Über die allmähliche Verfertigung der Gesten beim Lesen

Eine Stanforder Konferenz erklärt Kleists Faszination

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den klassischen Autorenphilologien gibt es das Phänomen der Spezialisierung. Je komplexer die Fragestellung wird, je mehr das Vorwissen wächst, um so schwerer fällt es dem Novizen, in diese Forschung einzusteigen. Heinrich von Kleist scheint da eine merkwürdige Ausnahme zu sein. Man kann anschaulich und angemessen komplex über Kleist schreiben, jenseits von abschreckender Spezialforschung, mit dem Blick zum Publikum. Günter Blambergers Kleist-Biografie, in der „F.A.Z.“ als klügstes Kleist-Buch des Gedenkjahres 2011 gerühmt, hat das vorgemacht. In den Spuren dieser Kleistlektüre bewegt sich das Kolloquium „Heinrich von Kleist’s Gestures“, das im März 2012 im kalifornischen Stanford stattfand. Daraus ist ein in hohem Maße anregender, wissenschaftlich anspruchsvoller Tagungsband mit 23 Beiträgen internationaler Fachleute geworden. Hier soll wenigstens die Grundidee nachskizziert werden.

Im Mittelpunkt von Kleists Dramen, Erzählungen, Briefen, Essays und Anekdoten steht die Sprache der Gefühle. Sie ist ausgelagert in Gesten (Erröten, Erblassen, Niedersinken) und Mimik. Dieses antipsychologische Erzählen gegen die Regeln klassischer Anthropologie ist nichts Neues. Max Kommerell hat schon 1937 Kleist als einen Autor bezeichnet, „der mit den Mitteln der Sprache in Gebärden dichtete“. Neu aber ist das kulturdiagnostische Interesse an diesen Gebärden, die den Figuren oft absichtslos entschlüpfen. Einfach gefragt: Wie konstruiert Kleist die intensiven Bilder der Körperperformanz? Welche rhetorischen Strategien werden dabei eingesetzt? Und welche Schreibhaltungen verbergen sich dahinter?

Der vorliegende Forschungsband zeichnet sich dadurch aus, dass er diesen Fragen zwar das Gewicht einer neugierigen Wissenschaft gibt, feste philosophische Prämissen oder methodologische Vorentscheidungen aber vermeidet. Man könnte sagen, dass in der Geste Körperausdruck und Schriftzeichen zusammenfallen, mit dem Effekt einer „Intensität“, die der Leser Kleists als Erfahrung einer „existentiellen Steigerung“ nachvollziehen kann, wie Hans Ulrich Gumbrecht erläutert. Ein mehrfach wiederholtes „eben jetzt“ in „Michael Kohlhaas“, Alkmenes „Ach“ oder der berühmte (in einem aparten freudianischen Druckfehler auf Seite 187 zum „Gedankensprich“ gewordene) Gedankenstrich in der „Marquise von O…“ erzeugen eine erfüllte, aber auch explosive Gegenwart, in der symbolische Ordnungen ins Schwanken kommen und Sinnstiftungen vermieden werden. Auf diese Weise bekommen Fragwürdigkeiten der Interpretation auf einmal eine positive Note.

Günter Blamberger liest Kleist als „skeptischen Moralisten und illusionslosen Analytiker menschlichen Verhaltens“, Kevin Platt und Andrej Rossomachin deuten die Bären-Episode aus dem Aufsatz über das „Marionettentheater“ als Insider-Witz über Russland, Jan Söffner und Matt Doyle befassen sich mit Strategien dargestellter Intensität in der „Kohlhaas“-Novelle, Wilhelm Vosskamp untersucht die Sprengung klassischer Bildungskonzepte durch ironische Gesten unter anderem im „Findling“, Karin Westerwelle geht auf Krisen der Pathoserzeugung im „Käthchen von Heilbronn“ ein. Und mag auch der Ideenwitz manchmal etwas weit gehen wie in Christian Bennes differenziertem Beitrag zur „Triolektik“ in Kleists „Penthesilea“, so dient die so entwickelte Figur des unzuverlässigen, unsicheren Dritten, der sich in die Dialektik vernunftgeleiteten Denkens einkeilt, doch einer mutigen Erkenntnis: das ästhetische Vergnügen an intensiven Bildern und unterlaufenden oder unaussprechlichen Gesten vermag bis zu einem gewissen Grad Kleists Paradoxien zu erklären. Auch darin war Kleist ein moderner Dichter, der den Menschen klein machte, um Großes mit ihm anzustellen. Der Band ist ein Füllhorn für die Kleist-Forschung.

Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht / Friederike Knüpling (Hg.): Kleist revisited.
Wilhelm Fink Verlag, München 2014.
256 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770554683

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