Reales Grauen

Der Debütroman „Straße der verlorenen Schritte“ des haitianischen Schriftstellers Lyonel Trouillot erstmalig in deutscher Übersetzung

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die in die Jahre gekommene Besitzerin eines Bordells erinnert sich: an die Schicksale ihrer Mädchen, die Geschichten der Freier, und damit eng verbunden, auch an ihr Land, in dem nun alle Tage gleich erscheinen, beherrscht von Elend, Not und grauenvollen Verbrechen, von denen Lyonel Trouillots nun erstmalig übersetztes Romandebüt „Straße der verlorenen Schritte“ aus dem Jahre 1994 erzählt. Der haitianische Schriftsteller lässt drei Figuren aus seinem Heimatland berichten, ihre Gedanken, Erinnerungen und düsteren Prognosen für das, was sich kaum mehr Zukunft nennen lässt, um eine Nacht kreisen: Es ist die Nacht, in der die Gewalt sich unumkehrbar entfesselt und ihren Weg von der Straße in die Hütten und Paläste, von den Militärs und Zivilisten bis hin zu den Kindern findet. Es ist eine Nacht des Schlachtens, die Trouillot seine Figuren so genau beobachten lässt, bis keine von ihnen mehr unterscheiden will, ob sie selbst sich noch seitens der Lebenden oder bereits unter den ungezählten Toten befinden.

Während die altersweise Hure vom Fenster aus in die Schwärze schaut, sucht ein Mann in der „Nacht der Vernichtung“ nach seinem Auto, das ihm, dem Taxifahrer, bisher als Existenzgrundlage diente. Er irrt durch die Stadt und erinnert sich an seine Fahrgäste, besonders an den Verrückten, der in die Straße der verlorenen Schritte gebracht werden wollte, ein sprechender Name, der schon im Morgengrauen über allen Straßen von Port-au-Prince prangt. Auch ein Postbeamter, der die Nacht gemeinsam mit seiner Arbeitskollegin, die er schon lange Zeit liebt, in einem sicheren Haus verbracht hat, muss diese Straßen durchschreiten. Mit jedem Schritt wird ihm dabei klarer, dass selbst die Möglichkeit eines kleinen persönlichen Friedens abhandengekommen ist, da sich alles um ihn herum in Blut und Rauch auflöst und die unumgängliche Frage „Was heißt leben, wenn der Tod das Leben mahnt?“ zum Leitprinzip wird.

Lyonel Trouillot hat eine Form gefunden, um von maßlosen Gräueltaten zu erzählen, und den Leser zur gleichen Zeit wissen zu lassen, dass es noch unendlich viel mehr über diese Nacht zu schreiben gäbe, die zum Sinnbild für die Geschichte Haitis wird. Ein Inselstaat, der als gigantischer Friedhof erscheint, und die Wut, die denjenigen antreibt, der davon berichten will, „denn die Legenden sind zusammengekracht wie morsche Balken, die Propheten haben angesichts ihrer uneingelösten Versprechungen ihre Zunge verschluckt, und da war Schluss mit all den folkloristisch-tropisch-negritudinalen Nonsensversen, mit all unseren Schränken voller Boukinette-Geschichten und Galerien wohltätiger Geister.“

Nach der Lektüre Trouillots bleibt der Leser mit mehr als einem Schrecken und lang anhaftenden Bildern der Gewalt zurück. Dabei werden nicht nur die eigenen historisch-politischen Wissenslücken über Haiti deutlich, auch der literarische Text selbst wird zum Gegenstand von Fragen: Handelt es sich hierbei tatsächlich um einen Roman? Und wie geht man während des Lesens – wie auch danach – mit diesen drei Erzählungen in einer um, die letztlich doch so weit weg und fremd erscheinen, als kämen ihre Stimmen aus einer anderen Welt.

Titelbild

Lyonel Trouillot: Straße der verlorenen Schritte. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2013.
141 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783954380152

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