Lernt, gut zu lesen!

Über den enormen Wert einer überflüssigen Nietzsche-Edition

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind keine kleinen Begriffe, mit denen man im Hause Steidl seit geraumer Zeit eine Revolution plant: Ein neuer Friedrich Nietzsche soll her. Und zwar nicht irgendeiner, sondern der wahre, unverfälschte, echte Nietzsche. Nietzsches Nietzsche sozusagen, wie der Verlag selbst verlauten lässt. Einfacher ausgedrückt: Der Nietzsche letzter Hand, ohne den Nachlass, ohne Fragmente, ohne Vermischungen, nur die jeweils letzten gedruckten Ausgaben der zwischen 1867 und 1889 publizierten Schriften nebst faksimilierter Reinschriften. Und das nicht nur philologisch gründlich (für die Forschung) sondern auch noch ästhetisch ansprechend (für alle). Zwei kleine Bücher, 2012 und 2013 erschienen, sollen – so muss man es wohl sagen – die so neugierige wie skeptische Leserschaft auf den Umsturz vorbereiten. Was ist also dran am nietzschigsten Nietzsche aller Zeiten?

Schon im Frühjahr 2012 entließ der L.S.D. Verlag – die Lagerfeld. Steidl. Druckerei. – eine Ankündigung in die Welt, derzufolge Rüdiger Schmidt-Grépály 2013 „Nietzsches Nietzsche. Werke letzter Hand“ herausgeben würde. Schmidt-Grépály, der 1999 in Weimar das Kolleg Friedrich Nietzsche gründete (und es bis heute leitet), darf man eine solche Aufgabe getrost zutrauen; nach seiner Promotion wirkte er einige Zeit bei Mazzino Montinari an der Nietzsche-Edition mit, ehe er verschiedene Lehraufträge übernahm und schließlich zur Klassik Stiftung Weimar kam. Er kennt sich mit seinem Hausphilosophen aus und weiß – so viel sei an dieser Stelle einfach unterstellt –, was er tut.

Und das ist wahrlich keine Kleinigkeit. Neunzehn Bände soll die Edition umfassen, beginnend mit der „Geburt der Tragödie“, endend mit den „Dionysosdithyramben“; hinzukommen sollen drei Supplementbände und ein Kommentarband. Und jeder der neunzehn Hauptbände erscheint nicht nur als Nachdruck der letzten autorisierten Ausgabe, sondern obendrein auch noch als Faksimile der Reinschrift, die Nietzsche dem Verleger übermittelte. Laut Verlagsangaben möglichst auf dem Papier, dass der Mann selbst benutzte. Ein bibliophiler Schatz, der durchaus seinen Reiz hat. Aber hat er auch seinen Nutzen?

Über das Editionsprojekt informiert seit letztem Jahr der kleine Band „Zur Rückkehr des Autors. Gespräche über das Werk Friedrich Nietzsches“. Er versammelt vier Interviews, drei davon führte Schmidt-Grépály mit Peter Sloterdijk, Renate Reschke und Bazon Brock. Ein einleitendes Gespräch mit Schmidt-Grépály wurde von Johannes Korngiebel geführt. In ihnen geht es nicht nur um Nietzsche als Philosophen, Bildungstheoretiker und – vor allem – Autor, sondern auch und gerade um die geplante Edition. Dort erfährt man, dass es dem Herausgeber zunächst darauf ankommt, „den Ecce homo, der gewissermaßen Nietzsches philosophisch-literarisches Testament ist, zu vollstrecken. Nietzsche ernst zu nehmen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem man respektiert, dass es Schriften gibt, die er veröffentlichen wollte, und andere, die er zurückhielt.“ Rasch kristallisiert sich aber auch ein kleiner Feldzug gegen Roland Barthes, Michel Foucault & Co. heraus, indem Schmidt-Grépály die Edition als Gelegenheit preist, neu über Autor und Autorschaft nachzudenken – jene Franzosen waren es schließlich, die Nietzsche nutzten, um ihre Todesanzeige des Autors zu signieren. „Ecce Homo“ wird ihm dabei zur Garantie eines geschlossenen, autorisierten Werks, das sich trotz vielfältiger Formen und Gedanken in der Person des Autors als eine Einheit denken lässt. Das ist eine theoretische Kampfansage in wenig umkämpften Zeiten, aber immerhin eine große Geste.

Man könnte sicher trefflich darüber streiten, ob „Ecce Homo“ als konstituierende Größe taugt oder nicht. Auch ließe sich alles Für und Wider einer Edition letzter Hand auf die geplante Neuausgabe übertragen. Letzten Endes ist die Entscheidung für die jeweilige letzte Fassung aber nur Mittel zum Zweck: das Werk als geschlossene Größe zu präsentieren. Als Größe, die von einem Individuum in einer genau bestimmten Form hinterlassen wurde. Mehr als einmal betont Schmidt-Grépály in den Gesprächen, wie sehr Nietzsche kurz vor seinem Zusammenbruch darum bemüht gewesen sei, „sein Werk zu runden, abzuschließen und Bilanz zu ziehen.“ Diese Rundung soll sichtbar gemacht werden, indem alle editorischen Eingriffe unterbleiben. So, wie den typografischen Vorstellungen Nietzsches nachgespürt werden soll, soll auch seinem Bild des eigenen Œuvres entsprochen werden.

Die Frage, ob sich bei Nietzsche ein solches Werk findet, ja, was überhaupt ein solches Werk ist und ob es so etwas geben kann oder nicht, wird hier zunächst einmal ausgehebelt: Das Werk wird publiziert, und hinterher kann man darüber streiten, ob es auch wirklich da ist.

Im Gespräch mit Schmidt-Grépály zweifelt Renate Reschke am Nutzen der neuen Edition für die Wissenschaft. Der Herausgeber kontert, dass in seiner Ausgabe erstmals klar ersichtlich sei, was Nietzsche seinem Publikum habe sagen wollen und was nicht (etwa der vierte Teil des „Zarathustra“). Das ist ein eher schwaches Argument: Ein informierter Leser – und einen solchen darf man im akademischen Umfeld wohl voraussetzen – dürfte die Editionsgeschichte kennen und die posthumen Veröffentlichungen und Eingriffe immer dann umgehen können, wenn er sie umgehen muss. Aber damit ist das Projekt noch lange nicht überflüssig. Sein Nutzen liegt an ganz anderer Stelle, nämlich in seiner unverfrorenen Wuchtigkeit.

Man mag es, nachsichtig, Betriebsblindheit nennen, oder, etwas bösartiger, Ignoranz. Aber wer mit aufmerksamem Blick nicht nur geisteswissenschaftliche Publikationen, sondern auch deren Gegenstände liest, der kommt nicht umhin, gelegentlich den Kopf zu schütteln: Allzu festgefahren sind manche Interpretationslinien, allzu routiniert wird über entscheidende Worte hinweggesehen, allzu häufig wird bloß wiedergekäut. Gegen diese zwangsläufig auftretenden Erscheinungen lässt sich oft nur wenig unternehmen: Eine hellsichtige Studie, die manchen eingetrübten Blick aufpoliert, kann im Einzelfall vielleicht Gehör finden, prinzipiell aber wenig bewirken. Anders steht es da mit einem Großprojekt wie dieser Edition: Hier wird – und ist das nicht ganz im Sinne des Autors, dem sie sich widmet? – eine Radikalkur vorbereitet, die für sich beansprucht, mit Wucht auf einen Missstand hinzuweisen und ein Gegenmittel zu liefern. So überflüssig sie für das täglich Brot des Nietzsche-Forschers sein mag, so wichtig ist sie für das Denken über die akademische Grundhaltung. Nimmt man das Projekt ernst, entfaltet sich ein ungeheures Potential, nicht nur hinsichtlich der vom Herausgeber selbst gestellten Fragen nach Autorschaft und Werk, sondern auch und gerade hinsichtlich der akademischen Routinen. Warum nicht eine Edition letzter Hand herausgeben, vollkommen ohne den Nachlass auskommen, und damit dafür plädieren, dass Werk und Autor keine Konstruktionen sind, sondern echte Größen, die zu berücksichtigen sind? Warum sich nicht vom Schwung eines solchen Vorhabens mitreißen lassen, um wieder gründlicher, aufmerksamer zu lesen?

Genau das, dieses aufmerksame, gründliche, philologische Lesen ist es doch, was Nietzsche selbst gefordert hat. „Lernt mich gut lesen!“, die 2012 erschienene Nietzsche-Anthologie, die den ersten Schritt zur Edition bildet, versammelt jene Vorreden, Kapitel, Aphorismen, in denen Nietzsche über Bücher im Allgemeinen und seine Bücher im Besonderen, über richtige und falsche Leser, gute und schlechte Autoren spricht, und die Quintessenz all dieser Aussagen ist: ,Lest langsam, lest gründlich und glaubt nicht zu rasch, verstanden zu haben.‘ (Und natürlich: ,Meine Werke sind besser als eure.‘) Was spricht dagegen, diese Aufforderung nicht nur Nietzsche gegenüber ernst zu nehmen, sondern sie allen Texten gegenüber an den Tag zu legen? In der Fülle der Publikationen findet sich so viel Flüchtigkeit, dass eine viel tiefgehendere Form der Gründlichkeit durchaus angebracht erscheint. Und wenn man auf all dies durch ein einzelnes Publikationsprojekt gestoßen wird, dann ist das äußerst begrüßenswert.

In diesem Sinne ist die geplante neue Edition hochwillkommen und wertvoll. Und in diesem Sinne verdienen die beiden kleinen Bände, sowohl die Anthologie als auch die Gespräche, eine gründliche Lektüre. Um sich – auch das ist ein nicht kleines Verdienst all jenen gegenüber, die Nietzsche (darin so oft Hermann Hesse nicht unähnlich) seit ihrer Jugend nicht mehr angerührt haben – neu für diesen Denker begeistern zu lassen. Und vor allem, um sich neu zu fokussieren. Was Nietzsche vor gut 130 Jahren von seinen Lesern forderte, darf schließlich auch heute noch verlangt werden: Lernt, gut zu lesen!

Titelbild

Rüdiger Schmidt-Grépály (Hg.): Friedrich Nietzsche. Lernt mich gut lesen!
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
210 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869305196

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Titelbild

Rüdiger Schmidt-Grépály: Zur Rückkehr des Autors. Gespräche über das Werk Friedrich Nietzsches.
Gespräche mit Peter Sloterdijk, Bazon Brock und Renate Reschke.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
125 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306261

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