Kleine Essener Literaturgeschichte

Von „Essendischen Leuten“ bis Essener Studenten

Von Dirk HallenbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Hallenberger

Es gibt Literatur in Essen, aus Essen und über Essen. Literatur in Essen, das ist beispielsweise das zweimonatlich erscheinende Veranstaltungsprogramm gleichen Namens (Literatur in Essen), das alle Lesungen und sonstigen Literaturkundgebungen in der Stadt übersichtlich zusammenfasst und ankündigt. Zu deren Veranstaltern gehören öffentliche Institutionen (Bistum, Kulturwissenschaftliches Institut, Stadtbibliothek, Volkshochschule, Universität usw.) sowie die engagierten Essener Buchhandlungen (Heinrich Heine, Mayersche, Proust). Dazu zählt aber auch die Literaturzeitschrift Schreibheft, der wohl bedeutendste Akteur auf dem Feld der Literatur aus Essen.Literatur aus Essen, das sind naturgemäß die vielen, vielen Schriftsteller und Autorinnen, die einen biografischen Bezug zur Stadt haben, also hier geboren, gelebt oder gearbeitet haben. Aus Geschichte und Gegenwart ließen sich über 300 Essener benennen, die mindestens eine selbständige (belletristische) Veröffentlichung zu verzeichnen haben. Die wenigsten von ihnen schreiben dabei über Essen (oder das Ruhrgebiet), der weitaus größte Teil sucht sein Thema außerhalb der Region (Otto zur Linde, Hannsferdinand Döbler, Brigitte Kronauer, Anna Jonas, Marion Poschmann u. a.). Zu denjenigen Autoren, die aus Essen kommen und zugleich über Essen schreiben, gehören Hans Marchwitza, Erik Reger, Jürgen Lodemann, Wolfgang Komm oder Nicolas Born. Daneben rücken Schriftsteller ins Rampenlicht, die oftmals nur eine geringe biografische Bindung an Essen (oder das Ruhrgebiet) aufweisen können, Autoren jedoch, die sich gleichsam von außen an den Sektor herangeschrieben, ihn zum Schauplatz oder besser noch: zum Sujet gemacht haben.

Vor diesem Hintergrund sollen nachfolgend einige Titel aus der Literaturgeschichte vorgestellt werden, welche die Stadt Essen zum Gegenstand von Literatur gemacht haben. Der wohl früheste Roman über die Stadt ist Essendische Leute (1866) von George Hesekiel, einem ausgesprochenen Vielschreiber oftmals regional gebundener bzw. geschichtlicher Stoffe. Das zweibändige Werk ist weniger „ein socialer Roman“ (Untertitel) als vielmehr ein historischer Roman um wenige Personen des geistlichen Fürstentums, denn die Handlung spielt im mittelalterlichen Essen des 12. Jahrhunderts. Der Berliner Hesekiel schrieb diesen Roman, bevor die Hochindustrialisierung das Ruhrgebiet erfasste. So betont er zu Beginn von Essendische Leute die Unveränderlichkeit der dortigen Landschaft in Vergangenheit und Zukunft: „denn es ist noch heute im Großen an jener Stätte fast ebenso, wie es vor länger als einem halben Jahrtausend, zur Zeit unserer Erzählung, dort war. Das Land behält immer sein liebes, altes Angesicht, das unseren Vätern ebenso bekannt und vertraut war, wie es unseren Enkeln bekannt und vertraut sein wird.“

Der erste große Industrieroman, der sich thematisch mit Essen auseinandersetzt, Die Stoltenkamps und ihre Frauen (1917), stammt von dem Erfolgsschriftsteller Rudolf Herzog und ist ein nur dürftig getarnter ,Schlüsselroman’ über die „stolzen“ Krupps. Ohne sie – das wollte der Autor dem zeitgenössischen Publikum klarmachen – ist der Aufstieg deutscher Nation kaum zu bewältigen, und so werden nicht nur 90 Jahre erfolgreicher Firmengeschichte dargestellt. Spielen die Krupps notwendigerweise auf dieser Ebene die Hauptrolle, treten im Roman doch auch Arbeiter auf – freilich in erster Linie die sogenannten Kruppianer, die Werksgemeinschaft schlechthin. Und in Kriegszeiten müssen halt auch die Frauen mit ans Werk. Herzogs industrielle Familiensaga war bis 1945 der populärste und auflagenstärkste Revier-Roman und wird, was die Verkaufsziffern angeht, erst von Günter Wallraffs spektakulärer Industrie-Reportage Ganz unten (1985) abgelöst. Aus Herzogs Werk sprechen die Arbeitsamkeit und die nationale Gesinnung der großbürgerlichen Gesellschaft der wilhelminischen Zeit. So waren Die Stoltenkamps auch zu verstehen als ‚Durchhalteroman‘ in den schweren Jahren des Ersten Weltkriegs: die Krupps als die großen Patrioten im Kampf gegen den ‚Erbfeind‘ aus Frankreich und gegen die Stahl-Konkurrenz aus England.

