Niemals aber, niemals schläft die Seele

Jean-Luc Nancys poetische Reflexionen über den Schlaf

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie stark und erfinderisch er auch sein mag – im Schlafzustand, also während eines Drittels seines Lebens, kann der Mensch (fast) nichts wahrnehmen. Er ist infolgedessen passiv, unproduktiv und schutzlos. Einschlaferleben, Leicht- und Tiefschlaf, Traum, Tagträumen und Aufwacherleben stellen allesamt Bewusstseinszustände des multidimensionalen Phänomens des Schlafs dar, die an der Erfahrungswelt des Menschen ebenso teilhaben wie das normale Wachbewusstsein.

Dem Bewusstseinszustand der äußeren Ruhe wird einerseits ein ausschließlich biologischer Sinn zugeschrieben, indem er auf physiologische Prozesse reduziert wird, andererseits muss der Schlaf eine begrenzte Perspektive, eine „oneirozentristische“ Exklusion erdulden, wofür die immense Resonanz der Psychoanalyse als Interpretation der Träume (griechisch oneiroi) mitschuldig ist. Schon Freuds Begriff der „Traumarbeit“ im Schlaf zeigt auf paradoxaler Weise, dass der Schlaf, im Unterschied zum Traum, absolut unproduktiv ist. Dass der traumlose Schlaf nicht an der Produktion eines wie auch immer gearteten Mehrwertes teilnimmt, wäre dennoch eine unzureichende Legitimation dazu, ihm den existentiellen, philosophischen und gar politischen Sinn abzustreiten.

Das Phänomen des Schlafs wurde bislang hauptsächlich von medizinischer, psychologischer, hirnphysiologischer oder schlafsoziologischer Seite angegangen, jedenfalls mit einem stärkeren Fokus auf pathologischen Formen. Wenn man über das Wort und die Idee des Schlafs in der Sphäre des philosophischen Interesses nachdenkt, stößt man darauf, dass Philosophen dieses Thema haben eher links liegen lassen. Es ist eine Defizitdiagnose, die neuere Studien zur Philosophie, Poetik und Politik des Schlafs naturgemäß monieren, wie zum Bespiel die Arbeiten von James Hill, Simon Morgan Wortham oder Alexei Penzin. Während bei den altgriechischen Denkern (Platon, Aristoteles) der Schlaf einen bedeutenden Platz in der Staatslehre einnahm, scheint es in der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie als das marginalisierte, unwesentliche Andere der Wachsamkeit verdrängt zu werden.

Um klar zu sehen, genügt oft eine Änderung des Blickwinkels, schrieb einst Antoine de Saint-Exupery. Ein veränderter Blickwinkel könnte uns vor Augen führen, dass eben das, was wir als „rationales Bewusstsein“ zu bezeichnen pflegen, nur eine bestimmte Art von Bewusstsein ist, während um es herum potentielle Formen des Bewusstseins liegen, die andersartig sind.

Jean-Luc Nancys „Vom Schlaf“ eröffnet im Gefolge von Giles Deleuze, Jacques Derrida, Emmanuel Lévinas und anderen europäischen Philosophen einen sehr dichten Denkraum, in dem Philosophie, Mythologie und Literatur zusammenschmelzen. Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um die von Centre National du Livre ausgezeichnete deutsche Übersetzung des französischen Originals „Tomber de sommeil“ (Éditions Galilée 2007). (Eine frühere französische Fassung ist 2006 unter dem Titel „Ars somni“ im Katalog der Ausstellung „Dormir, rêver… et autres nuits“ erschienen. Dort kommentierte Nancy ein Fragment über den Schlaf aus Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ und fragte nach der Möglichkeit einer Vernunft des Schlafs, die eben in der Form und Modalität des Schlafs am Werke sei.)

Die circa 60 Seiten des Bändchens „Vom Schlaf“ bieten eine etwas sprunghafte jedoch kostbare Sammlung von Überlegungen darüber, was mit dem Ich und mit dem Selbst im Schlaf geschieht. Biologische oder psychologische Aspekte adressiert Nancys Büchlein nur en passant. Das durchaus komplexe Phänomen des Schlafs erfordert hingegen in Nancys Essay eine eigene, stark lyrisch-reflexive Sprache, in der Philosopheme wie „Ich“, „Selbst“, „Schließung“/“Öffnung“, „Innen/Außen“, „Grenze/Schwelle“, „Singularität/Pluralität“, „(Un-)Ordnung“, „Körper-Geist-Dualität“ und so weiter eine weitaus wichtigere Rolle spielen als quantifizierbares und berechenbares Datenmaterial. Die elementaren Erkenntnisprozesse des sorgsamen Wägens und Deutens stehen ja – nicht nur für den Philosophen – dem Zählen und Messen keineswegs zurück. Ganze Wort- und Bedeutungsfelder tun sich in Nancys Essay auf, das Büchlein hat zugleich etwas Kinematografisches, denn es arbeitet mit einem Aneinanderreihen von Bildern und Tönen.

