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Gedichte und Prosa von Marianne Rein

Von Friedrich VoitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Voit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lyrikerin Marianne Rein ist auch heute noch selbst unter Kennern der deutsch-jüdischen Literatur der 1930/40er-Jahre kaum bekannt. Noch 2012 konnte ein Band zu den „Weiblichen jüdischen Stimmen deutscher Lyrik aus der Zeit von Verfolgung und Exil“ erscheinen, in dem ihr Name nicht einmal im Index erscheint. Kaum eine Anthologie zu jenen Jahren bringt eines ihrer Gedichte. Eine rühmliche Ausnahme stellt hier die immer noch bedeutsame Anthologie Manfred Schlössers dar, „An den Wind geschrieben“ aus dem Jahre 1960; sie bringt ein einziges Gedicht, weiß aber sonst wenig über die Autorin. Umso verdienstvoller ist, dass Rosa Grimm nun erstmals alle ihr zugänglichen Gedichte und Prosatexte von Marianne Rein in zwei schmalen Bänden zusammenstellte, was es nun erlaubt, dieses in nur wenigen Jahren entstandene Werk in seinem Umfang und Gewicht kennenzulernen.

Marianne Reins Biografie kann nur in wesentlichen Zügen nachgezeichnet werden. Sie kam 1911 in Genua zur Welt. Ihre Eltern mussten Italien nach Ausbruch des Weltkrieges verlassen und zogen nach Lugano in die Schweiz. Nach dem Tode des Vaters 1917 zogen Mutter und Tochter zu Verwandten nach Würzburg. Dort ging Marianne Rein auf ein privates Mädchenlyzeum. Danach lebte sie als höhere Tochter weiter zusammen mit ihrer Mutter, ohne einem Beruf nachzugehen. Aus den Briefen, die sie zwischen 1938 und 1941 an Jakob Picard schrieb und die sich in Picards Nachlass (Leo Baeck Institut, New York) erhalten haben, ersieht man ihre Belesenheit und welche lebensprägende Bedeutung Literatur für sie besaß. Um 1936, also zu einer Zeit, als es für Juden in Deutschland nur noch sehr eingeschränkte Veröffentlichungsmöglichkeiten gab, begann sie selbst zu schreiben – Prosa und Gedichte. Auch führte sie wohl extensive Briefwechsel mit Menschen, denen sie zum Teil nicht einmal persönlich begegnet war, so mit einem jüdischen Freund in Polen, mit Gertrud Chodziesner (Gertrud Kolmar) und Jacob Picard. Wie viele deutsche Juden dachte Marianne Rein erst spät nach dem Novemberpogrom 1938 an Auswanderung und es gelang ihr nicht mehr, für sich und ihre Mutter ein lebensrettendes Affidavit in die USA oder ein anderes Land zu erhalten. In Würzburg wurden ihnen die Lebensumstände immer mehr eingeengt. 1938 mussten sie in eine kleinere Wohnung umziehen, dort dann auch einen Untermieter aufnehmen. Im September 1941 zwang man Mutter und Tochter in ein Einzelzimmer in einem sogenannten Judenhaus und Marianne Rein wurde nun auch zur Arbeit im jüdischen Altenheim verpflichtet. Am 27. November 1941 wurden Marianne Rein und ihre Mutter mit dem ersten Transport von Würzburg nach Riga deportiert, wo beide wohl bereits kurz nach der Ankunft ermordet wurden.

Zur ihren Lebzeiten konnte Marianne Rein nur wenige Texte veröffentlichen. Ab 1937 erschienen zunächst einige kurze Erzählungen im „Israelitischen Familienblatt“, dann dort und auch im „Morgen“ zehn ihrer Gedichte, die auch Aufmerksamkeit fanden. Nach dem weitgehenden Verbot jüdischer Zeitschriften in Deutschland gab es für sie jedoch keine nennenswerten Veröffentlichungsmöglichkeiten mehr.