Ein Krupp-Roman aus gänzlich anderer Perspektive ist Union der festen Hand (1931) von Erik Reger (1893–1954). Dieses umfängliche Werk, bis heute wohl der beste deutsche Industrieroman und seinerzeit mit dem bedeutenden Kleist-Preis prämiert, schildert als „Roman einer Entwicklung“ in fünf Stationen zwischen 1918 und 1928 die gigantische Inthronisierung der Schwerindustrie im Ruhrgebiet. Am Beispiel der Stahlwerke „Risch-Zander“, hinter denen sich unschwer die Krupp-Werke erkennen lassen, wo Reger wiederum sieben Jahre lang als Referent tätig war, und des später gegründeten geheimen Interessenverbandes „Union der festen Hand“ demonstriert dieser Schlüsselroman, auf welch vielfältigen, horizontalen wie vertikalen Ebenen die Industriemagnaten das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben an der Ruhr bestimmen – bis hin zur sich anbahnenden Kooperation mit der NSDAP. In einer Mischung aus authentischem Material und extrapolierter Fiktion versucht der Autor ganz im Sinne der Neuen Sachlichkeit, die interessierten Leser über ein Stück Wirklichkeit mitten in Deutschland kritisch-desillusionierend aufzuklären.

In Union der festen Hand geht es nicht nur um ‚die da oben‘; gewissermaßen als erzählerischen Gegenstrang gibt es die Geschichte um einen Krupp-Arbeiter und dessen Entwicklung vom klassenbewussten Proletarier zum angepassten Kleinbürger – mithin eine kritische Beleuchtung der Geschichte der Arbeiterbewegung während der Weimarer Republik. Ein drittes Hauptmoment dieses Romans liegt in dem Versuch einer Analyse des Ruhrgebiets. Sie ist getragen von zum Teil recht rigider Provinzialitätskritik, aber auch von Verteidigung der Region.

1931 gewann Rauch an der Ruhr (1932) den von der Stadt Essen ausgeschriebenen Preis (1929) für den besten „Ruhr-Roman“. Die Jury war im Übrigen mit eher konservativen Kräften besetzt, aus Wissenschaft, Literatur, Stadt, Staat und Wirtschaft. Und dass der Wettbewerb nicht von einer übergeordneten Ruhrgebietsinstanz ausgelobt worden war (wie heute der Literaturpreis Ruhr durch den RVR vergeben wird), sondern dass eine einzelne Stadt vorgeprescht war, schuf Konkurrenzen, die im Ruhrgebiet eh Tradition haben.

In Rauch an der Ruhr, dem wichtigsten Titel des Esseners Felix Wilhelm Beielstein (1886–1964), wird der Versuch unternommen, die einzelnen Stadtgrenzen aufzusprengen zugunsten eines – für damalige Zeiten – kühnen Projekts: einer schienengebundenen Schnellbahn, die die wichtigsten Industriezentren des Reviers auf Minutenabstand zusammenrücken soll. Die zugrundeliegenden Pläne existierten in den 1920er Jahren tatsächlich, aber wie wir wissen, ist dies bis auf den heutigen Tag Zukunftsmusik geblieben (Stichwort: Rhein-Ruhr-Express XXL). Wie in Bernhard Kellermanns Zukunftsroman Der Tunnel (1913) stammt auch in Rauch an der Ruhr der kühne Plan von einem unerschrockenen Ingenieur und späteren Industrieführer, der ihn unter Selbstaufopferung und gegen Fremdwiderstand im Alleingang, aber zum Wohle aller Menschen im Revier umzusetzen sucht, wie es im Roman euphemistisch heißt. „Rauch an der Ruhr“: Vor 80 Jahren waren derlei Emissionen noch durchaus positiv besetzt.

