Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft nach ihrer Wiedervereinigung

Erinnerungen aus einer bewegten Zeit

Von Dieter MehlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Mehl

Im Jahr 1962 trat ich als frisch promovierter Assistent Wolfgang Clemens der im folgenden Jahr (1963) gespaltenen Deutschen Shakespeare-Gesellschaft bei. Auf seine Einladung als Mitherausgeber des Shakespeare Jahrbuch hatte ich 1961 dort einen Aufsatz publiziert. Ein Vierteljahrhundert später während des von Werner Habicht in Zusammenarbeit mit der International Shakespeare Association organisierten Shakespeare World Congress 1986 in Berlin wurde ich bei einer Hauptversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West zusammen mit den Anglisten Balz Engler (Basel) und Wolfgang Riehle (Graz) in den Vorstand gewählt, was von da an auch eine regelmäßige Teilnahme an den jährlichen Shakespeare-Tagen in Bochum mit sich brachte.

Mit Vertretern der ja seit 1963 völlig unabhängigen und entschieden eigenständigen Deutschen Shakespeare-Gesellschaft Weimar ergaben sich zumindest außerhalb des geteilten Deutschland immer wieder Begegnungen auf internationalen Konferenzen, wie etwa beim ersten Shakespeare World Congress 1971 in Vancouver, wo Robert Weimann sich mit einem Vortrag vorstellte, und Martin Lehnert als Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft am Ende der Tagung auftrat, um seine Hoffnung auf einen späteren Kongress in Berlin, der damaligen Hauptstadt der DDR, zum Ausdruck zu bringen.

Robert Weimann war auch bei der alle zwei Jahre stattfindenden International Shakespeare Conference in Stratford-upon-Avon regelmäßig dabei, wo er 1968 einen anregenden Vortrag über „Laughing with the Audience: ‚The Two Gentlemen of Verona‘ and the Popular Tradition of Comedy“ hielt.[1] Er war damals begleitet von Martin Lehnert, Leonard Goldstein (Potsdam) und Anselm Schlösser. Diese Ost-West Begegnungen auf britischem Boden verliefen in jenen frühen Jahren meist eher frostig und distanziert. Westdeutschen Teilnehmern fiel auf, dass mit Kollegen aus der Weimarer Gesellschaft kaum ein Gespräch unter vier Augen zustande kam, sondern regelmäßig ein zweiter, unbekannter Gast dabei war, der als „Dramaturg“ oder in ähnlicher Funktion vorgestellt wurde, was kaum förderlich für eine unbefangene Unterhaltung war.

Ich erinnere mich aber an eine Begegnung in Stratford mit Clifford Leech, meinem früheren Lehrer aus Durham – es muss wohl vor 1972 gewesen sein. Er hatte mich im Theater im Gespräch mit Lehnert gesehen und bemerkte sichtlich erfreut: „It is so good to see you two together!“ Auch mit Robert Weimann ergaben sich freundliche Gespräche. Meine frühe Hochschätzung für seine wissenschaftliche Arbeit, dokumentiert in zwei Rezensionen von 1969, davon eine in englischer Sprache, war ihm offensichtlich bekannt.[2]

Als Mitglied der bei meinem Eintritt noch ungeteilten Deutschen Shakespeare-Gesellschaft wurde ich, nach erfolgter Spaltung von der Weimarer Geschäftsstelle, wie die gesamte bisherige Mitgliedschaft, zunächst weiterhin als eigenes Mitglied geführt. Erst die Erhebung von Mitgliedsbeiträgen auf beiden Seiten führte zur praktischen Trennung, da die in der Bundesrepublik ansässigen Mitglieder nach mehrmaligem Zahlungsverzug stillschweigend von der Mitgliederliste gestrichen und von da an allein der Shakespeare-Gesellschaft West zugerechnet wurden. Es bedurfte danach für den deutschen Bundesrepublikaner einer ausdrücklichen Entscheidung und umständlicher Formalitäten, um den Mitgliedsbeitrag regelmäßig über die Zonen/Staatsgrenze zu schicken, was dann freilich durch die Zustellung des blauen Weimarer Jahrbuches und der jährlichen Einladung zu den Shakespeare-Tagen belohnt wurde.[3]

Nachdem ich 1978 mit meiner Familie nahe Verwandte in Leipzig besucht hatte, mit denen wir von Kind auf in lebendiger Verbindung gestanden hatten, beschloss ich, den nächsten Verwandtenbesuch mit einer Teilnahme an den Weimarer Shakespeare-Tagen zu verbinden, was sich in der Folge mehrmals bewährte, da die Einreise in die DDR dafür offensichtlich leichter genehmigt wurde als ein für die dortigen Verwandten eher belastender, mühsam zu beantragender und dort zeitraubend zu registrierender Gastaufenthalt. Nur einmal wurde ich auf der Autofahrt nach Weimar an der „Zonengrenze“ bei der Entdeckung von Geschenken für die Verwandtschaft darüber belehrt, dass meine Aufenthaltserlaubnis sich doch nur auf Weimar bezöge und ich mich besser nicht in Leipzig erwischen lassen solle.

So kam es, dass ich von 1980 an jährlich an den Weimarer Shakespeare-Tagen teilnahm, eine für mich menschlich, politisch und wissenschaftlich äußerst wertvolle Erfahrung. Der erste Eindruck in der Weimarer Geschäftsstelle war, nach den meist wenig anheimelnden Grenzformalitäten, erleichternd: Frau Hannelore Cattus, eine der Leiterinnen, begrüßte mich in Weimar eher wie einen alten, gern gesehenen Bekannten als wie einen Gast aus dem kapitalistischen Ausland. Wie viele der auswärtigen, Devisen liefernden Gäste wurde ich, mit dem Weimarer Vorstand, im noblen Hotel Elephant untergebracht. Von Martin Lehnert, dem Präsidenten, wurde ich fast jedes Mal mit zuvorkommender Freundlichkeit begrüßt und zu meiner Überraschung auch zu dem Essen eingeladen, das anlässlich der Shakespeare-Tage im engeren Kreis des Vorstands und ausgewählter Gäste im Hotel Elephant stattfand und offensichtlich nicht für westliche Besuchern offen war. Martin Lehnert, der selbst nicht Parteimitglied war, habe ich erlebt, wie er sich mit Gästen aus der Shakespeare-Gesellschaft West zu einer eigens bestellten Flasche Saale-Unstrut Wein an einen Tisch setzte und dabei relativ freimütig über den SED-Staat sprechen konnte, während viele der übrigen Mitglieder wesentlich vorsichtiger im Umgang waren und manche jedem Gruß oder Gespräch auswichen.

