„Gibt es das, dass eine Liebe keine Geschichte hat, nur einen Ort?“

Julia Schochs Protagonistin sucht in „Selbstporträt mit Bonaparte“ nach einer Antwort

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Menschenleben lässt sich in der Regel anhand bestimmter Eckdaten fixieren: Geburt und Lebensraum, Kindheit, Schulzeit, Lehrjahre, Berufstätigkeit. Für gewöhnlich erwächst eine jede Biografie aus diesen Daten und bestimmt sie zugleich. Sie sind Zeichen des Antriebs und treiben selbst an, markieren auf diese Weise eine Entwicklung – eine stete Vorwärtsbewegung im eigenen Lebenslauf. Denn das ist doch das Wesentliche im Leben: Das Vorankommen. Der Fortgang im Werdegang. Oder etwa nicht?

Wie verhält es sich mit all den Nebensächlichkeiten und vermeintlichen Belanglosigkeiten? All den Passionen und Zeitvertreiben, den Ablenkungen, Talenten, Interessen und Präferenzen? Jenen Konstanten, die ein Leben – wie man so gern sagt – erst mit Leben füllen? Das „ewig Gleiche eines Menschen“, das als solches dem lebenslangen Prozess des Vorankommens entgegensteht und so gewissermaßen die Rückseite eines Lebens bildet?

Von eben jener Rückseite handelt „Selbstporträt mit Bonaparte“ von Julia Schoch. Sie ist Anlass und Gegenstand der Erinnerungen, die die Protagonistin in Schochs jüngstem und mittlerweile drittem Roman erstmals in Worte zu fassen und zu verschriftlichen sucht: „[M]ein Leben [ließe sich] zum Beispiel leicht ohne die Leidenschaft fürs Roulette erzählen – dann käme Bonaparte vermutlich an keiner Stelle vor. Wohingegen auf der Rückseite dieser Lebenserzählung von nichts anderem die Rede sein kann.“

Doch Bonaparte ist weg. Vielleicht nur für eine Weile, vielleicht für immer. Was der namenlosen Ich-Erzählerin geblieben ist, sind quälende Fragen nach dem „Warum?“ und unzählige Eintrittskarten in Jacken- oder Hosentaschen, Portemonnaies, Büchern oder Schachteln – Zeugnisse von 688 Kasinobesuchen. Zeugnisse der Zweisamkeit mit Bonaparte. Denn ihre Leidenschaft fürs Roulette und ihre Leidenschaft für Bonaparte gehören untrennbar zusammen, ihre „Liebe zum Roulette [fällt] mit der Liebe zu Bonaparte ganz einfach in eins“. Mit ihm ging sie damals zum ersten Mal in ein Kasino irgendwo an der Ostsee. Damals, nachdem sie sich auf einer Historikerkonferenz kennengelernt hatten, die irgendeinen Titel trug wie „Ansichten der Vergangenheit“ oder „Vergangene Ansichten“ oder vielleicht sogar „Angesichts des Vergangenen“. Jener Abend, an dem sie beide schließlich mit dem siebenfachen Gewinn des Tagungshonorars ins Hotel zurückschlenderten, bildet – vorderseitig betrachtet – den Beginn ihrer Liebe. An sie will sich die Protagonistin erinnern, von ihr will sie erzählen.