Der weitaus größte Teil ihres dichterischen Werkes hat sich im Nachlass von Jacob Picard erhalten, der ihr 1938 zum literarischen Mentor und bald darauf zum Briefgeliebten wurde. Diese so ungewöhnliche wie letztlich traurige Beziehung war über die Freundin Mala Laaser (auch sie eine Schriftstellerin, die es verdiente, dass man sich ihrer und ihres Schaffens erinnert) zustande gekommen. Jacob Picard (1883-1967) und die um viele Jahre jüngere Mala Laaser planten kurzzeitig zu heiraten, doch trennten sie sich bereits nach wenigen Monaten wieder. Mala Laaser emigrierte 1939 nach England und Jacob Picard im Oktober 1940 in die USA. Nicht zuletzt dieser persönliche Hintergrund bewirkte, dass der Briefwechsel zwischen Marianne Rein und Picard anfänglich ein Gespräch über Texte blieb, die eine beginnende Schriftstellerin und der bewunderte arrivierte Dichter einander zuschickten. Erst nach etwa einem Jahr und unter dem Druck des gerade ausbrechenden Krieges nahm die Korrespondenz immer vertrautere und persönlichere Züge an, auch wenn Picard deutlich zögerte, der seelische Nähe suchenden Marianne Rein entgegenzukommen. Wohl vor allem die Bemühungen um seine Auswanderung in die USA ließen ihn Distanz zu einer neuen Verbindung wahren. So kam es, dass man zwischen Berlin, wo Picard damals lebte, und Würzburg nur Fotos tauschte, man sich aber nie in Person sah und nur ein einziges Mal ein „glücklich-unglückseliges Telefongespräch“ führte.

Das schmale Werk Marianne Reins umfasst nicht einmal 100 Gedichte und etwa 15 kürzere Prosatexte. Ihre Gedichte zeichnet eine klare und unprätentiöse Sprache aus und sie behandeln häufig Natureindrücke, wie zu erwarten, oft mit einer metaphorischen Dimension, die sich bereits in Titeln wie „Verfallender Garten“, „Abwärts“, „November“, „Grillengesang“, „Gleichnis (Für Dich)“, „Wintermond“ oder – wie in ihrem letzten Gedicht, entstanden wenige Wochen vor der Deportation, – „Spätsommer“. Sie verfasste eine Reihe Rollengedichte, deren autobiografischer Hintergrund bisweilen aufscheint etwa in den Gedichten „Die Teppichknüpferin“, „Das Mädchen“ oder „Die Einsame“, dabei dominiert in ihrer Lyrik keineswegs etwa selbstreflexive Empfindsamkeit. Antike, historische und biblische Gestalten werden aufgerufen wie „Europa“, „Niobe“, „Diana“, „Odysseus“ oder „Eva“ und bezeugen keineswegs nur ihren Bildungshorizont. Gelegentlich erscheinen auch jüdische Themen wie ein „Sabbath“-Gedicht, „Taschlicht“ oder „Hiobs Enkel“; ein Gedicht „Die Vorhut“ preist sogar den Aufbau des jüdischen Gemeinwesens in Palästina. Überblickt man ihre Gedichte, so erkennt man durchaus Einflüsse wie etwa den Georg Heyms, doch mehr beeindruckt der Reichtum an Themen, Tönen und Formen, wobei sie besonders die Form des Sonetts immer wieder variiert. Ein einziges Mal wurden Gedichte von ihr auch bei einer öffentlichen Lesung im Mai 1940 vorgetragen, es war zugleich die letzte des Jüdischen Kulturbundes – und dann in einer Besprechung neben solchen von Nelly Sachs und Gertrud Kolmar hervorgehoben, wobei den Rezensenten das „zarte Schweben [und] dämmernde Gleiten durch Natur und Schicksal“ in Reins Gedichten besonders berührte. Im Anschluss an diese Veranstaltung knüpfte Marianne Rein einen Briefkontakt mit Gertrud Kolmar, die sich zwar gegen die anfängliche Überverehrung wehrte, doch die ganz anders geartete Begabung der jüngeren Dichterin, wie sie ihrer Schwester Hilde schrieb, als „teilweise noch Hoffnung, zum Teil aber auch schon Erfüllung“ anerkannte. Wie sehr Gertrud Kolmar Marianne Rein schätze, offenbart sich auch darin, dass sie ihr 1941 eine Kopie ihrer neuen, erst posthum bekannt gewordenen Erzählung „Susanna“ schickte. Der Briefwechsel zwischen den beiden scheint jedoch verloren gegangen zu sein. In Reins Gedichten blieb der zeithistorische Hintergrund weitestgehend ausgeblendet, dabei lässt ihr Briefwechsel mit Picard durchaus durchblicken, wie genau sie die jüdische Ausgrenzung verfolgte und von ihr bedrängt wurde, etwa wenn sie die erste Deportation von Juden aus Stettin im Februar 1940 indirekt anspricht oder immer wieder das unerträglicher werdende Leben ihres jüdisch-polnischen Freundes in Warschau andeutet. Im Lichte solcher verdeckten brieflichen Hinweise lesen sich selbst ihre Naturgedichte geradezu als Akte des Widerstandes, als Bemühungen die eigenen geistigen und ethischen Werte zu wahren, denn, so bekannte sie in einem Brief vom November 1939, „alles, was ich an Zeitgeschichte zu schmecken bekomme, schluck’ ich schweigend“ – mit der Kraft ihrer Empfänglichkeit für Natureindrücke und der Bestärkung, die ihr Literatur und ihre eigene Imagination gewährten.

