Eine doppelte Spurensuche (1)

„Das Ungeheuer“ von Terézia Mora – ein hoffnungslos düsterer Reisebericht

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Terézia Moras Roman „Das Ungeheuer“ widmet sich einem sehr ernsten Thema – dem durch eine seelische Erkrankung ausgelösten Suizid. Darius Kopp, die Hauptfigur des Romans, erleidet durch den Selbstmord seiner Frau Flora einen emotionalen Zusammenbruch. Seine Trauer lässt die Menschen seiner Umgebung an ihm verzweifeln. Anstatt zu versuchen, sein aus den Fugen geratenes Leben wieder aufzubauen, gibt er auch die letzten Bestandteile seiner bürgerlichen Existenz auf, indem er überstürzt nach Ungarn aufbricht, jenes Land, aus dem seine tote Frau stammt. Für diese Reise wird keine rationale oder anders nachvollziehbare Erklärung geliefert und es bleibt offen, ob Darius Kopps Aufbruch zu Ergebnissen führen wird. Da einerseits Ungarn als Ziel benannt wird, aber andererseits diese Destination nur eine Zwischenstation auf dem weiteren Weg nach Südosteuropa wird, steht nicht einmal fest, ob und wann die Reise zu Ende geht.

Der Roman zeichnet sich durch eine originelle, eigenwillige Art der Narration aus, die auch auf der Ebene der formalästhetischen Gestaltung realisiert wird. Die Buchseiten durchzieht ein horizontaler Trennstrich in der Mitte, der zwei für sich eigenständige Erzählstränge sichtbar auseinanderhält. Der Text oberhalb des Trennstrichs widmet sich dabei der Erzählung aus der Perspektive der Hauptfigur des Romans, während der untere Text aus einer Art Diarium Floras besteht. Diese Darstellungstechnik gehört zweifelsohne zu den interessantesten Eigenschaften des Romans, sie fällt sofort auf, fordert vom Rezipienten eine aktive Entscheidung, welchen Weg er einschlagen möchte. Diese erste Wahl ist aber gewissermaßen der Preis für den besonderen Aufbau des Romans. Theoretisch stehen an dieser Stelle mehrere Möglichkeiten offen – man könnte mit einem der beiden Texte beginnen, um sich dann dem jeweils ausgelassenen Teil zu widmen, oder aber man versucht, den beiden Erzählsträngen parallel zu folgen. Es stellt sich aber die Frage, ob eine geordnete Lektüre überhaupt möglich ist. Entschließt man sich nämlich dafür, die Texte getrennt voneinander bis zum jeweiligen Ende zu lesen, fehlt ersteinmal ein wichtiger Teil der Narration, was die Rezeption behindert. Aber auch die Variante, beiden Textteilen parallel zu folgen, kann als sehr verwirrend und anstrengend empfunden werden, wobei dieser Umstand weniger dem formellen Aufbau als der zu selten vorhandenen Verknüpfung der beiden Teile des Romans auf der inhaltlichen Ebene geschuldet ist. Zwar fällt es dann umso mehr auf, wenn eine inhaltliche Verbindung zwischen dem Tagebuch Floras und Darius‘ Bericht vorhanden ist, man kann aber die meiste Zeit über eben nicht auf diese Verknüpfung als Orientierungshilfe in der Narration zurückgreifen. Das ist sehr schade, denn es hätte eine interessante Kontrastierung zwischen der Perspektive der an Depressionen leidenden Flora und der Sicht von Darius auf die Ereignisse in ihrem gemeinsamen Leben geben können.

Die vielen Analepsen in dem oberen Erzählstrang, die von der Zeit handeln, als Flora noch lebte, wecken beim Lesen immer wieder Neugier auf Floras Bewertung der Geschehnisse. Diese Neugier bleibt unbefriedigt, so dass der Rezipient bei der Rekonstruktion der Handlung hauptsächlich auf Darius‘ Bericht angewiesen bleibt. Die Tagebucheinträge Floras beziehen sich zu selten, auch zu selten in unmittelbarer Nähe, auf die im oberen Teil der Buchseiten geschilderten Ereignisse. Man könnte annehmen, dass der Rezipient nur durch ein fortwährendes Vor- und Zurückspringen im Text der Vielschichtigkeit des Erzählstoffs gerecht werden kann, wodurch aber der Lesefluss ständig unterbrochen wird, was die Rezeption wiederum behindert.

