Wo die Vergangenheit sich mit der Zukunft trifft

In bruchstückhaften Erinnerungen entspinnt Patrick Modiano in seinem neuen Roman „Der Horizont“ eine Liebesgeschichte in Paris, die längst vergangen, doch allgegenwärtig scheint

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Patrick Modiano kennt, weiß, worin die große Kraft seiner Prosa liegt: Es ist die Zufälligkeit, die scheinbare und teils auch die tatsächliche Absichtslosigkeit, mit der Modiano seine Geschichten entspinnt. Das sind keine durchkomponierten Romane, die der französische Autor, dessen Œvre mittlerweile fast 30 Werke umfasst, schreibt, sondern leicht hingepinselte Prosaskizzen, die nicht zuletzt der ihnen eigenen Unberechenbarkeit vom ersten Satz weg einen ganz eigenen Sog entfalten. Modianos neuesten auf Deutsch erschienenes Buch „Der Horizont“, übersetzt von Elisabeth Edl, ist da keine Ausnahme. Es ist in jeder Hinsicht ein echter Modiano.

Erzählt wird die Geschichte von Jean Bosmans und Margaret Le Coz, die einander zufällig im rast- und ruhelosen Paris der 1960er-Jahre bei einer Demonstration begegnen. Während Bosmans an seinem ersten Buch schreibt und in einer kleinen Buchhandlung arbeitet, versucht sich Margaret mit Gelegenheitsarbeiten als Sekretärin oder als Kindermädchen über Wasser zu halten. Die beiden verlieben sich ineinander, doch die Beziehung wird von außen bedroht: Seit langem wird Margaret von Boyaval, einem Mann mit „pockennarbigem Gesicht“ und „großen Händen“ verfolgt, vor dem sie nach Paris geflohen ist, der sie aber auch dort wieder aufspürt; und Bosmans fühlt sich, so unglaublich das klingen mag, von seinen eigenen Eltern, seiner Mutter und wie er sagt „dem aus der Kutte gesprungenen Pfarrer“, bedroht, die, wann immer sie ihm begegnen, von ihm Geld verlangen. Das Glück der beiden Liebenden zerbricht schließlich endgültig, als Margaret nach der dubiosen Verhaftung ihres aktuellen Arbeitgebers, eines Arztes mit einem Faible für Okkultismus, Hals über Kopf Frankreich verlässt und in ihre Geburtsstadt Berlin flüchtet, um vor der Polizei, die auch sie verhören will, in Sicherheit zu sein.

Rund vierzig Jahre später erinnert sich Bosmans an diese Episode seines Lebens, an seine Liebe zu Margaret, sucht die Plätze nochmals auf, an denen er zusammen mit ihr war, sucht nach jenem Boyaval, vor dem Margaret sich damals so gefürchtet hat. Dieses In-Erinnerungen-Spazieren bildet die eigentliche Folie für die ganze Geschichte, die sich erst wie ein Mosaik nach und nach langsam und bruchstückhaft zusammensetzt, um schließlich zu einem recht überraschenden Ende zu finden: Angeregt durch diesen Sog an Erinnerungen holt Bosmans nach, was er so viele Jahre lang zu tun versäumt hat: Er versucht, Margaret zu finden, was ihm schließlich sogar gelingt.

Der unendliche Strom der Vergangenheit, all diese Erinnerungsfetzen, aus denen Modiano die Geschichte von Bosmans und Margaret zusammensetzt, bricht just an dem Punkt ab, an dem die beiden einander nach vierzig Jahren wieder begegnen, wo Vergangenheit und Zukunft einander treffen, miteinander verschmelzen – gleichsam am „Horizont“ der Zeit, darum auch der Titel des Romans, der auch eine große Reflexion über das Vergehen der Zeit darstellt, über das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart und möglicher Zukunft.

Für kluge Gedanken ist in „Der Horizont“ wie in allen Modiano-Büchern genügend Platz, allzu viel Story oder einen runden Bogen, der der Geschichte eine gewisse Dramaturgie verleiht, darf man sich dagegen eher nicht erwarten, auch das bestätigt sein neuester Band. Im Grunde ist Modiano das Gegenteil eines Schreibschulabsolventen. Seine Bücher sind nicht perfekt gemacht, sie prahlen nicht mit handwerklicher Meisterschaft, haben keinen am Reißbrett vorgezeichneten Plot. Bei Modiano ist die Imperfektion Programm. In einem Interview sagte er einmal, wenn er sich beim Schreiben verirre, dann mache er eben einfach einen Umweg, um wieder zurückzufinden. Es interessiere ihn wenig, wie das dann am Ende zu einem Ganzen wird. Eben darin liegt der Charme auch dieses seines neuesten Romans „Der Horizont“: im völligen Verzicht auf Ganzheit oder Abgeschlossenheit zugunsten eines vollkommen freien Mäandrierens, in dem Modiano eine ganz eigene Meisterschaft besitzt.

Titelbild

Patrick Modiano: Der Horizont. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239517

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