Dieser Aufsatz hätte allerdings auch an einem anderen Ort veröffentlicht werden können, denn der Bezug zum Thema des Sammelbandes und der „angsteinflößenden Radikalität von Czerwinskis Alteritätskonzept mit seinen unwägbaren Verstörungspotentialen“ ist nicht zwingend. Dies gilt eigentlich auch für Elisabeth Schmids interessante und lesenswerte Fallstudie „Übersetzen und Adaptieren französischer Versromane. Bearbeitungskonzepte im volkssprachlichen Mittelalter“. Eingehend werden französische Textpassagen und ihre Übertragungen in andere Sprachen miteinander verglichen und „Typen der Übersetzung in der mittelalterlichen Literatur“ unterschieden. Schmid selbst sieht ihren Beitrag als Beweis, dass mittelalterliche Übersetzungen „eher Teil an einer Problematik“ haben, „die dem Übersetzen grundsätzlich innewohnt, als dass sie sich als epochenspezifisches Erzählverhalten klassifizieren ließen.“

Klaus Kipf forscht mit seinem Beitrag „Lachte das Mittelalter anders? Relative Alterität und kognitive Kontinuität komischer Strukturen in Schwankerzählungen des 13.-15. Jahrhunderts“ nach Alterität der Komik in literarischen Texten des Mittelalters. Er versucht zunächst zu erklären, warum „wir über Witze und andere komische Dinge“ lachen und kommt anschließend auf die mittelalterlichen Schwankerzählungen zu sprechen. Da er für das Wortfeld „lachen“ verschiedene mittelhochdeutsche Vokabeln findet, zieht er daraus den Schluss, „dass für die historische Semantik hier ein weites Forschungsfeld offen steht, dessen Bestellung auf methodischer Höhe der Zeit noch am Anfang steht.“ Hauptsächlich ausgehend von den Texten des Strickers stellt er fest, „dass in den mittelhochdeutschen Schwankmären häufig über komische Situationen, unangemessen-naive Einlassungen oder Handlungen gelacht wird.“ Nach seiner Auffassung ist die Frage, ob das Mittelalter anders lachte, „in dieser hypertrophen Generalität“ gar nicht zu beantworten. Man fragt sich allerdings schon, warum Kipf diesen Aufsatz dann überhaupt geschrieben hat. Als schweres Versäumnis erweist sich der Fakt, dass die Eulenspiegel-Geschichten und die Neidhart-Schwankliteratur sowie die zu ihr gehörige Forschungsliteratur vollkommen ignoriert worden ist. Denn diese befasste sich ja gerade mit der Frage, worüber man im Mittelalter gelacht hat und was an diesem „verächtlich machenden Humor“ anders ist. Kipf hätte diese Forschungsbeiträge unbedingt heranziehen müssen, zum Beispiel die von Heinz Rupp („Schwank und Schwankdichtung in der deutschen Literatur des Mittelalters“, 1962), Christa Ortmann u.a. („Literarisches Handeln als Medium kultureller Selbstdeutung“, 1976), Ulrich Müller („Zur Lachkultur in der deutschen Literatur des Mittelalters“, 1994), Ingrid Bennewitz (Von badenden Graserinnen, liebestollen Mädchen und männlichen Bräuten“, 1998), um nur einige wenige zu nennen. Es ist auch in keiner Weise nachvollziehbar, dass er die Neithartspiele ausgeklammert hat, denn sie geben Antworten auf seine Frage, ob das Mittelalter anders lachte. Auch zu den Neithartspielen liegen inzwischen viele Untersuchungen vor, vgl. z.B. den zuletzt veröffentlichten Beitrag von Hans Rudolf Velten („Ekel, Schrecken, Scham und Lachen: Inszenierungen negativer Emotionen’ im Neidhartspiel“, 2008.) Ebenso wenig werden Studien zur Narrenliteratur herangezogen (vgl. etwa Maurice Lever: Zepter und Schellenkappe. Zur Geschichte des Hofnarren“, 1992), die ebenfalls zur Beantwortung der Themenfrage beitragen können. Da er offenbar selbst erkannt hat, dass die Literatur, die er als Grundlage für seine Fallstudie heranzieht, nicht ausreicht, formuliert Kipf die gewagte These: „Ein vollständiger Überblick über alle vergleichbaren Textstellen der edierten mittel- und frühneuhochdeutschen Schwankliteratur“ würde „kein nennenswert abweichendes Ergebnis bringen.“ Das muss man bezweifeln. Aufgrund der Defizite in der Literaturauswahl – gerade zur Beantwortung der Themenfrage hätte man unbedingt auch die Neithartspiele heranziehen müssen – erscheint das Resümee überaus fraglich, auch wenn Kipf es in hochgestochenem Wissenschaftsdeutsch formuliert hat (um es offenbar gewichtig aussehen zu lassen): „Verzichtet werden kann aber für die mittelalterliche Komik auf den Begriff der Alterität, wenn diese Vokabel benutzt wird, um das, was uns hier und heute fremd ist, zu hypostasieren und essentialisieren und es damit der historisch-philologischen Rekonstruktion zu entziehen in einer Kategorie, die prinzipielle Unhintergehbarkeit beansprucht und die nicht auf dem Weg bewährter philologischer Methodik approximativ zu minimieren wäre. Die Vorstellung absoluter Alterität mittelalterlicher Texte ist auf dem Teilgebiet der Komik obsolet.“

