Mit dem Wallaby und Shakespeare gegen das System

Der australische Literaturwissenschaftler Liam E. Semler setzt sich in seinem Großessay „Teaching Shakespeare and Marlowe“ mit den Möglichkeiten des Lehrens von Literatur nach Bologna auseinander

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man würde eine Weile suchen müssen, um in einem wissenschaftlichen Fachbuch eines deutschen Literaturwissenschaftlers eine Anekdote zu finden, die derart persönlich und nonkonformistisch ist, wie die folgende, mit der Liam Semler, australischer Literaturwissenschaftler, den Hauptteil seines Buches „Teaching Shakespeare and Marlowe“ beginnen lässt. Mit einem Freund nämlich war er 2006 auf einer Mountainbike-Tour durch den australischen Busch unterwegs, auf einem Pfad auf einer weiten Ebene, als er plötzlich aus dem Augenwinkel etwas auf sich zurasen sieht – und das nächste, woran er sich erinnert, ist sein auf dem Boden liegendes Fahrrad, er daneben, und ein davonhoppelndes Wallaby. Lebhaft ist ihm das weiche Fell des Tieres im Gedächtnis geblieben, das ihn da plötzlich überrannt hatte, und er freut sich fast ein bisschen, das Privileg gehabt zu haben, das so scheue Tier berührt zu haben. Dann kommt der Ärger: das Fahrrad kaputt, die Weiterfahrt wird schwierig – und die genervte Frage, warum das Wallaby denn ausgerechnet auf diesem Pfad habe hoppeln, gerade hier durch die Steppe habe hüpfen müssen. Das sei schließlich nicht natürlich, dass das Tier einen Pfad, der von Menschen benutzt werde, überquere.

Natürlich steht diese Episode nicht einfach so am Beginn der essayistischen Überlegungen Semlers. Er macht daran einen gedanklichen Kurzschluss deutlich: denn obwohl es ihm erst so vorkam, als habe das Wallaby ‚gegen das System‘ gehandelt und seine ‚natürliche‘ Sphäre verlassen, ist es tatsächlich genau andersherum. Selbstverständlich haben die Menschen das ‚natürliche‘ System des Wallabys verletzt, indem sie den Pfad ausgebaut und benutzt haben. Worum es Semler geht, ist zu zeigen, dass Systeme mitunter sehr natürlich erscheinen mögen, als quasi vorgegeben und unveränderlich – doch dass ein anderer Blickwinkel schnell deutlich macht, dass diese Systeme nur eine, mehr oder minder zufällige Möglichkeit sind, Dinge zu strukturieren. Gleiches gilt, so Semler weiter, für das Bildungssystem – was das eigentliche Thema seines Essays von etwa 120 Seiten Länge ist. „It is“, schreibt Semler über sein Buch, „about what it means to teach literature within large institutional structures such as schools and universities.“

