Landschaftliche Genesen von Mensch und Wissen

Über Thomas Forrers „Schauplatz/Landschaft. Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750“

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf die seit Georg Simmel und Joachim Ritter immer noch virulente Frage, was ‚Landschaft‘ eigentlich sei, wie ihre Genese und ihr Verhältnis zum Subjekt zu bestimmen sind, gibt Thomas Forrers Dissertation „Schauplatz/Landschaft“ eine nicht nur in ihrer historischen Tiefendimension und größtenteils exquisiten Textarbeit lesenswerte Antwort. Für Forrer leitet sich die Landschaft, wie sie im 18. Jahrhundert die Bühne betrat, aus der theatralen Raumkonfiguration in ihrer schon antik-aristotelischen Konzeption ab. Das „Theater als Ereignisraum und konstitutiver Rest der Theoria hat in der modernen, ästhetischen Landschaft ein Nachleben gefunden“ – so fasst er eine der zentralen Thesen seiner Schrift zusammen.

Zur Stützung und Plausibilisierung dieser These wählt die umfangreiche Arbeit mehrere aufeinander bezogene An- und Einsätze. Aus einer Diskussion der Zusammenhänge von Sehen, ‚theoria‘ und Theater entwickelt Forrer im Rekurs auf Aristoteles’ „Poetik“ die Basis seiner These: Der Schauplatz, sei es der theatrale oder sein ‚Nachleben als Landschaft‘ im 18. Jahrhundert, ermögliche als Raum die Auseinandersetzung „zwischen den Instanzen des Sehenden und des Gesehenen“ wie auch die Übertretung des Sinnlichen. Gegen die Gefahr ahistorischer Arbeit sichert sich Forrer dabei überzeugend mit einer Begriffsgeschichte von ‚Schauplatz‘ und ‚Landschaft‘ ab, wobei er die Herkunft des ersten Begriffes vom Theater, des zweiten aus der Malerei konstatiert. Diese Spaltung von ‚Landschaft‘ und ‚Theatrum‘ behauptet denn auch nur Spuren, ein ‚Nachleben‘ des Schauplatzes in der ästhetischen Landschaft ab den 1750er-Jahren: Die Gleichsetzung von ‚Landschaft‘ und ‚Theatrum‘ gelinge nur noch uneigentlich, wie Forrer an Johann Christian Edelmanns „Selbstbiographie“ (1752) ausführt – Forrers akribische Begriffsarbeit in Ehren, angemerkt werden muss dennoch, dass noch (oder schon wieder?) in Wilhelm Heinses „Ardinghello“ von 1787 eine Landschaft ohne Weiteres als „Theater“ oder gar „prächtige[s] Theater“ bezeichnet wird.

Doch zurück zum Schauplatz: dieser sei nicht zu verstehen als Ort der (notwendigen) Genese ‚sicheren Wissens‘, vielmehr sei er erst einmal ein Ort der Sichtbarkeit, der Versammlung durchaus disparaten Materials, an welchem sich erst das Ereignis der Ordnung vollziehen müsse, wie Forrer im Hinblick auf die im 17. und frühen 18. Jahrhundert noch verbreiteten „Schauplatz“-Bücher darlegt: In diesen, wie in Georg Philipp Harsdörffers „Grossem Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte“ (1664), finde sich eine „Darbietungsweise[], die sich zwischen einer systematischen Disposition und der gänzlichen Dispersion der Dinge situiere[]: Felder der Konvenienz von (Quasi-)Heterogenitäten“. Von hier aus, aus dieser prekären Versammlung am Schauplatz, gelange man erst „zu einer Sprache über die Natur und zu ersten Begriffen von ihr“. In ebendiesem Sinne interpretiert Forrer auch den Beginn von Georges-Louis Leclerc de Buffons „Histoire naturelle“ in ihrer Beschreibung eines ungeordneten ‚vaste spectacle‘, das einen Ort der „Grenze und Möglichkeit der distinctio, dispositio und denominatio“ darstellt. Dass mit diesem para-theatralen Schauplatz nicht nur die Möglichkeit der Naturgeschichte, der Wissenschaft, auf dem Spiel steht, sondern mit dem Ereignis der (einsetzenden) Ordnung auch eine Genese des Subjekts als selbstbewusstes einhergeht, artikuliert Buffons Gedankenexperiment vom adamitischen Menschen, der mit seinem erwachenden Blick nicht nur die Welt, sondern ebenso sich selbst ‚entdeckt‘.

Forrer arbeitet diese Interdependenz detailliert heraus, und nimmt die Buffon’sche Urszene als Paradigma für seine weiteren Analysen. So findet sich das in der Naturgeschichte präsente ‚Muster‘ des Schauplatzes als Ort des Ereignisses einer (wechselseitigen und ‚plötzlichen‘) Genese ebenso bei Johann Georg Sulzer oder in Salomon Geßners „Idyllen“. Und selbst bezogen auf Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ entdeckt Forrer in jenem Feld, das die mannigfaltigen Formen der Natur, das „Vorstellungsmaterial im Gemüt vor jeder Zweckmäßigkeit“ umfasst, einen ‚Schauplatz‘, das heißt: eine „indirekte Darstellung eines Moments in der kantischen Philosophie, in dem die versammelten Vorstellungen des Gemüts keiner einschränkenden Wirkung durch die höheren Vermögen unterworfen sind“ und insofern „den eventuellen Ausgang zu einer geregelten Vermögenstätigkeit“ gestatten. Kurz, „[d]ie Bedingung der Zweckmäßigkeit wird sich im Zusammenspiel der Vermögen jedes Mal von Neuem eventuell vollzogen haben oder nicht“.

So weit, so überzeugend: Schauplätze – der Naturgeschichte, des Gemüts, der ästhetischen Erfahrung, des Subjekts – sind, wie Forrer bezogen auf die Landschaft formuliert, „Orte der ‚Ent-Scheidung‘, das heißt der Aufklärung: einer Genese, die den Verlust zu ihrer Bedingung hat und so das Moment eines unbedingten Anfangens für sich beansprucht“. Dem Aspekt der immer wieder einsetzenden ‚Genese‘ von Mensch und Kultur widmet sich Forrer nach einer Diskussion von Christian Cay Lorenz Hirschfelds „Theorie der Gartenkunst“ (1779-1785) in einem letzten, ausführlichen Kapitel am Beispiel (vor allem) der Idyllen Salomon Geßners und Ewald von Kleists. Dass die Idylle und ihre Landschaften zum dezidiert literarischen Prüfstein seiner These werden, ist nur folgerichtig, inszenieren doch ihre „Frühlings- und Morgenszenen, welche in den Idyllen-Dichtungen den Schauplatz eines allseitigen Erwachens zu erneutem Leben abgeben“ schon motivisch den aufklärerischen Impetus der „ursprünglichsten Wiedergewinnung“ der „Autonomie des Subjekts und seiner Vernunft“. In Forrers überzeugender Lesart erweist sich die vielgeschmähte Gattung der Idylle als „durchwegs aufklärerisch. Sie beschreib[t] philosophisch betrachtet einen Höhepunkt des Autonomiestrebens, weil in keiner Weise die Autonomie des Subjekts mehr gewährleistet werden kann, als wenn ihr Verlust in Kauf genommen und sie selbst aufs Spiel gesetzt wird. Unter einer solchen Voraussetzung kann sich eine Wiederaneignung nur an der Grenze des Subjektmöglichen ereignet haben“. Forrer nimmt Geßners „Idyllen“ so ernst wie nur wenige Germanisten der letzten Dekade – und das ist der Arbeit hoch anzurechnen. Akribisch werden die Texte analysiert; Raum und Zeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Gesang, Echo und Schrift bilden die Eckpunkte von Forrers Lektüren. Herausgearbeitet werden dabei sowohl das „Begehren nach einer Indifferenz von Kunst und Natur“ wie auch die Idylle als „Möglichkeit eines immanenten Wiederanfangens gegenüber Geschichte, Ratio und Zivilisation“. Die Analyse kreist um die Problematik eines solchen wiederholten Anfangens an einem unhaltbaren Schauplatz, am Ort des ersten ‚Schnitts‘ zwischen Subjekt und Welt: „Die ständige Rückkehr an die natürlichen Schauplätze, der ‚kleine Tod‘ im Entzücken über die Natur, die wiederholte Elevation zu Gesang, Gemeinschaft, Religion […], sie umschreiben in Geßners Idyllen eine unhaltbare Epoche zwischen Natur und Geschichte“.

Wenn Forrers Interpretationen und Textarbeit auch über weite Strecken überzeugen, so zeigen sich doch Probleme und Schwächen in Details und einer unzureichenden Kontextualisierung der Idylle in ihrer Gattungsgeschichte. Symptomatisch für letzteres ist vielleicht, dass Forrer wiederholt von „Theokrits Eklogen“ spricht – ein vermeidbarer, marginaler Fehler. Minder marginal ist die Rede von der „Schriftlosigkeit der Hirten“ in Geßners „Idyllen“: Die Hirten lesen durchaus, so beispielsweise in der Idylle „Mycon“ eine Grabinschrift, und ebenso sind sie der Schrift mächtig – mehr noch, die Einschreibung des Eigennamens in Baumrinde findet sich nicht nur in Geßners „Lycas und Milon“, sondern ist geradezu ein Topos der bukolischen Dichtung, von Vergils fünfter Ekloge über Torquato Tassos „Aminta“ und Shakespeares „As You Like It“ bis hin eben zu Geßner, der nicht nur in der erwähnten Idylle schreiben lässt, sondern in seinem Hirtenroman „Daphnis“ sogar einen Handlungsstrang um das Schreiben und Streichen von Namen spinnt. Letzteres verweist auf ein Desiderat: Zwar ist es richtig, dass Geßners „Idyllen“ „kaum je über einige Buchseiten hinausreichen“, jedoch gilt das offenkundig nicht für seine anderen idyllischen Texte, weder für die Patriarchade „Der Tod Abels“ noch für den Hirtenroman „Daphnis“. Hier wäre es interessant gewesen, das Problem der Handlungslosigkeit und den prekären Status der Narration auch im Hinblick auf diese längeren Texte zu diskutieren.

Mit der Schrift und dem Grabmal wird auch Forrers These vom „fehlenden Grabmale[]“ als Kennzeichen von Geßners „Idyllen“ zumindest problematisch; ob das „Zeichengeflecht des Hirten“, das „außerhalb eines Zeitalters der Repräsentation zu situieren“ ist, „einer ternären Zeichenlogik“ folgt und aus diesem Grunde die Repräsentation des Verstorbenen als „künstlich gehandeltes Zeichensystem“ keinen Teil der Schäferwelt bilden darf, bleibt fragwürdig. Zwar funktioniert in der idyllischen Welt die Erinnerung über eine ‚Einschreibung‘ in die (immer schon künstlich und künstlerisch verfasste) ‚Natur‘, die einen Raum der Ununterscheidbarkeit von Natur und Kultur eröffnet. Jedoch: Ist das zerfallene Grabmal des Adeligen – für Forrer Beleg für der Hirten Ablehnung der Repräsentation – aus der Idylle „Daphnis und Micon“ nicht ebenso als ‚locus horribilis‘ mit der Natur verbunden wie das Natur gewordene Denkmal von Daphnis’ Vater? Kann also überhaupt von einer Gegenüberstellung von Repräsentation und ternärem Zeichensystem gesprochen werden? Und umgekehrt: Ist in der Idylle „Palemon“ die Verwandlung des Greises in einen schattenspendenden Baum anders zu verstehen denn als Repräsentation seiner Tugend? Repräsentiert das Grabmal als ‚locus amoenus‘ in der Idylle „Mycon“ nicht Tugend und Sittsamkeit? Wäre es nicht auch möglich, davon zu sprechen, dass hier Repräsentation (mit Michel Foucault formuliert) zugleich „indication et apparaître“ ist – statt Geßners „Idyllen“ dem Denken der Ähnlichkeit zuzuschlagen?

Titelbild

Thomas Forrer: Schauplatz/Landschaft. Ort der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750.
Wallstein Verlag, Göttingen, Niedersachsen 2013.
472 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313439

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