Um diese Zeit entdeckten die proletarischen Schriftsteller thematisch den Ruhrkampf von 1920, den größten bewaffneten Aufstand in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, der zur Schlacht zwischen der sogenannten Roten Ruhrarmee und den Freikorps-Truppen führte. Bekannt wurde vor allem der Roman Sturm auf Essen (1930) von Hans Marchwitza (1890–1965), der als Bergmann ins Ruhrgebiet (und auch nach Essen) gekommen war. Er arbeitete seit seinem 14. Lebensjahr im Bergbau und war aktiv an den Arbeiterstreiks und in der „Roten Ruhrarmee“ beteiligt. Marchwitzas Roman gilt denn auch als derjenige, der die Vorgänge des Ruhrkampfs am genauesten benennt – bis hin zu den konkreten Örtlichkeiten der Auseinandersetzungen.

Die ambitioniertesten Romane über die Stadt hat zweifellos der aus Essen gebürtige Jürgen Lodemann verfasst. 1975 erschien mit Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr sein literarisches Debüt. Bis heute wird mit diesem Roman nicht zuerst ein Heimat- oder Gesellschafts- oder Bildungs- oder Kriminalroman assoziiert, sondern dessen ‚Sprache‘ als das Eigentümliche reklamiert. Diese Tatsache ärgert den Autor wohl bis heute, da sie andere wichtige Anliegen dieses Gegenwartsromans verdecke. Wie einst Reger geißelt Lodemann mit nachvollziehbarer Hassliebe die herrschenden Verhältnisse dieser „hochkomplizierten Landschaft“ zwischen Ruhr und Emscher: die als defizitär empfundene eigene Unselbstständigkeit und Verwaltung von außen oder die übermächtig erscheinende Männerwelt mit ihrem „alles beherrschenden Ellbogenspiel“ auf der einen und ihrer „Weiße-Kragen-Kriminalität“ auf der anderen Seite.

Aufgefächert wird dies am Beispiel der Stadt Essen. Dort passt sich der Roman in das charakteristische Süd-Nord-Gefälle der Stadt ein, das geologisch gegeben und sozial(-demografisch) ausgefüllt ist: oben – unten, reich – arm, Kriminalität aber, so der Autor, auf beiden Seiten. Von ganz unten, vom „Arsch der Welt“ (Nordstadt), kommt Anita, aufgewachsen ohne Eltern und Bildung, dafür mit einem vorlauten bis selbstbewussten Ruhrdeutsch ausgestattet, am Ende aber als Luxus-Prostituierte ganz oben, im Süden angekommen (und die Männerwelt unter ihr).

Auch für ihren Gegenspieler, Hauptkommissar Langensiepen, für die Aufklärung des Kriminalfalls eigens vom dominanten Düsseldorf nach Essen umgezogen, ist Anitas „unpassend nachlässige Aussprache“ zunächst verwirrend, da am falschen Ort: „So redeten Leute aus dem Norden, wohl auch aus der Mitte, aber so sprach selten eine aus dem Süden“. Mit der Zeit gewöhnt sich Rudolf Langensiepen – und mit ihm wir Leser – an „diese Frau mit der eckig-platten Sprache“, in der sie in kaum zu bändigenden Monologen ihre Informationen zum Fall und vor allem ihre Lebensgeschichte preisgibt. Der Kommissar, der stets in der Standardsprache verharrt, ahnt allerdings, dass er nur über Anitas Ruhrdeutsch „brauchbare Informationen bekommen würde“. Hieran knüpft sich für Langensiepen eine weitere überraschende Eigenschaft an: „War es möglich, daß jemand klüger, weitsichtiger denken konnte, obwohl er [!] kein einziges Wort korrekt aussprach, keinen einzigen Satz richtig hinbekam?“ Offenbar ist der Kommissar in jeder nur denkbaren Form angezogen (oder besser: ausgezogen) von diesem „Ur-Ruhr-Typ“ und zu allen Überhöhungen bereit.