Die Aussagekraft des Wallaby-Beispiels einmal außen vor gelassen, beginnt Semler damit, das akademische System Australiens zu skizzieren. Schnell wird deutlich, dass die Strukturen im Groben denen unserer Universitäten ähneln. „Educational institutions are increasingly driven by formal procedures that coercively standardize, itemize and instrumentalize teaching and learning“, stellt er fest und als eine Folge davon, dass „schools and universities worldwide have adopted a mode of professional teaching and learning that depends on micro-managerial business models“. Das äußert sich in vielerlei Hinsicht, und Semlers Buch beschreibt die daraus erwachsenden Folgen zwar aus seiner eigenen, australischen Lehrpraxis heraus, aber dennoch fühlt sich jeder in einem akademischen System beheimatete Literaturwissenschaftler nahezu sofort an die heimische Problemlage erinnert. Universitäten, die mittels Schwerpunktsetzung ‚Forschungsstrategien‘ und „strategic goals“ erarbeiten und so um Studierende werben, dabei aber oftmals mehr einem durchschnittlichen PR-Unternehmen, denn einer Bildungseinrichtung ähneln. Forscher, die dazu gezwungen sind, Drittmittel einzuwerben und möglichst attraktive Partner von außerhalb mit ins Boot zu holen, wobei attraktiv vor allem wirtschaftsnah und finanziell potent meint. Rankings, die Lehr- und Forschungserfolg abbilden sollen und dabei, so Semlers Meinung, wenig mehr als ein gemeinschaftlich gespieltes ‚game‘ sind, bei dem jeder Teilnehmer im Eigeninteresse so viel wie möglich schummelt. Studierende, die nur noch nach Credit Points studieren und zu diesem Zweck versuchen, möglichst viel Wissen aufzusaugen, und dabei das Denken vergessen, im ständigen Glauben, das System würde sie hauptsächlich für das Wiederkäuen von Gelerntem belohnen. Semler zeigt, wie daraus eine regelrechte Industrie erwachsen ist, an der Verlage und Lehrende gleichermaßen teilhaben. Studierende und Eltern investieren in private Tutoren und Bücher, um bei Ranking-Tests besser abzuschneiden, diese Bücher werden von spezialisierten Verlagen haargenau auf diese Tests zugeschnitten, während Tutoren möglichst genau auf die Tests vorbereiten – womit das Ranking mehr oder weniger zur Farce wird. Das Problem dabei liegt allerdings, so wird Semler nicht müde zu betonen, nicht bei den Protagonisten: selbstverständlich wollen Lehrer Gutes für ihre Schüler, Schüler möglichst gute Noten und so weiter – die besten Absichten also: „You could say its heart is in the right place – but it is a system heart.“

Die Frage ist also, wie systemische Strukturen und Lernen – wirkliches Lernen – zusammenzubringen sind. Denn wenn ein Bildungssystem die Zeit vor allem darauf verwendet, sich selbst zu erhalten, vernachlässigt es seine eigentliche Funktion, die es für die Gesellschaft haben sollte – und das gilt in Deutschland nicht weniger als in Australien. Es gilt vielleicht umso mehr für einen Sektor des Bildungssystems, der schon lange und aktuell verstärkt Legitimationsprobleme hat: die Geisteswissenschaften: „What´s our point again? Is it just reading books? What´s our contribution – in dollar terms please? And why do the usual rules not apply to us? You know, the ones where we all pay our way. Where disciplines give something back. You know, to be sustainable. We can´t always be carried by society, can we? No, of course, we all know that.” In der Ökonomisierung des Bildungssystems ist die Rolle der Geisteswissenschaften also besonders prekär, weil sie wesentlich weniger gut nach ökonomischen Regeln spielen können als die Wirtschafts- oder Naturwissenschaften. „Art galleries and book publishers, theatres and cultural festivals, state schools and community associations – basically all our friends are dead broke.“ Eine Lösung wäre also, sich neue Freunde zu suchen – in der deutschen akademischen Landschaft gibt es daher Literaturwissenschaftler, die beginnen, das Gemeinschaftsleben von Ameisen zu erforschen oder Kongresse zu Störfällen zu veranstalten und damit eine vermeintliche Relevanz der Disziplin nach außen zu behaupten. Semler fasst das folgendermaßen: „It is possible to teach Literary Studies and forget both literature and learning.“ Die Lösung allerdings kann das nicht sein, denn schneller, als indem man aufhört, sich mit seinem wissenschaftlichen Gegenstand zu beschäftigen, schafft man sich nicht ab.

Semler hat daher konkrete Schritte unternommen und zwei Projekte ins Leben gerufen, deren Beschreibung die zweite Hälfte des Buches gewidmet ist. Zum einen das Projekt ‚Ardenspace‘, eine Formulierung, die er Shakespeares As You Like It entnimmt. Ziel dieses Projekts, 2008 bis 2010, war die enge Zusammenarbeit seines Anglistik-Departments mit einer Privatschule – eine Privatschule deshalb, weil nur hier das Geld vorhanden war, mit dem Semler das Projekt dem System überhaupt ‚verkaufen‘ konnte, also einen finanziell ‚potenten‘ Partner vorweisen konnte. Zwei Jahre arbeiteten Lehrer mit Universitätsdozenten zusammen an Shakespeare-Texten. Lehrer studierten an der Universität Shakespeare – und keineswegs nur Englischlehrer, sondern alle, die Interesse daran zeigten. Dozenten gingen an die Schule und hielten Vorträge für Schüler, berieten fachlich bei Projekten und arbeiteten schließlich eng mit den dortigen Lehrern an einzelnen Texten zusammen, die dann unterrichtet wurden. Ziel war es, anhand von Stücken Shakespeares den Schülern verschiedene Dinge zu vermitteln. Historisches Wissen zum Hintergrund der Stücke und der elisabethanischen Zeit zum einen, praktisches Wissen über Konflikte, Handlungen und Handlungsrollen in sozialen Zusammenhängen zum anderen. Vor allem aber über die Bedeutung von Sprache. Die Schüler wurden angewiesen, sich mit einzelnen Shakespeare-Textstellen auseinanderzusetzen und sich deren konkrete Bedeutung in Form von Paraphrasen deutlich zu machen. Die Paraphrasen unterschieden sich dann in Wortwahl, Ausdruck, Stil und ähnlichem natürlich deutlich vom Originaltext – und plötzlich stellte sich die Frage, warum die Sprache hier so gewählt war, wie sie gewählt war. Semler argumentiert, dass dadurch bei den Schülern ein Bewusstsein von Sprache und für die Wirkungen von Sprache erst geschaffen worden sei, was späterhin zu einem viel bewussteren Umgang mit Texten geführt habe. Die Schüler nämlich hätten später in den ersten Studienjahren – die wenigsten hätten Literatur studiert – deutlich präziser und reflektierter Probleme und deren Lösungen diskutieren und zielführender miteinander arbeiten können und somit insgesamt einen besseren Zugang zum Studium gehabt. Ein zweiter Punkt sei gewesen, bei den Schülern und den Lehrern gleichermaßen ein Verständnis dafür zu wecken, dass Shakespeares Stücke mehr seien als rhetorische Figuren, die Zusammenfassung eines Plots und das Herausstellen einer ‚tieferen‘ Bedeutung – mehr also als das, was im klassischen Englischunterricht daraus gemacht wird. Die Stücke wurden gesprochen, in kleinen Projekten zur Aufführung gebracht, kurz: lebendiger gestaltet. Die Texte wurden mit Exkursionen – Bildungsreisen – zu relevanten Orten verknüpft.

Was Semler damit erreichen wollte war, abseits von wiederzugebendem Wissen, das zu vermitteln, was ihn ursprünglich zur Literatur getrieben hatte: Faszination und Liebe. „It is to love, not scorn, the world. We need to help potential students see us in the real game, rather than see us as sugar in the coffee of more practical degrees. We need to make sure our disciplines are multiply actualized in their reality. We need to learn new skills to enable their pursuit of their desire for us in their world. We need to be more imaginative in our self-perception and projection. We cannot always speak wistfully to the world. To do so is to demand that our students abstract themselves from their reality and abase themselves before friends and family to get us.” Der Punkt, den Semler hier macht, ist wohl zentral und vielleicht derjenige, der am vordringlichsten Beachtung fordert. Literatur als einen Wert an sich zu behaupten – „‘There´s no mend,‘ our voices crackle, ‚of aching books.‘“ ­– ist elitär und geht an der Realität vorbei. Dass Literatur Teil der Realität ist, muss auch die Literaturwissenschaft anerkennen – nur vielleicht zunächst nicht in der Form, wie man es gern hätte. Mangas, „Twilight“, „Shades of Grey“ und immer noch „Harry Potter“, das ist die literarische Realität. Serien, die Geschichten erzählen, und Filme, die auf längst vergessenen Romanen basieren, werden von großen Teilen der Bevölkerung tagtäglich konsumiert, finden aber in der Literaturwissenschaft noch immer wenig statt. Mit seinem ‚Ardenspace‘ konnte er bei Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein dafür wecken, dass auch im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert ein Bedürfnis nach solcher Unterhaltung vorhanden war und dass Shakespeare dieses Bedürfnis bediente. Er trägt dieser Analogie in seinem zweiten Projekt – ‚Learning Marlowe‘ – Rechnung, indem er in Seminaren einen anderen Zugang zu Marlowe wählt. Er vermittelt als Dozent kein statisches Wissen, sondern lässt die Studierenden anhand der Texte Marlowes erarbeiten, was sie an Wissen brauchen und verlangen. Auch hier ist der Impetus, Literatur nicht als etwas Statisches, was als Information zu vermitteln und dann als gelerntes Wissen abzufragen ist, zu begreifen, sondern als Möglichkeitsraum, in dem Denk- und Handlungsprozesse stattfinden, in dem Leben stattfindet. Die Beschäftigung mit Literatur wird in diesem Moment für die Studierenden zu einer Möglichkeit, innerhalb des Systems gegen das System zu handeln. Sich von dem Reflex freizumachen, gelernte Informationen über Marlowe wiederzugeben und dadurch Credit Points zu bekommen, und Phantasie und literarische Texte als einen Raum anzuerkennen, zu dem das System keinen direkten Zugang hat und in dem andere als die systemischen Regeln gelten. Semler sieht darin die Möglichkeit der Studierenden, mit sich selbst konfrontiert zu werden, und auch wenn dieser Punkt sicher kein neuer ist, hat er wahrscheinlich dennoch nach wie vor etwas für sich.

„Teaching Shakespeare and Marlowe“ ist demnach im Grunde auch kein Buch über Shakespeare und Marlowe im Speziellen, es ist vielmehr ein Plädoyer. Ein Plädoyer für die Besinnung der Literaturwissenschaft auf die Literatur und die vehemente Forderung, darüber nachzudenken, was mit Literatur als Literatur zu machen ist – unabhängig davon, was die Literatur als ‚Wissensspeicher‘ oder Diskursgeber oder dergleichen über etwas anderes aussagt. Shakespeares Texte sind für Semler der Ort, an dem paradigmatisch zu sehen ist, wie innerhalb des Systems und als Teil davon dennoch das System reflektiert und sein Funktionieren vor Augen gestellt werden kann. Die Beschäftigung mit ihnen ist der Ort, an dem junge Menschen sich selbst als systemisch bestimmt und gleichzeitig als frei begreifen können. So idealistisch und utopistisch seine Konzeption eines ‚learning versus the System‘ damit auch ist, so wichtig ist sie gleichzeitig als Forderung nach einer vehementen Verweigerung der Geisteswissenschaften, sich einer Ökonomisierung der Bildung zu ergeben. Man mag sagen, dass diese Klage schon so oft gehört und litaneiartig wiederholt worden ist, sich aber dennoch nichts geändert habe und sich letztlich die Literaturwissenschaft entweder anpassen oder untergehen müsse. Darauf lässt sich nur erwidern, dass die Anpassung zur Genüge versucht worden ist – der Weg also zur Abwechslung vielleicht Selbstbehauptung wäre, indem die Literatur offensiv als Literatur nach außen getragen und das System damit offensiv von der Seite getroffen wird. Wie das Wallaby in der Anekdote Semlers – und vielleicht freut sich auch in diesem Fall jemand über die unerwartete Begegnung mit einem so scheuen Geschöpf.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Liam E. Semler: Teaching Shakespeare and Marlowe. Learning versus the System.
Bloomsbury Publishing, London, New York 2013.
154 Seiten, 16,61 EUR.
ISBN-13: 9781408185025

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