Nancys virtuoses Spiel mit den phonetischen und metaphorischen Qualitäten der Sprache beginnt schon beim titelgebenden tomber de sommeil, was der deutschen Wendung „vor Schlaf fallen“ oder „in den Schlaf fallen“ entspricht. Darin wird für Nancy die existentielle Ununterscheidbarkeit zwischen Lust und Leid, also eine gewisse „Ontologie der Instabilität“, sichtbar: „Wenn ich in den Schlaf falle, wenn ich sinke, ist alles undeutlich geworden, indistinkt, Lust und Leid, die Lust selbst und ihr eigenes Leid, das Leid selbst und seine eigene Lust. Eine geht ins andere über und erzeugt die Müdigkeit, die Schlaffheit, Langeweile, Lethargie, das Abkoppeln, das Lösen der Taue.“

Das französische „tomber“ liegt aber auch in phonetischer Nähe zu „tombe“ (= Grab), so dass hier über den Schlaf – in Anlehnung an Nataniel Hawthorne – auch als „zeitweiligen Tod“ reflektiert wird. Nancys Meditation bewegt sich somit zwischen Eros und Thanatos, wenn er einige Seiten später über den Schlaf der Liebenden schreibt: „Zusammen zu schlafen eröffnet nicht weniger als die Möglichkeit, ins Intimste des anderen einzudringen, nämlich in seinen Schlaf. Der glückliche, ermattete Schlaf der Liebenden, die gemeinsam versinken, verlängert ihren Liebesflug in eine lange Schwebe hinein, in eine Fermate, die bis an die Grenzen der Auflösung und des Verklingens ihres Einklangs selbst gehalten wird: vermischt, entmischen ihre Körper sich unmerklich, mögen sie mitunter auch bis zum Ende des Schlafs umschlungen bleiben.“

Ein weiteres Bedeutungsfeld bildet die Beweglichkeit des Schlafes, denn was zum Schlaf führt, hat die Form des Rhythmus, der Regelmäßigkeit und der Wiederholung, ein gewisses anthropologisches Wiegenlied: „Doch niemand gelangt in den Schlaf ohne ein Wiegen nach seiner Weise. Niemand kann darauf verzichten, mitgezogen zu werden von einem Takt, den er nicht einmal wahrnimmt, dass es ist eben jener Takt der Abwesenheit, die in die Anwesenheit eindringt.“

Ein wesentliches Element in der Ordnung des Schlafs markiert Nancy in der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen, in der „Gegenwart alles Kompossiblen, selbst des Unvereinbaren“. Der Schlaf sei keine Metamorphose, allenfalls ließe es sich als Endomorphose verstehen, als „inwendige Formung“, doch ohne Transformation des Seins. Durch das Einschlaferleben sei die Rückkehr zu sich selbst möglich, die Aufhebung jeglicher Unterschiedenheit von „ich“ und „du“, eine Distanzierung von der Welt in der Welt. Die Präsenz des Schläfers sei folglich „die Präsenz einer Abwesenheit“, eine Überlegung, die an Emmanuel Lévinas’ Reflexionen über die „ontologische Bedeutung des Schlafes“ in seinem Buch „Von der Existenz zum Existierenden“ („De l’Existence à l’Existant“, 1947) erinnert: Der Schlaf sei ein anonymes Sein, ein Phänomen „der Existenz ohne den, der existiert“.

Am stärksten und originellsten sind die Textstellen, an denen die Reflexion in zeitdiagnostisch-spekulative Alltagsbeobachtung überschlägt, was zugleich die Aktualität des Themas deutlich macht: „Es ist möglich, dass die heutige Welt eine ohne Schlaf und ohne Wachen ist. Im Stehen schlafend, verschlafen wachend. Schlafwandlerisch und schläfrig. Eine Welt, der der Rhythmus genommen ist, eine Welt, die sich den Rhythmus genommen hat, die sich die Möglichkeit entzogen hat, ihre Tage und Nächte der Ordnung einer Natur oder einer Geschichte entsprechen zu sehen. […] Arten von Schlaf, die nur noch Parodien, Karikaturen von Schlaf sind, unter Schlammwasser gehalten Köpfe, denen verweigert wird, sich der Hingabe der tiefen Wasser zu überlassen. Wie soll man schlafen in einer Welt ohne Wiegenlied, ohne ruhigen Refrain?“

Gattungstechnisch betrachtet bietet „Vom Schlaf“ eine leicht prätentiöse Stilübung auf dem halben Weg zwischen lyrischer Prosa und philosophischem Essay: größtenteils metaphorisch hochgerüstet, in selten irritierender Weise assoziativ. Der Text ist gespickt mit grammatischen Kontorsionen („Ich falle in mich und (m)ich fällt in sich. Es bin nicht mehr ich, es ist nicht mehr ich, es ist selbst“ oder „Das Ding an sich ist Ding von kein-Ding“) sowie mit phonetischen Spielen und Assonanzen („vermischt, entmischen ihre Körper sich unmerklich“ oder „bis an die Grenzen […] des Verklingens ihres Einklangs“), worin sich die Hochleistung der Übersetzerin nochmal zeigt.

Eine Fülle von Metaphern, Chiasmen, Parallelismen und überspannten Sprachbildern: was den Nancy-Fans ein großes Lesevergnügen bietet, könnte aber wie eine ermüdende Lawine über den unvorbereiteten Leser niedergehen. Trotzdem ein schönes und ansprechendes Buch, in dem vieles – aufgrund der ausgewählten Gattung – skizzenhaft bleibt und daher auf weitere Ausführung wartet.

Literatur

Hill, James:  „The Philosophy of Sleep. The Views of Descartes, Locke und Leibniz,“ in: Richmond Journal of Philosophy 6 (Spring 2004), S.1-7.

Morgan Wortham, Simon: „The Poetics of Sleep: From Aristotle to Nancy,“ Bloomsbury 2013.

Nancy, Jean-Luc: „Ars somni,“ in: „Dormir, rever… et autres nuits,“ Bordeaux 2006.

Penzin, Alexei: „ Rex Exsomnis – Schlaf und Subjektivität in der kapitalistischen Moderne“, dOCUMENTA (13): 100 Notes – 100 Thoughts, 100 Notizen – 100 Gedanken, # 097, Stuttgart/Berlin 2012

Titelbild

Jean-Luc Nancy: Vom Schlaf.
Übersetzt aus dem Französischen von Esther von der Osten.
Diaphanes Verlag, Zürich 2012.
64 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783037342190

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