„Einen gewissen Halt, aber eben keinen Glanz“

Die Notizen „Aus dem Berliner Journal“ Max Frischs sind keine „literarische Sensation“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Interesse an der eben erschienenen Auswahl von Notizen „Aus dem Berliner Journal“ von Max Frisch ist wesentlich biographischer, wohl auch voyeuristischer Natur – auf Seiten der Fachwelt wie auf Seiten des Lesepublikums. Dieses Interesse wird, das schon einmal vorweg, enttäuscht, philologisch wie menschlich.

Im deutschen Schulkanon gilt Frisch als aktueller Lesestoff – erst jüngst wurde in Baden-Württemberg eine als zu provokativ erscheinende Pflichtlektüre für 16-jährige Schüler durch „Andorra“ ersetzt. Auch jenseits der adoleszenten Pflichtleser hat Frisch ‚sein‘ Publikum. Es kennt und schätzt einen Schriftsteller, der Leben und Werk aufeinander bezieht, nicht nur in seinen Tagebüchern, sondern auch in seinen Erzähltexten. Die Erzählung „Montauk“ war schon beim Erscheinen 1975 ihrer biographischen Indiskretionen wegen umstritten: Sie schildert das Wochenende, das der alternde Schriftsteller mit der jungen Amerikanerin Alice Locke-Carey („Lynn“) verbrachte und das als Anfang vom Ende seiner Ehe mit der ebenfalls deutlich jüngeren literarischen Übersetzerin Marianne Oellers betrachtet werden kann. Doch auch dort, wo es nicht explizit um den konkreten M F geht, stehen dessen Themen im Zentrum seiner Texte: der Blick auf die eigene Biographie als Entwurf und Praxis, Identitäts- und Selbst- und Fremdbild-Problematik, Fragen des gelingenden und scheiternden Lebens mit Frauen, des Schreibens, der Einsamkeit oder des Alkoholkonsums.

Der spezifische Mix aus Machismo und Melancholie im meist lakonischen Frisch-Sound, gelegentlich nah am Understatement-Kitsch, begegnet dem Leser auch in der vom Stiftungsrat beim Herausgeber Thomas Strässle in Auftrag gegebenen (und dann in der vorliegenden Form bewilligten) „publikationsfähige[n] Textfassung“ des sogenannten „Berliner Journals“. Sie beschränkt sich auf die Wiedergabe von zweien der insgesamt fünf Ringbücher vom Format A5, in denen Frisch zwischen 1973 und 1980 tagebuchartige Notate festhielt, und dokumentiert die Zeit vom 6. Februar 1973, als das Ehepaar eine Wohnung in Berlin Friedenau bezieht, und dem 25. März 1974, als Frisch sich auf seine Reise nach New York vorbereitet, auf der er dann „Lynn“ kennenlernen wird. Ausgelassen sind in der Buchfassung gut 80 Seiten der ursprünglichen Hefte, insgesamt 18 „in sich geschlossene Texte“, die Herausgeber und Stiftung aus „persönlichkeitsrechtlichen Gründen“ nicht publizieren wollten. Das Befremdliche des Verfahrens, von dem die wohl zentral betroffene Marianne Oellers laut eigener Aussage so wenig wusste wie von der Publikation selbst, und andere implizite Widersprüche der Edition und ihrer Selbstlegitimation hat Volker Weidermann in der FAZ kritisch kommentiert. Soweit die philologische Enttäuschung. Dass sich in sie auch eine voyeuristische mischt, hat mit der spezifischen Schreibweise Frischs zu tun.

Der Umstand, dass der ansonsten mit Privatem eher freizügig verfahrende Autor das gesamte Konvolut der Tagebücher von der Publikation zu Lebzeiten ausnahm und auch über seinen Tod hinaus noch für 20 Jahre sperrte, hatte der Erwartung Vorschub geleistet, die Notate müssten besonders Schützenswertes enthalten, sei es aus Frischs eigener Perspektive oder aus der seiner damaligen Frau Marianne oder, um eine weitere, Frisch-typische, Projektion verkompliziert: aus der Sichtweise, die Frisch Marianne Oellers zuschrieb.