Annette Kehnel schließt mit ihrem gelungenen Beitrag über „Der homo miserabilis oder: die menschliche Befähigung zum ‚Heimweh nach der Traurigkeit‘“ den Sammelband ab. Obwohl sie ihre Studie in der Überschrift „ein Plädoyer für Universalien statt Alterität“ nennt, fällt sie angenehm aus dem vorgegebenen Ablehnungs-Konzept. Kehnel konstatiert: „Es ist also – auch historisch betrachtet – nicht nur legitim, sondern auch zeitgemäß, die Alterität infrage zu stellen, noch zeitgemäßer wäre es, sie zu evaluieren.“ Den Aufsatz liest man mit großem Gewinn, und zwar, weil die Autorin die Alterität nicht einseitig verurteilt und ablehnt, vielmehr sogar warnt, „allzu große Geschütze gegen das Alteritätsparadigma aufzufahren.“ Schließlich kann man ihrer Aussage durchaus zustimmen, wonach Alteritäts- und Identitätskonstruktionen „Hilfskonstruktionen“ seien, die „ganz brauchbare Gerüste zur Konstruktion von Faszinationstypen“ liefern. Ausgehend von der im Jahr 1194 von Lothar von Segni, dem späteren Papst Innozenz III, verfassten Schrift „De miseria humane conditionis“, die „ein mittelalterlicher Bestseller“ war, untersucht Kehnel „die Fähigkeit des Menschen, an sich und seiner Umwelt zu leiden.“ Es geht „um seine Fähigkeit, Scheitern als Scheitern zu beklagen, um sein Bedürfnis, Unzulänglichkeit zu konstatieren und zu kompensieren, sowie um sein Bedürfnis, Opfer zu bringen.“

Der von Manuel Braun herausgegebene Band stellt insgesamt keine „Fragen an das Konzept der Alterität“, er stellt vielmehr dieses Konzept in Frage. Er enthält Beiträge von unterschiedlicher Qualität. Manchem Aufsatz merkt man zu sehr an, dass er nur geschrieben wurde zu beweisen, dass die Alteritätskonzeption falsch ist und schleunigst ad acta gelegt werden sollte. Nachteilig ist, dass das Konzept der Alterität lediglich von einer Seite beleuchtet wird, nämlich nur von Germanisten, die es für einen Irrweg halten – der zuletzt genannte Aufsatz von Annette Kehnel stellt eine lobenswerte Ausnahme dar. Hätte man auch die Befürworter zu Wort kommen lassen, wäre das Buch durch die kontroverse Auseinandersetzung sicherlich lebendiger geworden. Immerhin: Einigen Beiträgern gelingt es, trotz einseitiger Ausrichtung der Erörterung, zu dem von ihnen aufgegriffenen Thema sowie zur Revision des Alteritäts- Forschungsprogramms interessante Denkanstöße zu geben.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Manuel Braun (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität.
V&R unipress, Göttingen 2013.
322 Seiten, 49,99 EUR.
ISBN-13: 9783847101574

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