Ausnahmen waren umso erfrischender: an einem Vierertisch im Elephant gelandet, wo eben die um die Gesellschaft besonders verdiente Leiva Petersen vom Weimarer Böhlau-Verlag mit zwei Kollegen über Probleme der Papierbeschaffung sprach, reagierte sie auf warnende Blicke ihrer Gesprächspartner mit der unbefangenen Bemerkung, „Ach, der Klassenfeind kann ruhig zuhören.“

Ein besonderes Erlebnis während der Shakespeare-Tage in Weimar waren die Abende im Deutschen Nationaltheater, allein schon wegen der eindrucksvollen Gastspiele aus Armenien, Georgien und anderen östlichen Theaterzentren, mit oft außergewöhnlichen Shakespeareinszenierungen, die vergessen ließen, dass es sich um für die meisten Zuschauer ganz entlegene Sprache handelte. Nicht weniger interessant für den westlichen Besucher war auch die Reaktion des Publikums, das etwa verständnisvoll lachte, als in einer Vorstellung von Troilus und Kressida ein Trojaner fragte, warum Kressida denn aus dem belagerten Troja „hinüber“ wollte, oder während der Aufführung von Maß für Maß (1984), als die heruntergekommenen Sitten Wiens durch eine nackt duschende Frau illustriert wurden, und meine Nachbarin im Parkett mir die Frage zuraunte, ob ich jetzt verstehen könne, warum bei ihnen die Metzgerläden so leer seien, wenn man hier alles Fleisch auf der Bühne zeigte. Es war die gleiche Inszenierung, in der deftigen Übersetzung Maik Hamburgers, die durch den Darsteller des Herzogs von Wien, Detlev Heintze, schon vor dem Vorhang mit der provozierenden Frage eröffnet wurde: „Ham wir schon eine Meinung oder woll‘n wir erst mal gucken?“ Ich habe das als beherzigenswerte Mahnung später oft bei Diskussionen von Aufführungen wiederholt.

1988 erfolgte schließlich meine Teilnahme an den Shakespeare-Tagen in Weimar als Mitglied einer ersten dreiköpfigen Delegation aus dem Vorstand der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West, zusammen mit Dr. Marquort und Raimund Borgmeier. Auch bei dieser Gelegenheit war der Empfang ausgesprochen freundlich, mit einem sehr passend ausgewählten Begrüßungsgeschenk, einem üppigen Bildband über Goethes Weimar. Es war dies der von beiden Gesellschaften beschlossene Beginn einer atmosphärischen Annäherung, die mit diesem Austausch von Delegationen begann und im Geschäftsbericht der Gesellschaft West als Ausdruck „der sich normalisierenden Beziehungen zwischen den beiden Shakespeare-Gesellschaften“ hervorgehoben wurde.[4] Im Gegenzug hatte kurz vorher auf den Shakespeare-Tagen 1988 der Gesellschaft West in Bochum ein Vorstandsmitglied der Weimarer Gesellschaft, Willi Schrader, über „Die Shakespeare-Rezeption in der DDR im Spiegel der Shakespeare-Tage in Weimar“ referiert.[5] Er war begleitet von den Vorstandsmitgliedern Günther Klotz, Herausgeber des Shakespeare-Jahrbuchs und Hans Henning, Vizepräsident und Direktor der Bibliothek.

Zwei Jahre später, als die Shakespeare-Gesellschaft West sich zu ihrer Jahrestagung im April 1990 erstmals in Saarbrücken traf, war bereits die sogenannte „Wende“, mit der Öffnung der Mauer und dem weitgehenden Zusammenbruch der DDR, geschehen. Während dieser Tagung, an der diesmal als Gast Robert Weimann, Präsident der Weimarer Gesellschaft, teilnahm, wurde sowohl in den Gremien als auch informell über die neue Situation und ihre Auswirkungen auf die beiden Gesellschaften gesprochen. Bei der Sitzung des Vorstandes kam bereits die Möglichkeit der Wiedervereinigung der beiden Gesellschaften zur Sprache, wobei von unserer Seite vor allem die organisatorischen, persönlichen und finanziellen Probleme, die sich für die Weimarer Gesellschaft aus der neuen Situation ergeben würden, als Schwierigkeit gesehen wurden. Nach dem Protokoll sagte ich damals, es würde mich nicht stören, wenn es noch für einige Jahre zwei Gesellschaften gäbe. Es komme vor allem darauf an, dass diese gut miteinander harmonierten.

Nach einem in verschiedenen Zeitungen abgedruckten Bericht von Dietmar Kanthak (Bonn) über diese Saarbrücker Tagung forderte Karl Klein, der Anglist der Universität Saarbrücken (leider 1997 verstorben), es müsse dieses Jahr etwas passieren. Was im Großen zusammenwachse, solle auch im Kleinen zusammenkommen. Vorsichtiger äußerte sich nach Kanthak der Präsident Ulrich Suerbaum: „In sechs, acht oder zehn Jahren wird es vielleicht wieder eine Gesellschaft und ein Jahrbuch geben.“ Weiter heißt es in diesem Bericht: „In Anwesenheit des Präsidenten der Shakespeare-Gesellschaft Weimar, Robert Weimann, warnte Suerbaum vor Illusionen einer raschen Vereinigung. Dies würde bedeuten, vergangene Differenzen unter den Teppich zu kehren.“ Andererseits stellte der Journalist im gleichen Bericht fest:

In diesem Jahr war in Saarbrücken der Wille zur intensiven deutsch-deutschen Zusammenarbeit spürbar. Der Bonner Anglist Dieter Mehl empfahl, den Zusatz West der bundesdeutschen Shakespeare-Gesellschaft in Zukunft nur mehr geographisch und nicht ideologisch zu verstehen.[6]

Drei Wochen später bei den Shakespeare-Tagen 1990 in Weimar war der Geist des Aufbruchs noch unmittelbarer. Dass bei der traditionellen Kranzniederlegung am Shakespeare-Denkmal im Weimarer Park neben dem Weimarer Vorstandsmitglied Maik Hamburger auch ein westdeutscher Anglist, Horst Meller aus Heidelberg, zu Wort kam, war eine bisher kaum vorstellbare Neuerung, und auch im übrigen Programm war die Bemühung um eine neue Aufgeschlossenheit deutlich. Bei der Jahreshauptversammlung kam Präsident Weimann erwartungsgemäß auf das Verhältnis zur Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West zu sprechen: „Die Annäherung sei bereits vor der Wende eingeleitet worden“, so sagte er, „und könne nun, ohne etwas über das Knie zu brechen, weitergeführt werden bis zur Abstimmung von Veranstaltungen und von konkreten Arbeitsschritten zu einem größeren, womöglich föderativem Ganzen.“.