Auch das noch schmalere Prosawerk weist unterschiedliche Themen und Formen auf. Ihre ersten Erzählungen, die sie im „Israelitischen Familienblatt“ veröffentlichte, stehen in der Tradition jüdischer Dorf- und Kleinbürgererzählungen. Der „Morgen“ brachte von ihr ein „Märchen von den vier Brüdern“ und an Jakob Picard schickte sie 1939 eine Folge konziser philosophischer Reflexionen, so etwa zu „Die Freundschaft“, „Unsterblichkeit“, „Der Tod“ oder „Der Geist“. Picard gegenüber, dem sie auch eine die erwachsene Erzählerin noch bewegende autobiografische Kindheitserinnerung „Die Puppen“ und das Stimmungsbild „Aprilvormittag“ zusandte, bekannte sie einmal, dass es ihr großer Wunsch sei, eine umfangreichere Prosaarbeit anzugehen, was jedoch die äußeren Umstände verhinderten. Auch in ihrer Prosa zeigt sich eine Schriftstellerin, die ihre Begabung noch ausprobiert und absteckt.

Die beiden schön ausgestatteten und mit Sorgfalt edierten Bände präsentieren ein Werk, das wie etwa auch jenes der Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, abgebrochen wurde, noch bevor es sich entfalten konnte. Dennoch sollte es mit dieser Edition nicht mehr möglich sein, ihre Gedichte und Prosa weiter zu übersehen. Die Herausgeberin Rosa Grimm stellt noch einen weiteren Band in Aussicht mit den Briefen an Freundinnen und an Jacob Picard. Ein solcher Band würde nicht nur eine bemerkenswerte Briefschreiberin vorstellen, er wäre auch ein eindringliches Lebensdokument, wie man aus den bereits in der Ausgabe aufgenommenen Auszügen aus Briefen an Picard erkennen kann.

Dem Band „Das Werk“ ist als Anhang eine CD beigegeben, die offenbar auf eine Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag im Januar 2011 von Marianne Rein zurückgeht. Sie bringt eine Vortrags-Montage von Zitaten aus Briefen und Gedichten sowie einige zu diesem Anlass entstandene hörenswerte Gedicht-Vertonungen der Komponisten Margret Wolf und Paul Amrod.

Titelbild

Marianne Dora Rein: Das Werk. 2 Bände.
Herausgegeben von Rosa Grimm.
Ergon Verlag, Würzburg 2011.
218 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783899138290

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