Ob diese Unterstellung stimmt und wenn ja, in welcher Variante, kann man nach der Lektüre der jetzt präsentierten Auswahl nicht entscheiden. Sie ist auch deswegen nicht die von der „Zeit“ ausgerufene „literarische Sensation“.

Was die 170 lichtgesetzten Seiten (plus sechzig Seiten Nachwort, Abbildungen, Herausgeberbericht und Anmerkungen) hingegen bieten, sind anschauliche Portraits von Schriftsteller-Kollegen aus Westdeutschland und West- und Ost-Berlin (Andersch, Grass, Johnson, Enzensberger und Biermann, Jurek Becker, Kunert, Plenzdorf, Christa und Gerhard Wolf). Frischs Eindrücke von seinen Besuchen in Ost-Berlin, zwei, drei Jahre vor der Ausweisung Wolf Biermanns, sind heute auch von zeithistorischem Interesse und seine damalige Stellung im Literaturbetrieb der DDR stützt sich, wie sein Erstlingserfolg mit dem „Tagebuch 1946-49“ in der frühen Bundesrepublik, auf den Status des neutralen schweizer Beobachters von deutschen resp. deutsch-deutschen Verhältnissen: „Ein Bundesdeutscher etwa gleicher Gesinnung käme [für Lesungen in Ost-Berlin, AP] noch nicht in Frage, also die guten Dienste der Schweiz“. Frischs Blick auf die ostdeutschen Kollegen ist wohlwollend neugierig, doch schwingt auch ein fast ethnographischer Ton mit: „Sie sind unversnobt, sehr wach, einer großen Herzlichkeit fähig, kein Palaver.“ Die deutsche Teilung und die Anschauung Berlins inspirieren Frisch zu der dystopischen Miniatur von Zürich als eine in „Ost-Zürich“ und „West-Zürich“ geteilte Stadt, mit „Unterschieden des Komforts“ auf den beiden Seiten einer Mauer, an der „immer noch auf Menschen geschossen“ wird. Umgekehrt deuten auch ‚alte‘ Reflexionen über die Schweiz als Heimat im Kontext einer Lesung in Ost-Berlin eine Sprengkraft an, die sie im bundesrepublikanischen Kontext kaum entfalten konnten.

Man erfährt Allgemeingültiges über das Umziehen und Neueinrichten einer Wohnung, die erst ungewohnt und unbequem, aber belebend – kaum aber bewohnt, schon ‚gewohnt‘ erscheint: „Noch vorgestern sagten wir: Ich gehe jetzt in die Wohnung. Heute sagen wir: ich gehe jetzt nach Hause. Eigentlich wohnen wir schon.“ Und was für die Wohnung gilt, gilt metonymisch für die Beziehung des altersungleichen Paares, in der Vertrautheit und Langeweile koexistieren, es gilt für das Leben, besonders in fortgeschrittenen Jahren, und den Umgang mit dem eigenen Werk und Ruhm: Sie geben „einen gewissen Halt, aber eben keinen Glanz“ und können Schreiblähmung und Angst psychisch wenig entgegensetzen. Es sei unterstellt, dass solcherart nahegelegte Analogieschlüsse zwischen dem Leben des prominenten und vermögenden Autors und dem (männlichen) Leben schlechthin für den gemeinen Frisch-Leser einen Teil des Reizes ausmachen, der von der Lektüre ausgeht und sich in eigenen Gedankengängen fortspinnen mag. Denn neu, schockierend oder unverständlich sind Frischs Gedanken nie, eher eine pointierte Version dessen, was der Leser sich eh schon gedacht haben mag. Kommensurable Moderne halt. Die bietet auch der Band „Aus dem Berliner Journal“. Aus ihm erfährt man wenig Neues über Frisch, aus seiner Publikationsgeschichte aber soviel über die Geschäftsinteressen von Stiftung und Verlag, dass es nicht schwerfällt zu prognostizieren: Es werden noch weitere Bände folgen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal.
Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
260 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518423523

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