Gebremste Emanzipation

Marion Schulte über die „bürgerlichen Verhältnisse“ der preußischen Juden in der Epoche um 1800

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1781 erscheint bei Friedrich Nicolai in Berlin ein Buch, das eine Kontroverse auslöst, und einige Berühmtheit unter Zeitgenossen und Nachlebenden erlangt. Der Autor Christian Wilhelm Dohm ist preußischer Beamter, ein Mann, der teilhat am aufgeklärten Diskurs um eine zweckmäßige, den Postulaten der Vernunft entsprechende Ordnung von Staat und Gesellschaft. Der Titel seiner Schrift ist Programm, weist in die Zukunft: „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“. Sie beruht auf Beobachtung, Erfahrung, nicht weiter hinterfragten Axiomen und Stereotypen. Plädiert wird auf Gewährung der bürgerlichen Rechte und Zulassung zu sämtlichen Erwerbszweigen, um die in den Juden schlummernden Talente zum individuellen wie kollektiven Nutzen zur Entfaltung zu bringen. Deren „Verdorbenheit“, ein hier rekapituliertes landläufiges Vorurteil, resultiere aus den bedrückenden Umständen ihrer Existenz, die es zu verändern gelte. Emanzipation ist gedacht als schrittweiser Erziehungsprozess, gleichermaßen angestoßen und kontrolliert ‚von oben‘, von einer aufgeklärten Bürokratie, die sich als Motor von Reform und Modernisierung versteht. Damit verbunden ist die Erwartung, dass sich religiöse Bindungen und Gewohnheiten allmählich abschleifen, das „Judentum“ an Integrationskraft einbüßen würde. Nicht der Jude, der Anhänglichkeit an den Glauben der Väter und staatsbürgerliche Loyalität in sich vereint, erscheint als Ziel, sondern der Jude, der am Ende als solcher nicht mehr erkennbar ist, sich sozusagen ‚entjudet‘ hat.

Drei Jahrzehnte dauerte es, ehe Elemente dieser Argumentation Eingang fanden in die Gesetzgebung. Nach dem Zusammenbruch des friderizianischen Staates, hervorgerufen durch die Niederlage im Krieg gegen das napoleonische Frankreich und den demütigenden Frieden von Tilsit, schnürte man in Berlin ein Bündel von Maßnahmen, das dem darnieder liegenden Königreich Preußen im Konzert der europäischen Großmächte wieder Respekt und Gewicht verschaffen sollte. Die Devise dabei lautete: Den Staat über die Entfesselung der Gesellschaft, über Liberalisierung und Öffnung der Wirtschaft zu revitalisieren. Dazu gehörte die Lösung der Bauern aus der Gutsuntertänigkeit, gehörte eine Städteordnung, die auf dem Prinzip kommunaler Selbstverwaltung und bürgerschaftlicher Partizipation gründete, auch die Freisetzung der Gewerbe, mit der das Monopol der Zünfte aufgebrochen wurde. Juden, die über die erforderlichen Besitzqualifikationen verfügten, erhielten das Wahlrecht zu den städtischen Körperschaften. Das war ein erster Schritt, der jedoch durch eine umfassende gesetzliche Neuordnung ihrer Verhältnisse erst noch komplettiert und dauerhaft abgesichert werden musste. Dem diente das im März 1812 verkündete Emanzipationsedikt, das die inländischen Juden zu preußischen Staatsbürgern machte, damit die älteren Statuszuweisungen (Schutzjuden und ähnliches) aufhob, ihnen den Zugang in alle Wirtschaftszweige eröffnete, den in den Staats- und Militärdienst jedoch nicht unmittelbar, sondern wie sich bald zeigte restriktiver, diskriminierender Regelung unterwarf.

