Die Autorin als ‚role model‘

Veronika Hofeneders Untersuchung wirft ein helles Licht auf Leben und Werk von Gina Kaus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Veronika Hofeneder dürfte vermutlich die beste Kennerin des Werkes von Gina Kaus sein, wie man sich nun anhand ihrer Studie „Der produktive Kosmos der Gina Kaus“ überzeugen kann, die gemeinsam mit dem von Hofeneder herausgegebenen Sammelband mit „Kleiner Prosa“ der Autorin der Weimarer Republik 2013 im Hildesheimer Olms Verlag erschien.

Ausweislich des Untertitels ihrer Studie stellt die Literaturwissenschaftlerin Kaus als Schriftstellerin, Pädagogin und Revolutionärin vor. Hofeneder möchte eine „Gesamtschau auf [das] breitgefächerte Schaffen“ der 1893 geborenen Autorin bieten, welche die vielfältige „Diversität von Kaus’ Schaffen“ deutlich werden lässt. Diesen Anspruch zu erfüllen, gelingt ihr, indem sie den Inhalt zahlreicher kleinerer und größere literarischer Texte sowie Essays und theoretischer Arbeiten in aller Kürze wiedergibt und erstere zudem nicht selten vor dem Hintergrund letzterer interpretiert. Und noch etwas anderes wird sehr schnell deutlich, nämlich wie sehr Hofeneder diese „höchst produktive und vielseitig interessierte Schriftstellerin, die die Debatten um weibliche Kreativität und Literaturproduktion maßgeblich belebte und vorantrieb“, schätzt. Tatsächlich haben in Kaus’ „produktivem Kosmos“, Dramen, Novellen, Kurzgeschichten, Romane, Drehbücher und Übersetzungsarbeiten ebenso Raum wie Essays, feuilletonistische, aber auch kulturwissenschaftliche, pädagogische und psychologische Texte.

Hofeneder gliedert das Buch in acht Kapitel, denen eine Einleitung vorangeht und denen sich eine umfangreiche Bibliografie anschließt. Die Autorin beginnt mit den „Biographische[n] Voraussetzungen“ für Kaus’ Schaffen. Sodann wendet sie sich den „poetologische[n] Konzeptionen“ der Literatin zu, der von ihr vertretenen „Individualpsychologie“ sowie ihrer „Pädagogik und Kinderpsychologie“. Den Kapiteln zu den Wissenschaften folgen Abschnitte, in denen Hofeneder Kaus’ Haltung zu „Rechtsfragen und Revolution, Geschäfte und Gesellschaftskritik“, „Liebe und Ehe“ und schließlich „Geschlechterrolle und Frauenfrage“ beleuchtet.

Hofeneder beklagt eingangs, Kaus’ „zugegebenermaßen aufregendes Leben“ habe „ihr literarästhetisch anspruchsvolles Schaffen überschattet“, meint aber vermutlich eher, es habe in Kaus’ letzten Lebensjahren und vor allem nach Kaus Tod 1895 lange Zeit die Rezeption ihres Schaffens überschattet. Denn ein Schatten auf ihr literarisches Schaffen warf ihr Leben wohl kaum. Zudem litt die Rezeption ihrer literarischen Werke von Beginn an durch ein „Rezeptionsmissverständnis“ ihres frühen Werkes „Die Verliebten“, das – wie dann auch alle folgenden – „unter die Unterhaltungsliteratur subsumiert wurde[…]“, was Kaus allerdings „letztendlich gelassen“ zur Kenntnis nahm. Denn ihr Schreiben galt als bloße „Erwerbstätigkeit, mit deren Hilfe sie ihre Familie als Alleinverdienerin unterhalten kann und muss“. Eine Notwendigkeit und eine Haltung, die sie mit Franziska zu Reventlow teilte.