Neben den erwähnten formalästhetischen Aspekten gibt es auch inhaltliche Besonderheiten, die die Rezeption zu einer anspruchsvollen Aufgabe machen. Die Tagebucheinträge, die, wie von Sabine Wohs richtig angemerkt, oft gar nicht als solche zu erkennen sind und auch häufig nicht den Charakter einer fortgeführten Tagebuchführung aufweisen, erweisen sich für den Rezipienten als wenig aufschlussreich. Man kann zwar die Art, wie unterschiedliche Textsorten (Kochrezepte, Beipackzettel, persönliche Erinnerungen) scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht werden, als einen Versuch interpretieren, den seelischen Zustand und den Leidensdruck Floras zu illustrieren, diese Text(form)collage trägt aber zum Verständnis der Ereignisse, die letztlich zum Suizid führen, zu wenig bei. Die Tagebucheinträge setzen im Roman erst ein, als Darius Kopp das aus dem Ungarischen übersetzte Tagebuch seiner Frau zu lesen beginnt. Da aber Floras Einträge ungefähr ein Jahr vor ihrem Suizid aufhören, gibt es für den wahrscheinlich wichtigsten Zeitraum weder für die Hauptfigur des Romans noch für den Leser einen Einblick in ihr Leben. Die Reise, die Darius Kopp unternimmt, bricht ebenfalls an verschiedenen Stellen ab, so zum Beispiel, als er das Heimatdorf Floras findet. An dieser Stelle erwartet man eine Flut von Fakten zu ihrem Leben, die bestimmte Tagebucheinträge verifizieren oder falsifizieren würden, etwa zu dem von Flora im Tagebuch angedeuteten sexuellen Missbrauch und zu der daraus resultierenden vermeintlichen Schwangerschaft. Dieses traumatische Ereignis würde durchaus eine Erklärung für die späteren psychischen Probleme Floras anbieten, doch es bleibt für den Rezipienten unüberprüfbar. Auf diese Weise wird die Bedeutung von Floras Tagebuch insgesamt herabgesetzt.

Darius Kopp verliert sich einerseits in detaillierter Kalkulation, wie viele Male seine verstorbenen Frau einen bestimmten Weg gegangen sein müsste, und flüchtet sich andererseits bald darauf in die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Aber auch diese beginnende Konfrontation mit der Vergangenheit bleibt für den Rezipienten ohne größeren Erkenntnisgewinn – Darius Knopp verlässt fluchtartig den Ort, an dem er ausgerechnet seinem Vater zufällig begegnet. Genauso abrupt endet die freundschaftliche Beziehung Darius’ zu Oda, die er unterwegs kennenlernt. Terézia Mora spielt mit den Vorstellungen, die hinter bestimmten genretypischen Konzepten stehen: die erkenntnisstiftende Reise, der Wunsch, Näheres über die Jugend seiner Frau zu erfahren oder auch der erhoffte Informationsgehalt der Tagebucheinträge – sie bleiben blinde Spuren. Im Text finden sich wiederholt Elemente unterschiedlicher Romantypen, die aber alle ihre Wirkung nicht entfalten können, da sie entweder umgekehrt werden, abrupt abbrechen oder genreuntypisch ergebnislos bleiben. Diese Dekonstruktion traditioneller Genrecharakteristika ist gleichzeitig ein Spiel mit den Erwartungen der Leserschaft.

Für die Handlung des Romans sind dagegen die Beschreibungen der Bewegung polyrelevant: Die Bewegung der Figuren ist, vor allem auf der metaphorischen Ebene, ein handlungstragendes Element. In ihrer Beschreibung manifestiert sich, was auf rein inhaltlicher Ebene oft unausgesprochen bleibt. Man stößt dabei auf drei unterschiedliche die Handlung des Romans kennzeichnende Arten der Bewegung. Es gibt einmal die zielgerichtete Bewegung, die oft auch einer Flucht gleichkommt – etwa wenn Flora aus Ungarn weggeht oder Darius Deutschland verlässt. Außerdem kommen Schilderungen des fast vollkommenen Stillstands vor, als Abwesenheit jeglicher Bewegung. So etwa, wenn Flora in einer bestimmten Phase tagelang die Wohnung nicht verlässt oder wenn sie, im späteren Verlauf des Romans – den ganzen Tag in einem Liegestuhl sitzt. Das Fehlen jeglicher Bewegung trifft mit der Stagnation in der persönlichen Entwicklung der Figuren zusammen. An dritter Stelle, und an bildlicher Aussagekraft kaum zu überbieten, stehen Floras kreisende Wanderungen um ihr Landdomizil. Diese auslaugenden, anstrengenden Märsche sind nicht weniger als die Tagebucheinträge geeignet, dem Rezipienten das Getrieben-Sein, die Verzweiflung und die Ausweglosigkeit Floras nahezubringen.