Das war ein Kompromissprodukt, hervorgegangen aus zeitraubenden, zudem kontroversen innerbürokratischen Abstimmungsprozessen. Wie jegliche Geschichte war auch diese nicht ansatzlos vom Himmel gefallen, blickte vielmehr auf eine längere Vorgeschichte zurück, die bis in die 1780er-Jahre zurückreichte. Beides, die Entstehung des Edikts wie die Bemühungen um eine einheitliche Judenordnung in den Jahrzehnten zuvor, untersucht die Historikerin Marion Schulte. Bei den Ältesten der jüdischen Gemeinden in Berlin, Königsberg und Breslau löste die Reform von 1812 Freude und Dankbarkeit aus. In nichtjüdischen Bevölkerungskreisen, im Adel und bei den Zünften zumal, hielt sich die Begeisterung in Grenzen, befürchtete man hier doch unliebsame Konkurrenz oder, wie die Stände der märkischen Kreise Lebus und Beeskow-Storkow formulierten, die Verwandlung des „ehrwürdigen Brandenburg-Preußen“ in einen „neumodischen Judenstaat“.

Nicht überall beschreitet die Autorin gänzlich unbekanntes Terrain, aber neu ist doch die minutiöse, bisweilen zu weiten Bögen ausholende rechts-, ideen- und politikhistorische Analyse der Positionen, die in den Gutachten der beteiligten Regierungsdepartements markiert wurden. Dominierten anfangs die Gegner einer rechtlichen Gleichstellung, so verschoben sich seit 1806/07 die Gewichte zugunsten der Befürworter. Dabei wird das Augenmerk auf zwei Ebenen gelenkt: zum einen auf die der Entscheidungsträger in der Bürokratie, zum andern auf die der führenden Repräsentanten in den aufgeklärten jüdischen Gemeinden der größeren Städte, die sich bereits früh mit Petitionen in den legislativen Prozess einschalteten, ihre Wünsche und Erwartungen zu Gehör brachten. Insofern war die Emanzipation, wie die schon die ältere Forschung zuweilen betont hat und hier noch einmal unterstrichen wird, den Juden nicht in den Schoß gefallen, sondern wenn schon nicht aus eigener Kraft erkämpft, so doch von eigenen Initiativen und Adressen begleitet worden.

Das Motto, an dem sich die Gesetzgebung orientierte, lautete: „gleiche Rechte für gleiche Pflichten“. Die Juden sollten sich in nützliche Untertanen verwandeln und nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten einen Beitrag zur Stärkung der preußischen Monarchie leisten. Die Assimilation war keine Bedingung für die Gewährung bürgerlicher Rechte, wurde aber als Ergebnis der künftigen Entwicklung einkalkuliert. So gesehen enthielt das Judenedikt eine stillschweigende Erziehungsperspektive, deren Kontur und Problematik sich erst durch die von Marion Schulte vorgenommene Untersuchung der innerbürokratischen Entscheidungsprozesse wirklich erschließen lässt. Deutlich werden differierende Erwartungen, die vielleicht am ehesten mit den Begriffen „Assimilation“ versus „Akkulturation“ zu fassen sind. Das wirkte sich aus auf den Fortgang der Dinge, nämlich die mühsame Implementierung der neuen Ordnung in die gesellschaftliche Realität, was nicht ohne Reibungen, Rückschritte und Konflikte abging. Die 1812 gewährte Emanzipation war zweifellos ein Meilenstein, war Teil eines komplexen Modernisierungspaketes, von dem die preußische Monarchie bis zum Zusammenbruch in der Revolution von 1918 zehrte. Nicht zuletzt im Hinblick auf den Ausschluss der Juden von den Staatsämtern aber war sie unvollständig, blieb gebremst, geprägt von Fremdheit, Abneigung und Mißtrauen, das seine Wurzeln in der verbreiteten Überzeugung vom „schädlichen Nationalcharakter der jüdischen Nation“ hatte. Das war ein Stereotyp, das trotz abgeschwächter Formulierungen im Edikt weiter in den Köpfen herumspukte und dort sein Unwesen trieb, seine soziale, kulturelle und politische Wirkmächtigkeit jedenfalls nicht verlor.

Titelbild

Marion Schulte: Über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen. Ziele und Motive der Reformzeit (1787-1812).
De Gruyter, Berlin 2013.
577 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110305623

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