Daran schloss sich, laut Protokoll, eine ungewöhnlich lebhafte Aussprache an.

Einige Mitglieder befürchteten, eine rasche Vereinigung der beiden deutschen Shakespeare-Gesellschaften im Stile einer ‚Vereinnahmung‘ könne beiden Beteiligten schaden; andere plädierten dafür, zwei Gesellschaften und zwei Jahrbücher auch bei der Vereinigung der Staaten beizubehalten; wiederum andere wollten Weimar als Sitz der Vereinten Gesellschaft festschreiben.[7] Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft West ihre Tagung zwei Jahre später (1992) in Wien abhalten werde, wozu nun auch die Mitglieder der Gesellschaft Weimar eingeladen seien.

Schon ein halbes Jahr später, im November 1990, legte Ulrich Suerbaum, Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West, der die Zeichen der Zeit schneller erkannt hatte als manch andere, den Vorständen ein „Memorandum zur Zusammenarbeit und Vereinigung der beiden deutschen Shakespeare-Gesellschaften“ vor, das verschiedene Möglichkeiten der Vereinigung vorstellte: „Die Vereinigung der Jahrbücher könne als erster großer Schritt erfolgen und als Modell für die nächsten Schritte dienen.“ In diesem Sinne fand schon am 16. November 1990 in Berlin ein Gespräch zwischen den Herausgebern des (blauen) Shakespeare-Jahrbuchs (Weimar) und des Jahrbuchs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West (Bochum) über die Zusammenführung der beiden Publikationen statt. Es wurde ein erstes gemeinsames Jahrbuch für 1993 geplant, auch vor einer möglichen Vereinigung der beiden Gesellschaften. Über die wichtigsten Fragen wurde Einigkeit erzielt. Offen blieben noch die Fragen des Verlags, der Finanzierung und des neuen Einbandes.

Die Einladung zu den Shakespeare-Tagen 1991 in Bochum, die im November 1990 verschickt wurde, enthält bereits die Mitteilung:

Wie unter anderem bei der letzten Hauptversammlung in Saarbrücken deutlich wurde, bewegen sich die beiden deutschen Shakespeare-Gesellschaften Schritt für Schritt aufeinander zu. In diesem Sinne ist die Vereinbarung getroffen, dass die beiderseitigen Tagungen auch für die Mitglieder der jeweils anderen Gesellschaft zugänglich sind. Sie können daran mit den gleichen Rechten wie die eigenen Mitglieder teilnehmen. Wir möchten also auf diesem Wege die Mitglieder der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft Weimar herzlich zu unserer Tagung nach Bochum einladen.

Wie viele Mitglieder aus Weimar unter den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen von dieser Einladung Gebrauch machten, ist mir nicht bekannt.

In seinem „Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 1990/1991“ berichtete Günther Klotz von einer Vorstandssitzung vom Januar 1991, in der der Vorstand zu der Auffassung kam, „dass bei Bewahrung der Weimarer und Bochumer Traditionen eine Vereinigung zu einer Gesellschaft mit einer Mitgliedschaft und einem Hauptsitz behutsam, aber ohne Verzögerung herbeizuführen sei.“

Am 30. Januar desselben Jahres fuhren Präsident Weimann und Maik Hamburger zu einer Beratung mit Präsident Suerbaum und dem Vorsitzenden des geschäftsführenden Ausschusses der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West, Raimund Borgmeier, nach Bochum. Dort wurde der Übereinstimmung Ausdruck gegeben, „dass eine wirkliche Vereinigung beider Gesellschaften und Mitgliedschaften anzustreben sei und dass ein paritätisch zusammengesetzter Ausschuss die Modalitäten für eine tatsächliche Vereinigung ausarbeiten und beiden Gesellschaften unterbreiten soll.“[8]

Nach den verschiedenen Berichten entsteht der deutliche Eindruck, dass der Wunsch nach einer völligen Vereinigung der beiden Gesellschaften in der Weimarer Gesellschaft früher und nachdrücklicher geäußert wurde als im Bochumer Vorstand, in dem ein gewisses Misstrauen gegenüber dem östlichen Verband noch etwas länger lebendig war, verbunden mit der Erwartung, dass die Weimarer Gesellschaft sich vor einer Vereinigung von gewissen (auch personellen) Altlasten zu befreien habe.[9] In einer Reihe von besonders offensichtlichen Fällen war dies bereits schnell und geräuschlos geschehen, und innerhalb der ersten zwei Jahre wurden nach meinem Eindruck so gut wie alle personellen Fragen noch vor der offiziellen Vereinigung einvernehmlich gelöst; manche lösten sich freilich allein aus Altersgründen von selbst.

Während der Shakespeare-Tage im April 1991 in Bochum berichtete Präsident Suerbaum über die bisher geführten Gespräche. Es habe Einigkeit insbesondere über den Grundsatz der strengen Parität und über die beiden Sitze der Gesellschaft in Bochum und Weimar geherrscht. Weimar strebe eine einheitliche Gesellschaft mit zwei Zentren an, nicht lediglich eine Konföderation. Frühjahr 1993 solle für eine gemeinsame Tagung vorgesehen werden.

Im Anschluss wurde für das Programm der gemeinsamen Shakespeare-Tage 1993 eine Vorbereitungskommission nominiert, der die Vorstandsmitglieder Balz Engler (Basel), Wolfgang Riehle (Graz) und Dieter Mehl (Bonn) angehören sollten: dabei sollte die Frage des Tagungsortes zunächst ausgeklammert bleiben.[10]

Für die gleiche Bochumer Tagung war eine außerordentliche Mitgliederversammlung angesetzt (April 1991), in der Präsident Suerbaum einen Bericht zum Stand der gegenseitigen Gespräche und über die verschiedenen Möglichkeiten einer Annäherung sowie künftigen Vereinigung der beiden Shakespeare-Gesellschaften gab. Sie wurden im Folgenden lebhaft und durchaus kontrovers diskutiert. Das Ergebnis war am Ende jedoch überraschend einmütig: angenommen wurde bei zwei Gegenstimmen, ohne Enthaltung, ein von mir vorgeschlagener Antrag: „Die außerordentliche Hauptversammlung strebt die Vereinigung der beiden deutschen Shakespeare-Gesellschaften zu einem baldmöglichen Zeitpunkt an“. Ich war damals mit diesem Ergebnis mehr als zufrieden und hatte den Eindruck, dass nun auch die Mehrheit des Bochumer Vorstandes von der Notwendigkeit einer baldigen Vereinigung überzeugt war.

Auf der anderen Seite gab Günther Klotz bei den Weimarer Shakespeare-Tagen 1991 seinen etwas differenzierteren Eindruck von der Stimmung unter den Bochumer Mitgliedern wieder: „Die Bochumer Gesellschaft“, so sagte er, „stimmte dem Ziel einer Vereinigung zu; sie beschloss, 1993 mit unserer Gesellschaft gemeinsame Shakespeare-Tage abzuhalten (wir hoffen, dass das in Weimar sein wird). Obwohl die Bochumer Hauptversammlung als Ziel die Vereinigung beschloss“, so Klotz, „scheint es in der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West über den Begriff ‚Vereinigung‘ erhebliche Meinungsunterschiede zu geben.“[11]

Bei derselben Gelegenheit 1991 verkündete Günther Klotz eine „radikale Erneuerung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft“.[12] Als auswärtiger Gast kam Stanley Wells (Stratford-upon-Avon), der bei der Kranzniederlegung am Shakespeare-Denkmal im Park Grüße aus Shakespeares Geburtsstadt überbrachte. Vom Vorstand der Gesellschaft West nahmen teil Ulrich Suerbaum, Balz Engler und ich, dazu eine ganze Reihe anderer Gäste aus der Bundesrepublik. Als Zeichen des Neuanfangs wurde in Weimar ein neuer Vorstand gewählt, für den erstmals auch mehrere westdeutsche Mitglieder kandidierten. Gewählt wurden von westdeutscher Seite fünf neue Vorstandsmitglieder. Ich selbst wurde vorgeschlagen, hatte aber wegen meiner Mitgliedschaft im Vorstand der Gesellschaft West abgewinkt. Leonard Goldstein, der mich vorgeschlagen hatte, bemerkte danach enttäuscht: „I thought you were on the side of the angels“.[13] Robert Weimann, der anschließend als Präsident wiedergewählt wurde, bat den Vizepräsidenten Günther Klotz während seiner durch Lehrverpflichtungen in den USA bedingten Abwesenheit die Geschäfte des Präsidenten wahrzunehmen.[14] Für die praktische Durchführung des Vereinigungsprozesses war die abwägende und – bei aller selbstbewussten Eigenständigkeit – kompromissbereite Kompetenz von Günther Klotz höchst segensreich.[15]

Zur Vorbereitung des Zusammenschlusses wurde ein paritätisch aus beiden Gesellschaften zusammengesetzter Zehnerausschuss gebildet. Dort bestand Übereinstimmung, so schnell wie möglich, möglichst schon 1993, eine einheitliche Gesellschaft mit einem Vorstand zu bilden. Die Vereinigung sollte nach dem Prinzip der Parität erfolgen und nicht bedeuten, dass die Tradition einer der beiden Gesellschaften ausgelöscht wird. Vielmehr sollt sie für die Mitglieder beider Gesellschaften als eine Erweiterung erfahrbar sein. Beide Orte sollten als Shakespeare-Zentren erhalten bleiben; Weimar ist Hauptsitz. Bei der Wahl für den ersten gemeinsamen Vorstand „soll der ‚Heimvorteil‘ ausgeschaltet werden, indem beide Seiten je eine Vorschlagsliste vorlegen, von der jeweils sechs Personen gewählt werden.“[16]

Im Verlauf des Jahres 1991wurden dann gemeinsam die genaueren Modalitäten der Vereinigung vereinbart: als Tagungsorte sollen im Wechsel Weimar 1993, 1995 und Bochum 1994, 1996 festgelegt werden; danach wäre neu zu beraten. Vereinsrechtlich wurde, nach eingehender juristischer Beratung, als beste mögliche Lösung die Formierung der Gesellschaft West als Zweigverein vorgeschlagen, der 1993 der Weimarer Gesellschaft beitreten und sich dann auflösen würde.[17]

Die Vorbereitungsgruppe für die gemeinsame Tagung in Weimar 1993 traf sich in Weimar, Januar 1992 im Schulungszentrum der Deutschen Bundesbank, Windmühlenstr. 19/21, und legte einen Entwurf für den Verlauf der Tagung vor. Es war eine ausgesprochen einvernehmliche Sitzung, in der inzwischen unter Denkmalschutz stehenden ursprünglichen Villa des Gauleiters Fritz Sauckel: (sie war unmittelbar nach der Besetzung Weimars durch die Amerikaner am 12.4.1945 Sitz des Generals George S. Patton.)

Wie schon seit längerem geplant, fanden die Shakespeare-Tage 1992 der Gesellschaft West vom 9. bis 12. April in Wien statt. Am ersten Abend gab es im Festsaal des Wiener Rathauses eine öffentliche Podiumsdiskussion über „Shakespeares Aktualität“, zu der ich eingeladen war, zusammen mit zwei Wiener Kollegen, dem Präsidenten der Gesellschaft Ulrich Suerbaum, sowie George Tabori, der höchst beredt und überzeugend das Theater der Gegenwart in die lebhafte Gesprächsrunde einbrachte. In sie griff aus dem Publikum auch Maik Hamburger, Vizepräsident der Weimarer (und ein Jahr später der wiedervereinigten) Shakespeare Gesellschaft engagiert ein. Dass er manchem der Zuhörer bisher unbekannt war, wie der anonyme Einwurf vermuten ließ, der sich auf den „Mann aus Hamburg bezog“, fügte der ernsthaften Runde einen Schuss gesamtdeutscher Komik bei, die dem anwesenden Bonner Kritiker nicht entging.[18]

Zwei Wochen später wurde bei der Mitgliederversammlung während der Shakespeare-Tage in Weimar 1992 der fällige Rechenschaftsbericht von Hans-Jürgen Diller (Bochum) vorgetragen, ein deutliches Signal der Annäherung der beiden Gesellschaften, die zu diesem Zeitpunkt ja die Vereinigung bereits für das kommende Jahr geplant hatten. Der Bericht stellt fest, dass im Jahr 1991 die Zahl der Austritte aus der Gesellschaft Weimar mit 354 „ungewöhnlich hoch“ gewesen sei; für den Tag vor dem Bericht wird die Mitgliederzahl mit 1.429 angegeben. Der Bericht von Raimund Borgmeier im gleichen Jahrbuch nennt als Mitgliederzahl der Gesellschaft West 1.854.[19]

Kurz nach der Wiener Tagung kam der Zehnerausschuss in Bochum zusammen (15.Mai). Suerbaum und Klotz erklärten übereinstimmend, dass die bisherigen Präsidenten und Vizepräsidenten nicht mehr für diese Ämter kandidieren würden. Das Ergebnisprotokoll hält fest: „Eine Diskussion um mögliche, namentlich genannte Personen, die für das Amt des Präsidenten in Frage kommen, machte deutlich, dass es Kandidaten gibt, die allseitige Zustimmung finden können.“[20]

In der Sitzung des Vorstandes der Gesellschaft West am 30. Oktober 1992 in Bochum berichtete Suerbaum ausführlich über die bisherigen Verhandlungen. In der Niederschrift heißt es u.a.: „Im Zehnerausschuss habe er, so sagte der Präsident, als möglichen Kandidaten für das Amt des Präsidenten nach der Vereinigung Prof. Mehl vorgeschlagen, und dieser Vorschlag sei von der Weimarer Seite positiv aufgenommen worden. Für das Amt des Vizepräsidenten solle Maik Hamburger vorgesehen werden.“ Ich war von dieser Wendung ziemlich überrascht und gab, auch unter dem Eindruck der freundlichen Reaktion des Vorstandes, mein Einverständnis zur Kandidatur.

In einer späteren Sitzung eines gemeinsamen Ausschusses, zu der ich als „designierter“ Präsident geladen war, wurde schon die Notwendigkeit einer ständigen Weimarer Präsenz besprochen, und ich hatte einen diesbezüglichen Vorschlag gemacht (Prof. Wolfgang Müller, Jena). Im Protokoll ist zu lesen: „Demgegenüber sprachen sich die Weimarer Vertreter nachdrücklich für den bereits am Ort arbeitenden Bibliotheksdirektor Dr. Knoche aus, wozu dann auch Herr Mehl seine Zustimmung gab.“ Dies erwies sich in der Folgezeit als die bestmögliche Lösung: Michael Knoche lehnte zwar ab, die Rolle eines „Geschäftsführers“ zu übernehmen, blieb aber als ex officio-Mitglied des Vorstandes und ständige Weimarer Präsenz in den kommenden Jahren für die Belange der Gesellschaft unentbehrlich.

Die Weimarer Shakespeare-Tage 1993, zu der sich 1.589 Teilnehmer/innen angemeldet hatten, waren, neben einem dichten, sorgfältig vorbereiteten wissenschaftlichen Programm über das Thema der Erinnerung, ausgefüllt durch verschiedene Wahlvorgänge und die vollzogene Wiedervereinigung der beiden Shakespeare-Gesellschaften. Der Präsident des Bundesrepublik Deutschland, Dr. Richard von Weizsäcker, hatte die Schirmherrschaft über dieses Ereignis übernommen.

Zu dem traditionellen, aus diesem Anlass besonders gut besuchten Morgenspaziergang und der Begrüßung am Shakespeare-Denkmal im Weimarer Park am 24. April 1993 kamen eine Reihe geladener Gäste mit Grußworten, eingeführt vom Weimarer Stadtkulturdirektor Lutz Vogel, dazu Michael Prinz von Sachsen-Weimar und Eisenach, der Bochumer Schauspieler Peter Roggisch und, als besonderer Ehrengast, Professor Ann Jennalie Cook, Vice-President der International Shakespeare Association, die die Grüße dieser weltumspannenden Vereinigung überbrachte.

Eine erfreuliche Zahl internationaler Gäste trug zu dem vielseitigen Angebot an wissenschaftlichen Diskussionsbeiträgen zum Thema der Erinnerung bei. Zu den vielen Höhepunkten dieser Shakespeare-Tage gehörte ein Gastspiel der „English Shakespeare Company“ unter dem ungewöhnlichen Michael Bogdanow im Deutschen National Theater mit einer höchst originellen und durchaus zeitgenössisch politischen Inszenierung des Macbeth. Das Deutsche Nationaltheater Weimar präsentierte eine einfallsreiche und nachdenkliche Inszenierung des Sturm, mit dem immer wieder eindrucksvollen Detlev Heintze als wenig hoffnungsvollem Prospero, während das Bochumer Schauspielhaus zu Gast war mit Timon von Athen in der unvergesslichen Inszenierung Patrick Steckels,mit den ausdrucksvollen japanischen Masken und Peter Roggisch in der Titelrolle.

Der vereinspolitische Teil dieser außerordentlichen Shakespeare-Tage begann zunächst mit getrennten Sitzungen, in der die Vorstände der beiden Shakespeare-Gesellschaften über die Ergebnisse der bisherigen Gespräche unterrichtet wurden. In der Sitzung des Vorstandes der Shakespeare-Gesellschaft West informierte Werner Habicht, Herausgeber des Jahrbuchs der Gesellschaft West, über die Gestaltung und den neuen Einband des gemeinsamen Jahrbuchs, angefangen von Band 1992, sowie die Probleme, die sich aus dem Wechsel vom Böhlau-Verlag (Weimar) zum Kamp-Verlag (Bochum) ergaben. Der Vorsitzende des geschäftsführenden Ausschusses, Raimund Borgmeier, berichtete, dass die Mitgliederzahl der Gesellschaft West von 1.440 im Jahre 1964 auf den gegenwärtigen Höchststand von 1.931 gestiegen sei.

Bei der folgenden Mitgliederversammlung der Gesellschaft Weimar wurde der „Antrag auf Beschluss, dass die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West als Zweigverein in die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft, Sitz Weimar, Hauptverein, aufgenommen wird“, mit 139:1:0 Stimmen angenommen.

Am Sonntag, dem 25. April, fand dann die erste gemeinsame Mitgliederversammlung statt; anwesend waren 279 Mitglieder. Zunächst wurden die Wahlen zum gemeinsamen Vorstand, getrennt nach den ausgelegten Vorschlagslisten, durchgeführt. Ergebnisse: von jeder Liste wurden sechs Personen in den neuen Vorstand gewählt. Im Anschluss zog sich der neu gewählte Vorstand zu seiner ersten konstituierenden Sitzung zurück. Einziger Tagesordnungspunkt war die Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten. Es wurden durch Akklamation ich selbst zum Präsidenten und Maik Hamburger zum Vizepräsidenten gewählt. Darauf kehrte der Vorstand zur Mitgliederversammlung zurück, um das Wahlergebnis bekanntzugeben, und die Versammlung wurde mit einer kurzen Erklärung des neuen Präsidenten fortgesetzt.

Von hier beginnt die Geschichte der wiedervereinigten Deutschen Shakespeare Gesellschaft.

Zwei Wochen danach, am 12. Juni 1993, traf man sich wieder zur ersten Vorstandssitzung in Bochum (9.00-15.00 Uhr), und es war für mich erstaunlich und zugleich beruhigend, wie normal dies alles nach den intensiven Planungen und Aufregungen der letzten beiden Jahre vor sich ging.

Es gab eine längere Liste zu besprechender Punkte:

- Planung der Shakespeare-Tage in Bochum, 1994, und Weimar 1995.
- Die Shakespeare-Bibliothek (Weimar und Bochum)
- Die Frage der Martin-Lehnert Stiftung
- Personalfragen der Geschäftsstelle, Finanzierung der Stellen durch die Stadt Weimar
- Öffentlichkeit: Anregung zum Entwurf eines Faltblattes mit Informationen zur Gesellschaft

Nach der endgültigen Zusammenfassung der Unterlagen von Bochum und Weimar unter Berücksichtigung von Austritten und Neuaufnahmen belief sich der Mitgliederstand zum 01.07.1994 auf insgesamt 3.101 Mitglieder.

In der zweiten Vorstandssitzung im November 1993 in Weimar, wiederum in der Windmühlenstr (09.30 Uhr), wurde nach ausführlicher Diskussion mit Dr. Knoche entschieden, die ca. 10.000 Bände umfassende Vereinsbibliothek der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft als Schenkung an die Anna Amalia Bibliothek zu geben. Damit ist die traditionsreiche Sammlung in ihrem Bestand neu gesichert und in größerem Rahmen Bestandteil der Weimarer Shakespeare-Tradition. Ebenso wurde beschlossen, von dem durch Martin Lehnert vorwiegend für den Nachwuchs gestifteten Betrag, der sich inzwischen auf 75.000,00 DM belief, einen „Lehnert-Preis“ für besonders verdiente Arbeiten von Studierenden einzurichten.

Nach der vergleichenden Prüfung der Verlagsangebote von Böhlau (Weimar) und Kamp (Bochum) entschied der Vorstand sich für den Bochumer Verlag, was zu nicht ganz leichten Verhandlungen führte. Sie kamen jedoch zu einem guten Ende, so dass das Jahrbuch für 1995 schließlich mit dem angestammten Titel und der korrekten Bandnummer erscheinen konnte und nur die ersten beiden gemeinsamen Bände ohne Nummerierung und mit einem Verlegenheitstitel, Deutsche Shakespeare-Gesellschaft / Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West Jahrbuch 1993 bzw. 1994, herauskamen.

Am 29. März 1994 fuhr ich zur Unterzeichnung des Vertrags zwischen der Stadt Weimar und der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft erneut nach Weimar. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Klaus Büttner hatte diese Vereinbarung am Ende in eigener Verantwortung, vor ausdrücklicher Genehmigung durch den Stadtrat, am 30. März 1994 unterzeichnet – für mich ein Beweis seines Wohlwollens und persönlichen Interesses an der Gesellschaft, die ja in Konkurrenz mit nicht wenigen anderen kulturellen Weimarer Vereinigungen stand. Die Vereinbarung verpflichtet die Shakespeare-Gesellschaft zur Durchführung regelmäßiger wissenschaftlicher Tagungen in Weimar sowie die „Nutzung ihrer weitreichenden internationalen Kontakte, um direkte Beziehungen und Bindungen im anglo-amerikanischen Raum für die Europäische Kulturstadt Weimar 1999 herzustellen“ und „mit ortsansässigen kulturellen Institutionen und Gesellschaften“ zusammenzuarbeiten. Dagegen sagt die Stadt Weimar die Vermietung der Räume für die Geschäftsstelle zu den bisherigen Konditionen und einen jährlichen Mietzuschuss in Höhe von 65% der Gesamtmiete zu, auch „Im Falle einer eventuellen Verlegung der Geschäftsstelle in ein anderes Gebäude“. Die Stadt übernimmt ferner „die buchungstechnische Abrechnung – einschließlich der Prüfung der Jahresabrechnung“, und sie „fördert die Shakespeare-Gesellschaft mit einer jährlichen finanziellen Zuwendung in Höhe von 58.000 DM.“

Diese Vereinbarung vom 30. März 1994 bildet seither eine der wichtigsten Grundlagen für die finanzielle Planung der Gesellschaft und die Existenz der Weimarer Geschäftsstelle. Sie wäre freilich kaum zustande gekommen ohne die entschlossene und tatkräftige Befürwortung durch den Stadtkulturdirektor Dr. Lutz Vogel, neben Dr. Michael Knoche der hilfreichste Ansprechpartner, Freund und Fürsprecher der Shakespeare-Gesellschaft in diesen ersten Weimarer Jahren, dazu vor allem durch den persönlichen Einsatz des Oberbürgermeisters Dr. Büttner.

Nach diesem so ermutigenden Weimarer „Erfolg“ für die Gesellschaft wurden die ersten Bochumer Shakespeare-Tage der wiedervereinigten Gesellschaft vom 21. bis 24. April 1994 zu einem besonders wichtigen Erlebnis.

Zu den gelungenen Vorbereitungen durch Frau Canaris und ihr Team in der Stadt Bochum gehörte die offizielle Namensgebung eines „Shakespeare Platz“ am Theater, der während der Shakespeare-Tage bei schönem Wetter in einer kleinen Geburtstagsfeier eingeweiht wurde. Die Mitglieder saßen teilweise auf dem Rasen, so dass der Programmpunkt fast den Charakter eines fröhlichen Picknicks annahm, was der lockeren Form dieser „Feier“ durchaus angemessen war. Die unmittelbare Ambiente des neuen „Shakespeare-Platz“ war freilich etwas prosaisch durch den wenig romantischen Eingang zur Tiefgarage, und es überraschte mich wenig, dass der Intendant des Schauspielhauses Bochum mich noch am Tag zuvor anrief, um seine Skepsis angesichts der geplanten Zeremonie auszudrücken, der er vom Fenster seines Zimmers im Theater amüsiert zusehen werde. Was bei der Feier nicht erwähnt wurde, war, dass zum Shakespeare-Jubiläum 1964, dem Jahr der Spaltung der Gesellschaft, in Weimar an etwas attraktiverer Stelle die William-Shakespeare-Straße durch Walter Ulbricht eingeweiht wurde.

Zur Festveranstaltung im Schauspielhaus Bochum kamen als willkommene Ehrengäste die Bürgermeister der Städte Bochum und Weimar. Der Bochumer Bürgermeister, Heinz Eikelbeck, hatte uns im Vorjahr bereits in Weimar persönlich zur Vereinigung beglückwünscht. Die Anwesenheit des Weimarer Oberbürgermeisters Dr. Klaus Büttner, der ebenfalls ein sehr herzliches Grußwort sprach, empfand ich als historisches Ereignis und sichtbares Zeichen dieser so harmonischen Wiedervereinigung.

Am zweiten Tag, Freitag, 22. April 1994, 9.00-10.10 Uhr fand morgens die Hauptversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West statt, in der, mit 65 Ja-Stimmen gegen 2 Nein-Stimmen, die Auflösung der Gesellschaft beschlossen wurde. Sie hatte über dreißig Jahre lang von Bochum aus unter den Präsidenten Rudolf Stamm, Werner Habicht und zuletzt Ulrich Suerbaum eine bedeutende Rolle in der deutschen Shakespeare-Pflege wahrgenommen und sich, besonders auch im englischsprachigen Ausland, eines großen Ansehens erfreut, wie durch zahlreiche Besuche und Vorträge sowie Beiträge im Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West dokumentiert ist.

Es folgten acht Jahre mit jeweils zwei Tagungen pro Jahr in Weimar und Bochum, mit einer Reihe ausgesprochen interessanter deutscher und internationaler Gäste. Unter den besonders eindrucksvollen Rednern wären zu nennen George Steiner und Walters Jens, sowie die Schauspielerinnen Fiona Shaw und Maria Wimmer, dazu käme als bedeutsames Ereignis der Umzug der Geschäftsstelle vom Markt in das Haus des Restaurants „Shakespeares“ in der Windischenstraße.

Inzwischen ist – ohne irgendeine inhaltliche Wertung – ein spürbarer Wandel im Erscheinungsbild der Gesellschaft festzustellen, der auch mit dem personellen Wechsel im Vorstand zusammenhängt, vor allem aber mit der so rasch veränderten historischen Situation: Schon die dreimal drei Jahre meiner Amtszeit, mit der zweimaligen Veränderung im Vorstand sprechen in dieser Hinsicht für sich: nach der ersten Amtsperiode des Vorstandes – drei Jahre nach der Vereinigung (1996) – erklärten einige der an der Vereinigung besonders aktiv beteiligten Mitglieder ihren Verzicht auf eine erneute Kandidatur, darunter vier Mitglieder des vorausgehenden Weimarer Vorstandes, einschließlich des letzten Präsidenten, sowie der letzte Präsident der Shakespeare-Gesellschaft West. Drei Jahre später, 1999, schieden nochmals zwei langjährige, mit der Geschichte der Shakespeare-Gesellschaft vor und nach der Wende bestens vertraute Mitglieder aus dem Vorstand aus. Zwar wurden die Shakespeare-Tage weiterhin regelmäßig von älteren Mitgliedern und früheren Vorstandsmitgliedern besucht, die lebendige Erinnerungen an die gespaltene Gesellschaft und die Freude über ihre Wiedervereinigung bewahrten; aber mit der Angleichung der Lebensverhältnisse und dem auch in Weimar ins Auge fallenden Einzug der „westlichen“ Konsumgesellschaft verwischten sich bald viele der noch 1993 auffälligen Gegensätze, und die vergangene DDR verlor für viele Bundesbürger immer mehr von dem Reiz oder dem Grusel des Unbekannten und schwer Zugänglichen. Ähnliches gilt, wie ich aus eigener Anschauung weiß, für viele Bürger der ehemaligen DDR, zumal der jüngeren Generation. Ihre Erinnerungen an das geteilte Deutschland, den eisernen Vorhang und die Zonengrenze treten immer weiter in den etwas verschwommenen Hintergrund. Mit der Wende hatten sich ja sehr rasch die Ängste und Feindseligkeiten des kalten Krieges aufgelöst, die für den Bundesbürger mit jedem Besuch in der alten DDR verbunden waren. Sie waren noch 1986 während des Berliner Shakespeare-Weltkongresses allgegenwärtig, wo zumindest tageweise ein zaghafter Blick jenseits der Mauer möglich war und ein führendes Mitglied der Weimarer Shakespeare Gesellschaft vor Besuchern aus aller Welt im Reichstag, dem heutigen Bundestag, enthusiastisch die Segnungen des Sozialismus und der Teilung Deutschlands anpries. Ein anderes Mitglied des Vorstands dieser Gesellschaft rief bei der jahrelang routinemäßigen, auch zum Programm jenes Kongresses gehörenden Aussicht von einem Westberliner Podest auf das Land jenseits des „Eisernen Vorhangs“ aus, wie schön es sei, in die Heimat blicken zu können. Solche Töne waren mit der „Wende“ sehr schnell verstummt, und die Weimarer Shakespeare-Gesellschaft war so deutlich bereit für den Wandel, dass auf dem Weg zur Vereinigung fast keine personellen Probleme mehr auftauchten, die sich nicht bei aufrichtigem Verständigungswillen und etwas Kompromissbereitschaft lösen ließen.