Der Tatsache allerdings, dass sie (ausgerechnet!) nicht mehr im Besitz dieser ersten Eintrittskarte, dem ersten Beweisstück ihrer Beziehung ist, scheint dabei programmatisch zu sein, und ist nicht einfach nur Ergebnis einer aus Unachtsamkeit, Gleichgültigkeit oder Übermut resultierenden Entsorgungslaune. Denn ihre Liebe zu Bonaparte und dem Roulette, die schließlich das Rückwärtige ihrer Biografie maßgeblich bestimmt, bedarf keines Zeitsystems. Sie braucht keine Eckdaten, um sich auf der Vorderseite zu verankern und sich so notgedrungen einer Vergänglichkeit zu unterwerfen. Will man von dieser Liebe erzählen, so kann dies unweigerlich nur fragmentarisch, ja anachronistisch geschehen. Generell bedarf sie nicht der gewöhnlichen Fixpunkte, die in aller Regel einer Konturierung zuträglich sein könnten. So bleiben beispielsweise die Liebenden bis zuletzt namenlos: Nie nennt er sie beim Namen und auch sein vermeintlicher Kosename „Bonaparte“ ist nicht mehr als eine behelfsmäßige Zuschreibung, einer kleinen gipsernen Napoleonbüste entlehnt, die die Erzählerin einmal in seiner Wohnung entdeckte. Auch körperliche Attribute, die Bonaparte Gestalt verleihen könnten, fehlen ganz und gar. Das einzige Foto, das von ihm existiert (ein selbstgeknipstes Aktfoto), spiegelt ihn in einer künstlichen Pose: antikengleich „schön und unveränderlich“, das Entscheidende jedoch – das Gesicht – bleibt aufgrund des Blitzlichtes unkenntlich. Das also, was gewohntermaßen konstitutiv für ein Porträt ist, wird hier geradezu symbolisch ausgespart – ist verschwunden, wie Bonaparte selbst auch. Nur noch als schattenhafte Erinnerung ist er präsent: „Sein Phantom schlendert selbstverständlich neben mir her […]. Und sobald ich mich im Spiegel betrachte, erscheint sein Kopf hinter meinem. Eine Art Doppelporträt oder Selbstporträt als Paar.“ Will die Erzählerin also von sich und ihrer Liebe erzählen, dann bleibt ihr nur eben dieses (titelgebende!) Selbstporträt. Es ist, als traditionelle Gattung der Malerei, ein in gewisser Hinsicht formgebendes Prinzip für Schochs Roman: er ist Momentaufnahme, Stillstand und Zustand, in dem sie verharrt. Vor einem nur unscharf skizzierten Hintergrund weltlichen Geschehens – die Situation des wiedervereinten Deutschlands irgendwo zwischen Ostsee und P., das auf Potsdam deutet – steht sie als Erinnernde beinahe zeitenthoben im Zentrum.

Das macht es manchmal schwer, einen Zugang zum Roman zu finden, einen roten Faden oder auch nur einzelne Fixpunkte auszumachen. Denn es scheint, als entziehe sich die Erzählung immer wieder ihrem eigenen Gegenstand. Das mag verwirrend und einer leichten Lektüre abträglich sein, ist aber genau genommen grandios. Denn wie sonst ließe sich die Idee der Geschichtslosigkeit, die gleich einem Damoklesschwert und doch wie ein Heiligenschein über den Erinnerungen der Protagonistin schwebt, auf so eindrückliche Weise erzählerisch umsetzen?

Nur ein einziges Mal gibt es tatsächliche Hinweise – zeitliche Bezugspunkte, die wie Leihgaben aus dem vordergründigen Lauf der Welt, der Vorderseite des Lebens, verhindern, dass „Selbstporträt mit Bonaparte“ einer Unbestimmtheit erliegt. Doch auch sie wirken, ob der Unvermitteltheit, der Zusammenhangslosigkeit und Willkürlichkeit ihrer Nennung, nur wie ein diffuses Zeitfenster des beginnenden 21. Jahrhunderts, und lassen sich von der Erzählerin in wenigen Zeilen zusammenfassen: „In den Jahren, in denen wir Roulette gespielt haben, ging der Krieg im Irak zu Ende und fing einer in Afghanistan an, wurde Putin dreimal zum Präsidenten Russlands gewählt, erreichte der Euro sein Allzeittief gegenüber dem Dollar, berichteten die Nachrichten beinahe täglich von Anschlägen in Bagdad, explodierten allerorten auf der Welt Sprengsätze, flogen Tag für Tag die Glieder von Menschen durch die Luft, brannten in Paris und London Autos und Geschäfte nieder, bevor der Rauch wieder aus der Berichterstattung verschwand, gab es zum ersten Mal 6,5 Milliarden Menschen auf der Welt, fuhren israelische Besatzungspanzer in den Süden Libanons hinein und in ihrer eigenen Spur wieder zurück, wanderten Hunderttausende Erschöpfte aus Afrikas verdorrtem Horn Richtung Süden, wurden Rotmilan, Turmfalke und Zaunkönig in Deutschland zum Vogel des Jahres gewählt, starben Baudrillard und Ingmar Bergman, Susan Sontag und Grace Paley, Michelangelo Antonioni, Ruth Werner und Marlon Brando, Wolfgang Hilbig und Philippe Noiret und Oscar Peterson.“

Doch von alledem ist in den Erinnerungen an Bonaparte selbst keine Spur. Die Liebe der Erzählerin zu ihrem Roulettepartner kennt keine Zeit, hat keine Geschichte – nur einen Ort. Und so wie sich der Anfangspunkt ihrer Liebe einer konkreten Festlegung entzieht, so gibt es auch keinen Endpunkt: Die 688. Kasinokarte wird für Schochs Protagonistin nicht die letzte bleiben. Ob mit oder ohne Bonaparte bleibt ungewiss. Und das muss es auch! Denn sonst bekäme ihre Liebe schließlich doch einen Fixpunkt, eine Geschichte.

Titelbild

Julia Schoch: Selbstporträt mit Bonaparte.
Piper Verlag, München 2012.
140 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055475

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