Mehr als nur überschattet wurde nicht nur die Rezeption von Kaus’ Schaffen, sondern ihr Schaffen selbst durch die Zeitumstände, genauer gesagt die Tyrannei der Nazis. Denn wenn Hofeneder nicht zu Unrecht anmerkt, Alfred Adlers Individualpsychologie habe „Leben und Werk maßgeblich beeinfluss[t]“, so trifft dies auf den Nationalsozialismus sicher nicht weniger zu. Jener allerdings in positivem, dieser in denkbar negativstem Sinne. Denn „mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland“ werden Kaus‘ Schriften verboten und sie selbst muss ins Exil. Als Verbotskriterien nennt Hofeneder „Kaus’ jüdische Herkunft“, „ihre Publikationen in sozialistischen und kommunistischen Zeitschriften“, „ihre individualpsychologische Tätigkeit sowie die Kategorisierung ihrer Literatur als ‚Dekadent‘“. Die bis dahin äußerst produktive Schriftstellerin verstummte im Exil weitgehend und fand ihre literarische Stimme nie mehr wieder, verlor sie doch die Verbindung zur deutschen Muttersprache, während ihr das Englische stets fremd blieb. Zu fremd jedenfalls, um sie ihre Feder mit der gewohnten Gewandtheit führen zu lassen, sodass Kaus ihrem eigenen literarisch-ästhetischen Anspruch nicht mehr genügte und sie sie aus der Hand legte.

Immerhin wurde sie in Hollywood als Film-Autorin tätig. Doch darüber hinaus brachte sie in dem ihr nach der Vertreibung verbleibenden halben Jahrhundert kaum mehr als ihre Autobiografie zu Papier – von einigen kleineren Arbeiten einmal abgesehen. An ihren nicht sehr umfangreichen Lebenserinnerungen arbeitete sie geplagt von „konzeptionellen und sprachlichen Unsicherheiten“ sowie dem „Verlust ihrer Ausdrucksfähigkeit“ nicht weniger als anderthalb Jahrzehnte. „Ich bin eine richtig unbegabte Frau geworden“, klagt sie in einem von der Autorin zitierten Brief, den sie 1972 an Albrecht Joseph schrieb. Fraglich ist auch, ob es ihrer Autobiografie gut tat, dass sie Robert Neumanns Rat folgte, sich dort nicht als „intellektuelle Schriftstellerin“ sondern als „femme fatale“ zu „inszenieren“.

Angesichts Kaus’ fast geringschätziger, zumindest aber sehr pragmatischer Haltung gegenüber ihrem literarischem Schaffen überrascht ihre zumindest in Teilen doch recht dezidierte poetologische Konzeption, die, wie Hofeneder zeigt, „weitgehend mit de[n] zeitgleich propagierten Diskursen der Neuen Sachlichkeit korreliert“ und „in Bezug auf Mädchenbücher“ sogar „sehr konkrete poetologische Forderungen“ stellt. „Die Abgrenzung einer eigenen Mädchenliteratur gegenüber einer für Knaben“ verwarf Kaus als „obsolet“. Vielmehr sollte ihre Lektüre die Mädchen „auf das wirkliche Leben vorbereiten“, wobei es vor allem wichtig sei, „Autorinnen und Autoren verschiedener politischer Couleurs zu lesen“, um sich „aus dem angebotenen Wirklichkeitsmaterial ihr eigenes Weltbild zimmern“ zu können. Kaus stellt Hofeneder zufolge allerdings nicht allein die Mädchen, sondern überhaupt die Kinder ins Zentrum all ihrer Tätigkeiten. Denn Kaus schrieb „nicht nur theoretische Artikel über Pädagogik und Kinderpsychologie, sondern behandelt auch in vielen ihrer literarischen Texte pädagogische Themen, macht Kinder zu Protagonisten ihrer Geschichten und beschreibt das Geschehen aus deren Perspektive“.

Ihre vielfältigen Aktivitäten entwickelte Kaus vor allem zur Zeit der Weimarer Republik, in deren Jahren sie nicht nur fast alle ihre fiktionalen, wissenschaftlichen und feuilletonistischen Texte schrieb, sondern auch die allerdings recht kurzlebige Zeitschrift „Die Mutter“, für die sie nicht nur die eine oder andere namhafte Autorin gewann, sondern selbst einige Texte zur kindlichen Entwicklungspsychologie und zu Erziehungsfragen beisteuerte. Zudem war sie in einer an Alfred Adlers Individualpsychologie orientierten Beratungsstelle für pädagogische Probleme tätig. Auch in ihr literarisches Schaffen fanden ihre Kenntnisse der Lehren Adlers Eingang. So gilt Hofeneder Kaus’ Roman „Der Teufel nebenan“ als „Psychodrama wie aus einem individualpsychologischen Lehrbuch“.

Ebenfalls häufig beschäftigte Kaus sich mit Fragen der Frauenemanzipation und der Geschlechterbeziehung, wobei sie sich insbesondere mit der Ehe befasste. Nicht etwa in der (weiblichen) Biologie, sondern „in den seit vielen Jahrhunderten und nach wie vor herrschenden maskulinen Denkmustern und Gesellschaftsstrukturen“ sah Kaus das „Haupthindernis einer umfassenden Emanzipation der Frauen“. So „kämpfte“ Kaus „zeitlebens gegen die Minderbewertung von Frauen an“ – auch indem sie mit ihrer „eigene[n] erfolgreiche[n] Karriere als Neue Frau, die emanzipiert und selbständig ihr Leben meistert“ ein role model für ihre Geschlechtsgenossinnen bot. Zugleich aber stand sie dem „zum Teil durch männliche Vorstellungen geprägte[n] Konstrukt“ der Neuen Frau aus guten Gründen kritisch gegenüber, „drohte“ ihr doch die „erneute Vereinnahmung durch den Patriarchalismus sowie die Gefahr der Stagnation für weiteres notwendiges Reformpotential“.

„Kritisch, zuweilen nachgerade skeptisch“ war auch ihre Haltung zur Frauenbewegung ihrer Zeit. „Dem allzu offensiven Kampf für die Gleichstellung der Frauen gegenüber“ sei sie „reserviert eingestellt“ gewesen, meint Hofeneder und schlägt sich mit dieser Formulierung unter der Hand auf die Seite ihrer Protagonistin. Andererseits aber merkt sie kritisch an: „Die Festlegung des weiblichen Potentials auf eine diffuse ‚Macht‘ über die Männer ist Kaus ernüchternde – und erstaunlich reaktionäre – Bilanz über das entzauberte Verhältnis der Geschlechter in der Zwischenkriegszeit.“

Was nun die „[e]heliche Treue und den Umgang mit ihr“ betrifft, so betrachtete Kaus sie der Autorin zufolge „durchaus pragmatisch“. Allerdings, so referiert Hofeneder Kaus’ Haltung, beharrte sie darauf, dass „männliche und weibliche Untreue anhand derselben Kriterien beurteilt werden.“ Ungeachtet der ‚moralischen Laxheit‘ in Sachen Treue rückte Kaus „von der Sinnhaftigkeit und kulturellen Bedeutung der Ehe an sich“ keineswegs ab. „Die Darstellung der außerehelichen Affären, die der neusachlichen Beziehungsrealität entsprechen, dient bei ihr letztendlich der Bestätigung der Institution Ehe.“ Eine Behauptung Hofeneders, die sich anhand der Lektüre von Kaus’ Roman „Morgen um neun“ ohne Weiteres verifizieren lässt.

Hofeneder hat nicht nur die publizierten Werke der Autorin herangezogen, sondern kennt sich auch in den einschlägigen Archiven bestens aus. Daher ist es ihr gelungen, Leben und Werk von Gina Kaus dem Dunkel des Unbekannten zu einreißen, in dem es trotz einiger Publikationen ihrer wichtigsten Werke und der einen oder anderen Untersuchung noch immer verharrt. Der Blick darauf lohnt. Mehr noch, mit ihrer Studie hat Hofeneder ein Werk vorgelegt, an dem die an Leben und Werk Gina Kaus’ interessierte Forschung nicht vorbeikommen wird.

Titelbild

Veronika Hofeneder: Der produktive Kosmos der Gina Kaus. Schriftstellerin - Pädagogin - Revolutionärin.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2013.
331 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783487150604

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