In Lodemanns Nachfolgewerk Essen, Viehofer Platz (1985), das wiederum als Heimat- und Kriminalroman diesmal die moderne Medienlandschaft des Reviers analysiert, setzen sich die beiden grundlegenden Sprachkonzepte aus Anita Drögemöller fort: exzessiver Gebrauch und intensive Diskussion des Ruhrdeutschen. Daneben wird hier etliches mehr wieder aufgegriffen: Personenkonstellation, Dialogstruktur, Ruhrdeutsch-Verteilung. Nur, dass Essen Viehofer Platz im Vergleich noch umfangreicher geworden ist. Denn, so deklamiert der Detektiv frei nach Theodor Fontanes Stechlin, „alles hängt unerklärlich mit allem zusammen“.

Im Krimi-Bereich gibt es mit dem Essener Autoren-Duo Karr & Wehner ein weiteres prominentes Beispiel. Es wurde überregional bekannt durch seine Gonzo-Tetralogie (1994–99), eine Serie, die hardboiled und rasch geschnitten (aktuelle) Themen wie Privatfernsehen/ neue Medien, Großstadt/ Milieu oder Korruption/ Kommunalpolitik ins kriminalistische Visier nimmt. Schauplatz dieser „ersten kriminellen Medienlandschafts-Saga“ ist die Möchtegern-Metropole Essen (wie beim heimlichen Revier-Vorbild Jürgen Lodemann) mit ihren vor allen schattigen Seiten: Hauptbahnhof, Stadthafen, City-Center oder die A 52 und B 224. Den Vier-Jahreszeiten-Romanen (Geierfrühling, Rattensommer, Hühnerherbst, Bullenwinter) war ein beachtlicher Überraschungserfolg beschieden, nicht zuletzt durch den Glauser-Preis (1996) für den Teil Rattensommer oder den Literaturpreis Ruhrgebiet (2000) für das Gesamtwerk.

Am Ende dieser kleinen Literaturgeschichte steht ein Roman, der ebenfalls eine beachtliche Resonanz in der überregionalen Wahrnehmung erreichte, was für ein literarisches Produkt aus dem Ruhrgebiet (oder Essen) eher selten ist. Es handelt sich um das Debüt von Jörg Uwe Sauer, der aus Wanne-Eickel stammt und in Essen Literaturwissenschaften studierte. Letzteres hat ihn offensichtlich derart ‚erregt‘, dass Sauer die dortige Hochschule zum Schauplatz seiner Uniklinik (1999) erkor – diese „sogenannte Universität Gesamthochschule Essen“ „dieser sogenannten Universitäts- und auch Einkaufsstadt“ „in diesem sogenannten Land der Dichter und Denker“.

Nun ist Uniklinik jedoch keiner dieser „Campus-Romane“ (etwa in der Nachfolge Schwanitz‘), der als Schlüsselwerk ganz bestimmte Interna und Machenschaften aus dem deutschen Universitätsalltag bloßlegte. Nein: Uniklinik bezieht sich auf ein anderes Vorbild. Der namenlose Ich-Erzähler, der aus Österreich nach Essen flieht, wo er seine „Studien zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen hoffte“, hält sich für Thomas Bernhard. Zwar wird dieser – wie die gesamte „deutschsprachige Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“ – dortselbst von dem Professor „zerfetzt“, dennoch ist Bernhard für Sauers Roman, der zum zehnten Todestag des österreichischen Schriftstellers erschien, die zentrale Ausgangsperson. Und das in jeder Hinsicht: Nicht nur das Romanpersonal umfasst bekannte Bernhard’sche Figuren (Der Kulterer, Der Stimmenimitator), die Anspielungen auf Bernhards Werk und dessen Weiterführung sind immens (Watten, Holzfällen).

Sauers „komische Bösartigkeit“, diese absatzlose Suada von 222 Seiten Länge, endet damit, dass der Ich-Erzähler, der sich durch hartnäckiges Schweigen Stimme verschafft, „diese verdammte Universität, diese verdammte Uniklinik, diese ganze verdammte Stadt“ verlassen muss und nach Triest aufbricht. Essen ist für den verkannten Bernhard offenbar nicht der geeignete Ort. So fragt er sich beispielsweise, „wie man in einer Stadt, in der es nichts zu sehen gibt, eine ganztägige Stadtrundfahrt durchführen will“.

Unterdessen wird über Essen naturgemäß weitergedichtet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen