Der Mensch, der schießt

Die Gerichtsreportagen Paul Schlesingers, der sich Sling nannte, sind in einer neuen Sammlung erschienen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, bei denen reicht es eigentlich, wenige Seiten zu lesen, um zu wissen, woran man ist. Im Fall des Gerichtsreporters Paul Schlesinger, alias Sling, der in den 1920er-Jahren für die „Vossische Zeitung“ aus den Berliner Gerichtssälen berichtete, reicht eigentlich der erste Text, um zu erkennen, dass wir es hier mit grandiosen Texten, mit präzisen Reportagen und mit stilistischen Perlen zu tun haben, die vor allem eins schaffen: Erkenntnis. Und das ist nun einmal das höchste Vergnügen von allen (sic!).

Allein die Auftaktpassage zeigt, weshalb Schlesinger in seiner Zeit zurecht ein Star war, dessen früher Tod nicht nur menschlich (das wissen wir nicht), sondern auch publizistisch ein Verlust war (und das wissen wir sehr genau): „Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen.“

Mit diesen Sätzen, die im August 1926 erstmals publiziert wurden, einen Sammelband mit Gerichtsreportagen zu beginnen, zeugt in den heutigen Tagen von Mut. Warum? Weil heute der Mensch, der schießt, allein schon der Mensch, der ein Verbrechen begeht, ein Monster ist, das aus der Gemeinschaft der Heiligen getilgt werden muss, ein Mensch, der bestraft werden muss, wenn nicht mit der Härte des Gesetzes, dann wenigstens mit der von Rache und Vergeltung.

In solchen Denkformen spielt die Verantwortung von Gesellschaft für die Verbrechen, die in ihr begangen werden, keine Rolle, mildernde Umstände mögen überall zu finden sein, aber nicht in der Sozialisation oder in den sozialen Verhältnissen, in denen Verbrechen entstehen mögen. Nichts kann entschuldigen oder die Schuld mindern, die der gesunde Menschenverstand und das allgemeine Rechtsempfinden fordern (wenngleich die Vermutung nahe liegt, dass ein solcher Menschenverstand mit Gesundheit und ein solches Rechtsempfinden mit Recht nichts zu tun haben).

Die Drohung, die von Verbrechen ausgeht, ist symbolischer Art und damit grundsätzlich. Sie stellt Gesellschaft insgesamt in Frage und muss deshalb grundsätzlich gelöst werden. Sie ist nicht Teil von Gesellschaft, sondern ihr Gegenteil.

Das ist in der Kriminalliteratur nicht anders als in der Medienlandschaft: In beiden muss das Verbrechen gesühnt und vergolten werden, es gilt eine Auge-um-Auge-, Zahn-um-Zahn-Mechanik, die sich um Recht und Gerechtigkeit, ja um Täter als Rechtspersonen nicht mehr schert. Ihr geht es um eine symbolische Balance, in der sich das merkwürdige Phänomen wiederfindet, dass in einer komplexen Gesellschaft kein komplexer und ausgewogener Rechtsprozess gewünscht wird, sondern eine einfache Gleichung.

Dass deren Positionen längst nicht immer gesichert sind, dass weder Tat noch Täter eindeutig sein mögen, sondern intuitiv erfasst werden, kommt hinzu. Was naheliegenderweise das gesellschaftliche Leben zur Disposition stellt. Kind mit Bade also. Aber das sind wir gewöhnt, wie das ein wenig banalere Beispiel zeigen kann: die Frage der juristischen Würdigung von Steuerhinterziehungen.

Die demonstrative Entrüstung, mit der etwa die Kriminalisierung von Steuervergehen medial und politisch vorangetrieben wird, steht in einem verblüffenden Widerspruch zu der Ausstattung von Steuerbehörden, die eben weitgehend tun und lassen können, was ihnen beliebt: Steuerbescheide ergehen lassen und Steuerschulden kassieren, dabei mit Schätzungen oder sogar gestohlenen Informationen arbeitend, deren Einsatz legitimiert und legalisiert wird (warum sich dann noch über Einbrüche von „Tatort“-Ermittlern wundern? Die Wirklichkeit geht doch schon viel weiter), angebliche oder tatsächliche Steuersünder öffentlich einkassieren (der Fall Zumdieck, wer erinnert sich noch) und so weiter. Und das Ganze noch medial aufmöbeln durch Berichte über Steuerfahnder und deren Probleme, wie jüngst noch in der „Zeit“.

Diese andere Seite hatte Schlesinger bereits zu seiner Zeit gut im Blick, wie sein Bericht zum Fall Hackbusch zeigt. Der Kaufmann Paul Hackbusch stand demnach wegen Tötung seines Sohnes Rolf im Finanzamt Neukölln vor Gericht. Die Tat, eine Kurzschlussreaktion, ausgelöst durch eine Reihe ruinöser Entscheidungen eines Finanzbeamten, ist auch aus der Sicht des Gerichtsreporters Schlesinger kaum verständlich, aber verstehbar, auch wenn sich das ganze Verfahren gar nicht auf Hackbusch selbst, sondern auf seinen Bruder bezieht, in dessen glückloser Firma Hackbusch arbeitet.

Dem Bruder, dessen Firma Verluste macht und der selbst von Zuwendungen von Freunden und Verwandten lebt, wird ein Steuerbescheid zugestellt, der auf der Schätzung seiner persönlichen Verhältnisse beruht. Der Bescheid wird vollstreckt. Der Widerspruch ist erfolgreich, aber die gleichfalls beanspruchte Kirchensteuer (auf der hohen Berechnungsbasis der Schätzung, was auf einen beachtenswerten Lebenswandel schließen lässt) wird dennoch gepfändet. Das ganze Verfahren löst sich zwar am Ende in Nichts auf. Steuern werden zurückgezahlt, die Vollstreckung und Pfändung werden aufgehoben.

Aber Hackbusch verschleißt sich in dem Verfahren und gibt auf. Er beschließt, sich, seinen Sohn und vielleicht auch den zuständigen Finanzbeamten zu töten. Den Sohn tötet er, am Selbstmord wird er gehindert und steht vor Gericht. Eine gescheiterte Existenz – und ein Scheitern, an dem der Rechtsstaat und seine Finanzbehörden nicht unschuldig sind. Schlesinger versteht die sinnlose Raserei, zu der ein solches System anstiften kann.

Und dieses Verstehen (nicht Verständnis) ist es, das Paul Schlesinger und seine Reportagen auszeichnet. Zumal es in beide Richtungen geht. Denn auch für das Gericht und seine Aufgabe bringt er es auf, soweit ihn das Gericht nicht seinerseits aufbringt, wie gerade jene Berichte zeigen, in denen der sachliche Stil Schlesingers in bissige Ironie abgleitet. In den Sachen, in denen die Weimarer Justiz offensichtlich parteiische Urteile fällt, sich auf dem rechten Auge blind zeigt oder betriebsblind dahintreibt, ist dies der Fall. Nazi-Banden, die den Ku‘damm unsicher machen, finden vor Gericht Gnade, nicht aber vor den Augen des Prozessberichterstatters. Die sonstigen Absurditäten des Justizbetriebs finden bei ihm nicht wirklich Widerhall.

Nicht nur in solchen Sachen ist das Verhältnis zwischen dem Justizsystem und seinem Berichterstatter gespannt. Von Schlesinger selbst stammt das Bonmot, dass Leute seines Schlages für die meisten Gerichte noch unter den Beklagten anzusiedeln sind. Das aber hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der juristische Laie Schlesinger das Recht beansprucht, das Rechtsystem und sein Vorgehen zu beurteilen. Ein Verhältnis, das Schlesinger in einem eigenen kleinen Aufsatz, mit dem der Band abschließt, selbst zum Thema gemacht hat. Ein Skandal, wie man weiß.

Titelbild

Paul Schlesinger: Der Mensch, der schießt. Berichte aus dem Gerichtssaal.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2013.
399 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783940357274

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch