Zwischen Irrenhaus und Paris?

Die moderne Poesie in der Schweiz nach Roger Perret

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuerst die Fakten zu Rogers Perrets Werk „Moderne Poesie in der Schweiz. Eine Anthologie“: ungefähr 600 Gedichte der letzten 113 Jahre von rund 250 Autorinnen und Autoren. Nicht alle waren oder sind Schweizer, doch haben sie alle einen Bezug zu diesem Land. Texte in den Landessprachen Deutsch (darunter in mehreren Dialekten), Französisch, Italienisch, Rätoromanisch (in verschiedenen Idiomen, selbst in Rumantsch Grischun), und sogar in Jiddisch, Englisch, Spanisch und Friaulisch – jeweils allesamt im Original und in deutscher Übersetzung. Außerdem ein überaus breites Verständnis von Dichtung, das auch Formen wie Prosagedicht, Songs und visuelle Poesie berücksichtigt.

Anthologien sind eine sehr subjektive Angelegenheit, und zwar für beide beteiligten Seiten: für die präsentierende und die rezipierende. Roger Perret ist selbstverständlich darum bemüht, im Anhang die von ihm getroffene Auswahl von Gedichten und Autoren zu erläutern und zu begründen. Die Kriterien werden also transparent gemacht – trotzdem soll hier nicht näher auf sie eingegangen werden. Besser man liest Perrets Überlegungen selber nach; man wird ihm dann zustimmen oder widersprechen. Perret hat im Titel der Anthologie auf den bestimmten Artikel verzichtet: „Moderne Poesie in der Schweiz“. Das ist vielleicht das deutlichste Signal dafür, dass es sich hier um seine Auswahl handelt. Der Herausgeber legt also, und zwar mit vollem Recht, eine gewisse Eigenwilligkeit an den Tag. Eine vergleichbare Subjektivität muss dann aber auch dem Rezensenten zugestanden werden.

Manches an Roger Perrets Großtat ist zu loben: Der Band ist aufwendig und gediegen gestaltet. Perrets Auswahl ermöglicht sowohl dem Laien wie dem Spezialisten Entdeckungen und Überraschungen. Mehr als 120 Gedichte wurden extra für die Anthologie übersetzt – Erwähnung verdienen etwa Christoph Ferbers gelungene Übertragungen aus dem Italienischen und Französischen. Manches Gedicht hätte ohne dieses Buchprojekt wohl nie ein deutsches Sprachgewand erhalten. Sehr schön lässt sich mitverfolgen, wie einzelne Gedichte untereinander in einen Dialog treten. Bisweilen bezieht sich ein Dichter bewusst auf den Text eines Schreibgenossen, dann wiederum erhalten die Gedichte durch ihre bloße Nachbarschaft einen zusätzlichen Resonanzraum. Hier und da verdichten sich bestimmte Themen (wie „Schnee“ oder „Reise“). Dann kann man die betroffenen Gedichte als Minizyklus oder gar als Minianthologie innerhalb des größeren Rahmens lesen.

Zu begrüßen ist im Weiteren die Präsenz zahlreicher Dialektgedichte, wobei der Bogen vom Walliserdeutschen (Bernadette Lerjen-Sarbach) über die Obwaldner Mundart (Julian Dillier) bis zum Solothurner Dialekt (Ernst Burren) gespannt wird. Selbst das Italienische ist mit Dialektproben vertreten – hingegen fehlen Beispiele des Patois aus der französischsprachigen Schweiz (gibt es die etwa gar nicht?). Erstaunlich viele Autorinnen und Autoren dichten gleich in zwei Sprachen. Andere haben einen Sprachwechsel vorgenommen – etwa die Kroatin Dragica Rajčić mit ihrem „Gastarbeiterdeutsch“. Am Wichtigsten ist an dieser Anthologie aber vielleicht das Folgende: Perret zeigt die Lyrik in der Schweiz als eine überaus vielseitige, weltoffene und experimentelle. Der Herausgeber wirft implizit auch Fragen zum Wesen der Poesie auf: Wo sind ihre Grenzen zu lokalisieren? Kann ein Einzeiler bereits als Gedicht bezeichnet werden?

Auch ein paar kritische Bemerkungen seien erlaubt: Vor allem zu Beginn irritiert die hohe Anzahl von Texten (sowie Collagen und experimentellen Werken) von Autorinnen und Autoren, die einen Teil ihres Lebens in der psychiatrischen Anstalt verbracht haben. In Anlehnung an Friedrich Dürrenmatt, der die Schweiz einmal als Gefängnis bezeichnet hat, fragt man sich hier unwillkürlich – und politisch nicht ganz korrekt –, ob denn die Schweiz ein Irrenhaus ist? Freilich, drückt sich hier gewiss auch das Bemühen des Herausgebers aus, die Anthologie mit seiner eigenen Handschrift zu versehen. Entdeckungen, auch abwegigere, sind selbstverständlich willkommen. Aber zuweilen besteht die Gefahr, dass sie zum Selbstzweck werden. Was die Auswahl der Autoren und Gedichte bei so einem Vorhaben betrifft, kann man immer und ausführlich darüber streiten. Auf den ersten Blick fällt auf, dass unter den Französischschreibenden Autoren Pierre Voélin und Alexandre Voisard fehlen, und mit letzterem damit auch die „politische“ Dichtung um den Jurakonflikt. Ohnehin ist die gesellschaftlich und politisch ausgerichtete Lyrik in dieser Anthologie weniger stark fassbar. Zahlreich vertreten sind auf jeden Fall die rätoromanisch und italienisch geschriebenen Gedichte. Bei letzteren konnte der Limmat Verlag allerdings auch auf die von ihm selbst verlegten zweisprachigen Ausgaben der letzten Jahre zurückgreifen.

Von manchen Autoren (Klaus Merz, Erika Burkart) hätte man sich mehr Gedichte gewünscht; bei anderen (Silja Walter) vielleicht andere. Die bereits erwähnte Zwiesprache zwischen benachbarten Gedichten hat ihren Reiz. Sie führt gelegentlich aber auch zu Häufungen: So fällt – wiederum vor allem auf den ersten Seiten des Bandes – der starke Bezug zu Paris auf – übrigens nicht nur bei den Französisch Schreibenden. Sollte hier Welthaltigkeit suggeriert werden? Das ebenfalls bereits thematisierte breite Poesieverständnis ist grundsätzlich erfrischend – bemerkenswert sind etwa die Prosagedichte von Gustave Roux –, doch ist für den persönlichen Geschmack des Rezensenten der Anteil an dadaistischen und experimentellen Texten sowie an Bildgedichten doch etwas zu groß. Aber über kaum etwas lässt sich so gut streiten wie über Anthologien, die Wahl der Autoren und Gedichte und ihre Anordnung. Letztendlich gibt es nur eines: Selber lesen!

Titelbild

Roger Perret (Hg.): Moderne Poesie in der Schweiz. Eine Anthologie.
Limmat Verlag, Zürich 2013.
640 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917264

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