Es bleibt aber noch eine Art der Bewegung; sie ist an einer sehr prominenten Stelle, auf dem Buchcover, angedeutet. Das Riesenrad taucht im Geschehen des Romans mehrmals auf. Die Bewegung eines Riesenrads wirkt zwar aus der Entfernung kreisförmig, doch scheint hier eine andere Analogie beabsichtigt zu sein. Eine Fahrt auf einem Riesenrad ist nämlich eine sich wiederholende Abfolge des Aufsteigens und des Sinkens, wobei der Wechsel schnell, für den Fahrgast unkontrolliert geschieht und das Erreichen der höchsten Position sofort in ein Absinken übergeht. Möglicherweise ist dieses mentale Bild genau das, was man braucht, wenn man sich den psychischen und emotionalen Zustand Floras vorstellen möchte.

Es wird beim Lesen des Romans relativ früh deutlich, dass man eine einzige klare Antwort auf die Frage nach dem Grund für Floras Suizid nicht erwarten kann. Es ist ebenfalls ersichtlich, dass eine einfache Kausalität zwischen den vermeintlichen Traumata und der psychischen Erkrankung Floras sowie ihrem Suizid nicht gegeben ist, denn ein solches Denken würde der komplexen Natur ihrer Erkrankung nicht gerecht werden. Als enttäuschend kann aber die Menge der offen bleibenden Fragen empfunden werden. Wenn Darius Kopp an einer Stelle bemerkt, dass er auf seiner Reise, im metaphorischen Sinne, nicht sehr weit gekommen ist, kann diese Einschätzung auf der Rezeptionsseite geteilt werden. Die von Sabine Wohs konstatierte anfängliche Verwirrung des Rezipienten bleibt durchgehend bestehen. Man kann diesen Roman auch als eine Art Schnitzeljagd betrachten und unter anderem den im Paratext enthaltenen Hinweisen nachgehen, wobei aber die Frage auftaucht, was dort enthalten sein kann, was auf den 681 Seiten des Romans keinen Platz hatte. Die originelle Umsetzung des sehr interessanten, komplexen Erzählstoffs hätte eine konsequentere und vielleicht mutigere Verwirklichung gebraucht.

Die Handlung bricht immer wieder an entscheidenden Stellen ab und kann so die aufgebaute Lesererwartung nicht erfüllen. Doch selbst wenn man ohne Erwartungen an die Lektüre herangeht, kann man sich wahrscheinlich eines Gefühls der Ernüchterung nicht erwehren. Der Rezipient wird mit einer tragischen Geschichte zweier Liebenden konfrontiert, die aus einer Wechselwirkung zwischen traumatischer Vergangenheit, psychischem Leid, schwerer psychischer Krankheit und der missglückten oder nicht stattgefundenen Kommunikation eines Paares besteht. Neu oder originell sind diese Topoi wohl kaum und auch die Reise zu sich selbst oder zu der eigenen Vergangenheit gehört traditionell dazu. Was an diesem Roman enttäuscht, ist unter anderem die Tatsache, dass es durchaus interessante und neue Perspektiven in ihm gibt, denen aber nicht genug Platz eingeräumt wird. Als exemplarisch kann hier die Verbindung zwischen einer depressiven Erkrankung und der Schuldfrage dienen. Würde diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit auf narrativer Ebene geschenkt werden, könnte der Rezipient die Grenzen der hergebrachten Wahrnehmung psychischer Erkrankungen überschreiten; eine Reise quer durch Europa müsste dazu gar nicht stattfinden. Vielleicht könnte dann auch klar werden, wer oder was das titelgebende Ungeheuer ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Terézia Mora: Das Ungeheuer. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
688 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873657

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