Als ich wenige Monate nach der Wende nach dem Standort dieses ominösen Podests fragte, wurde ich nach unsicherem Zögern auf eine Ampel verwiesen, die mitten im geschäftigen Verkehr des Potsdamer Platzes nach allen Seiten blinkte und keine Spur mehr von der Mauer zeigte, die dort vor kurzem noch unmittelbar vorbei lief und die Stadt in zwei Teile zerschnitt. Bald war auch das allenfalls Gegenstand nostalgischer Erinnerungen.

Auch für einen großen Teil der inzwischen ja deutlich verjüngten Deutschen Shakespeare-Gesellschaft mit ihren heute um 1.800 Mitgliedern und im Jahr 2014 dem dritten Präsidenten, ist die Geschichte der Spaltung, der dreißig getrennten Jahre und der mühsam ins Werk gesetzten, freudig-feierlichen Wiedervereinigung eher eine historische Episode als ein wichtiger Teil deutscher Geschichte oder der persönlichen Biographie. Die neu vereinte Shakespeare-Gesellschaft wird wieder als eine traditionelle Vereinigung mit einem wissenschaftlichen und geselligen Angebot erfahren, wie es seit ihrer Gründung 1864 fast ein Jahrhundert lang, in guten und in schweren Zeiten, ihr Bestreben und ihre Aufgabe war. Die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung haben zu einer Konsolidierung im Geiste der Einmütigkeit geführt und, mit sich nach verschiedenen Seiten erweiterndem Programm, ermutigende Voraussetzungen für vorausschauendes Planen und Arbeiten geschaffen.

[1] See Shakespeare Survey, 22 (1969), 35-42.

[2] Vgl. meine Rezensionen von Robert Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters in Review of English Studies, 20 (1969), 220-2 und Arcadia, 4 (1969), 311-14.

[3] So erhielt ich seit der Spaltung der Gesellschaft im Jahr 1963 regelmäßig nicht nur alle Informationen und Einladungen zu den Shakespeare-Tagen, sondern auch die Jahrbücher, obwohl ich mehrmals jahrelang keinen Beitrag zahlte. Als es gelegentlich doch Lücken in der Zustellung gab, bat ich bei der Weimarer Geschäftsstelle um deren Auffüllung und erhielt von der damaligen Leiterin, Frau Ilsegret Raddatz, die ich später noch in Weimar kennen lernte, Anweisungen über die Zahlungsformalitäten. Anschließend wurden mir die fehlenden Mitgliedsausweise und Jahrbücher zugestellt.

[4] Vgl. Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West, Jahrbuch 1989, 409.Vgl. auch den Bericht von Hans Henning in ShJb, 125 (1989), 203-212:Darin wird auch auf die Anwesenheit von drei Vorstandsmitgliedern der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West, Reimund Borgmeier, Brigitte Marquardt, Dieter Mehl hingewiesen, mit dem Zusatz: „Unter Beachtung unterschiedlicher Auffassungen wird, dessen bin ich mir sicher, ein wissenschaftlicher Austausch unter unseren Gesellschaften andauern und ausgebaut werden.“ (S. 211).

[5] Siehe Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West, Jahrbuch 1989, 68-87.

[6] Dietmar Kanthak, „Zeitgeist zu Gast“, General-Anzeiger Bonn, 12.04.1990, 11.

[7] Ibid., 225.

[8] ShJb,128 (1992), 202.

[9] Vgl. dazu die teilweise etwas anders orientierte Darstellung von Silke Meyer, Checkpoint Shakespeare, S. 309-24.

[10] Ibid., S. 7.

[11] ShJb, 128(1992), 203.

[12] Ibid., 206.

[13]Leonard Goldstein, seit 1968 regelmäßiger Teilnehmer der_ zweijährlichen internationalen Konferenzen in Stratford-upon-Avon und der Weimarer Shakespearetage, gehörte zu den amerikanischen Gelehrten, die wegen angeblich kommunistischer Sympathien die USA verlassen mussten und sich nicht selten im östlichen Europa niederließen. Nach dem Fall der Mauer verließ er Berlin und lebte zuletzt in London, wo er im April 2012 starb. Cf. „Obituary“, Guardian, 19. April 2012.

[14] Vgl. Günther Klotz, „Die Shakespeare-Tage 1991 im Vereinigten Deutschland“, ShJb, 128(1992), 206-11. Vgl. auch meinen kurzen Bericht über diese Tagung, Deutsche Shakespeare Gesellschaft. Jahrbuch 1992, 986-8.

[15] Vgl. auch Robert Weimann, „Günther Klotz zum 65. Geburtstag“, ShJb, 127 (1991), 212. Gerne erinnere ich mich an die Jahre der harmonischen Zusammenarbeit von 1986 an bis zu seinem Tode 2001. Vgl. auch den Nachruf von Maik Hamburger, ShJb, 138(2002), 294-5.

[16] Undatierte „Notiz“ von RB (Raimund Borgmeier).

[17] Eigene Mitschrift.

[18] Vgl. Dietmar Kanthak, „In Wien dampft die Verderbnis. Internationale Tagung der Shakespeare-Gesellschaft West in der österreichischen Hauptstadt“, General-Anzeiger Bonn, 18./19. 4. 1992, XIV.

[19] Cf. Jahrbuch 1993, 308 und 317. Zu den Shakespeare-Tagen 1988 in Weimar hatten sich, wie der Rechenschaftsbericht von Hans Henning feststellt, „rund 1300 Teilnehmer, Mitglieder und Gäste“ eingefunden, ShJb, 125 (1989), 205.

[20] Ergebnisprotokoll (R. Borgmeier).

Dies ist eine überarbeitete Version eines Vortrags, der am 10. Januar 2013 im Studienzentrum der Herzogin Anna-Amalia Bibliothek in Weimar gehalten wurde. Vgl. auch Dieter Mehl, Eine historische Episode: Die Wiedervereinigung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Persönliche Erinnerungen. Studien zur englischen Literatur, 26 (Münster, 2013).

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz