Der Dicke auf der Grenze

Was Falstaff in den Historiendramen Shakespeares zu suchen hat

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Zuallererst ist Shakespeares Falstaff plump, grob und dick: „Now, Hal, what time of day is it, lad?“, so führt er sich ein in Shakespeares Dramenwelt, in der er in insgesamt vier Stücken auftaucht: den beiden Heinrich IV.-Historien (1596/97), den Lustigen Weibern von Windsor (1597) und schließlich – jedoch nur noch sterbend und in Erinnerung seiner einstigen Kumpanen – in Heinrich V. (1599). Falstaff ist ein Ritter mit Gefolge, der sich aber herzlich wenig um seine Aufgaben als Ritter kümmert. Vor allem ist er damit beschäftigt, zu trinken und – in den Merry Wives – Frauen nachzustellen, in grandioser Selbstüberschätzung davon überzeugt, dass diese ihm heimlich längst verfallen sind, während sie sich tatsächlich über den dicken Säufer lustig machen. Ähnlich ergeht es ihm in den Henry IV.-Stücken, vor allem im ersten Teil: von Hal, dem Prinzen und Thronfolger, wird er leicht spöttisch als Spaßvogel und Zechpartner benutzt, um dann regelrecht entsorgt zu werden, als es Zeit wird für den Prinzen, politische Verantwortung zu übernehmen. Eine spezifische Funktion hat Falstaff also zunächst eigentlich – zumindest in den Henry-Stücken – nicht. Er ist kein Held und kein Antiheld, keine tragische Figur und in seiner derben Komik vielleicht handlungstragend in der Komödie der Lustigen Weiber, jedoch eher deplatziert im Historiendrama. Er dient für Hal nur als Negativfolie, als etwas, von dem er sich trennen muss, um zur Macht gelangen zu können. Trotz dieser scheinbaren Funktionslosigkeit ist Falstaff nach Hamlet zur meistkommentierten Figur aus Shakespeares Dramen geworden – neben dem edlen, tragischen Helden Hamlet nimmt sich das fast wie ein Scherz aus. Der übergewichtige, trunksüchtige, laute Raufbold Falstaff steht fast ebenbürtig neben einer Figur, die wie kaum eine andere in der Literaturgeschichte den zweifelnden, verzweifelnden modernen Menschen repräsentiert und für den amerikanischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom paradigmatisch jene „Erfindung des Menschlichen“ („invention of the human“) verkörpert, die geleistet zu haben er Shakespeare zuschreibt. Diese Parallelsetzung zweier so unterschiedlicher Figuren – die Bloom auch selbst vornimmt, denn auch er rückt Falstaff in die Nähe Hamlets – erscheint geradezu grotesk. Und grotesk ist alles an ihm, diesem dicken Ritter.

Die spezifische Forschung zu Falstaff, die schon früh einsetzte – bereits 1777 erschien ein Buch, das ausschließlich der Untersuchung dieser Figur gewidmet war –, betonte dann auch zunächst das komische Potential des Ritters, das den Stücken einen höheren Unterhaltungswert beschere. Grob gesprochen war das der Tenor, den die Forschung bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein anschlug: Falstaff als komischer Dicker, der jedoch in seiner Lasterhaftigkeit durchweg zu verurteilen und zudem ein Feigling sei (exemplarisch für diese Deutung steht  beispielsweise The Fortunes of Falstaff von John Dover Wilson von 1943). Erst mit Cesar L. Barbers einflussreichem und noch immer sehr empfehlenswerten Buch Shakespeare´s Festive Comedy von 1959 kündigte sich ein kleiner Paradigmenwechsel an, der dann im Zuge der poststrukturalistischen Bachtin-Rezeption und der Aufwertung der Volks- und Karnevalskultur zur vollen Entfaltung kam. Freilich kamen dabei die wenigsten Interpreten – trotz aller (oder gerade wegen?) theoretischen Elaboriertheit der Ansätze – über die grundlegenden Einsichten Barbers hinaus. Falstaff erschien nämlich hier als ein zentrales und wichtiges Gegenkonzept zur Sphäre der Politik, als eine Figur, die das aus der Machtsphäre Ausgeschlossene repräsentierte und somit durchaus als strukturell bedeutsam für Hals Aufstieg zur Macht erschien. Und das, obwohl der groteske Dicke doch, in den Worten Hals, ein „villainous abominable misleader of youth“ sei (eine Ansicht, die selbst Interpreten wie Mark Lawhorn 2000 noch kolportierten, wenn sie Falstaff zum Symbol der „Early Modern Youth at Risk“ ausriefen). Es bleibt also die Frage, was dieser Dicke dort zu suchen hat, wo in den Historiendramen große Politik gemacht wird, Könige, Prinzen und Rebellen auftauchen, Rede in Versen stattfindet, wo nicht zuletzt die Zukunft der Nation entschieden wird. Warum also taucht gerade hier dieser Falstaff auf, der, außer aufgrund mächtiger Leibesfülle, mit Macht nicht viel zu tun hat und haben will?

I

Zunächst einmal muss man sagen, dass Falstaff herausfordert, nämlich die Fähigkeit von Lesern und Interpreten zu einer klaren Kategorisierung und Einteilung der Figur. Der kurze Abriss von Forschungspositionen mag das schon deutlich gemacht haben. Der renommierte Shakespeare-Forscher Humphreys brachte es auf die Formel: „Falstaff´s a rogue, yet he warms the heart.“ Die Ambivalenz bei der Beurteilung der Figur zeigt sich nicht zuletzt in Episoden wie der, als der Ritter sich im Kampf mit Douglas im fünften Akt von Henry IV, Part 1 plötzlich totstellt, anstatt entweder heldenhaft zu kämpfen (und zu sterben – denn er ist eindeutig unterlegen) oder einfach davonzulaufen. Ersteres wäre dem Helden, letzteres dem Feigling würdig – Falstaff positioniert sich genau dazwischen, ja genau auf der Grenze zwischen Held und Feigling. Und bleibt am Leben. Damit gelingt ihm also etwas Erstaunliches: er konfrontiert uns mit der Frage danach, was eigentlich ‚heldenhaft‘ ist, was ‚Mut‘ im Krieg, im Zweikampf bedeutet. In der Geschichte ist diese Frage recht eindeutig beantwortet: Helden sind die, die siegen oder aber dem Tod ins Auge blickend auf dem Schlachtfeld sterben. Falstaff hätte nicht viel davon, wenn er für seinen Freund Hal gestorben und als Held verehrt worden wäre. Er hat mehr davon, noch zwanzig Jahre Damen nachstellen und sich in Gesellschaft seiner Freunde das ein oder andere Bier gönnen zu können. Held ist für ihn eine Kategorie, mit der er nichts anfangen kann, sie gehört der Sphäre der Macht zu, die er etwas steif und anstrengend findet. Falstaff formuliert das in seiner berühmt gewordenen honour-Rede: „Can honour set to a leg? No. Or an arm? No. Or take away the grief of a wound? No. […] What is honour? A word.” (Henry IV, Part 1, Akt V, Szene 1). Etwas scheinbar natürliches, einen für Selbstverständnis und Berufsethos des Rittertums ganz entscheidenden Wert – die Ehre – entlarvt er damit als bloße Rhetorik, als Worthülse. Ganz ähnlich geht er bei der Aushebung von Truppen für den Krieg vor: während er im ersten Teil einen zerlumpten, schwächlichen Haufen von Soldaten anwirbt anstatt eine schlagfähige Truppe (Henry IV, 1. Teil, IV,2), entlässt er im zweiten Teil die gerade angeworbenen Söldner kurzerhand wieder (Henry IV, 2. Teil, III,2) – ein Handeln, das jeglicher politischer Vernunft zuwiderläuft und damit aber gleichzeitig in Frage stellt, was politische Vernunft, kriegerisch-rationales Handeln oder dergleichen eigentlich ist. Nur durch diese Umkehrung des Normalen, durch die absolute Sinnwidrigkeit von Falstaffs Handlungen werden wir damit konfrontiert, uns fragen zu müssen, warum wir das eine als vernünftig, das andere jedoch als unvernünftig bewerten. Die ‚Regeln‘ oder scheinbar natürlichen Gesetze, nach denen Historiendramen also normalerweise funktionieren, werden in der Falstaff-Figur thematisiert, in Frage gestellt und letztlich ad absurdum geführt. Henry IV ist damit nicht nur ein Historiendrama, es reflektiert durch Falstaff gleichsam die Gattungskonventionen des Historiendramas und stellt darüber hinaus auch die politischen Konventionen in Frage.

II

Falstaff bringt damit eine Art von zweiter Ebene in den Text und auf die Bühne, die immer über seinen bloß präsenten Leib hinausgeht. Daraus ergibt sich, dass die Falstaff-Figur auch deshalb so einzigartig ist, weil man sie immer sehen und lesen muss – Falstaff war niemals eine reine Bühnen- oder eine reine Textfigur. Denn genauso wie er politische Vernunft in Frage stellt, spielt er mit sprachlicher Rationalität. Zum einen im Hinblick auf Zitate. Nicht nur, dass er, wie die Forschung in akribischer Detailarbeit festgestellt hat, zahlreiche Bibel-Zitate verwendet, diese aber gerade verkehrt benutzt (er „kehrt […] das Neue Testament um“, hat Harold Bloom geschrieben), nein, darüber hinaus legt Shakespeare sie ihm zudem aus der als subversiv geltenden Genfer Bibel in den Mund, anstatt, wie sonst, aus der gängigen Bishop-Bible. Zum anderen im Hinblick auf die Wortbedeutung selbst, mit der Falstaff nach Belieben spielt und damit eine sprachliche Überlegenheit gegenüber allen anderen Figuren des Henry-Dramas beweist. Als Hal ihn im ersten Teil nach einer Waffe fragt (V,3) antwortet Falstaff zunächst mit „take my pistol if thou wilt“, um die Frage Hals, ob sie sich in der Tasche befinde, mit „Ay, Hal. `Tis hot; `tis hot. There´s that will sack a city” zu beantworten. Hal greift hinein und holt heraus: eine Flasche des von Falstaff bevorzugten spanischen Weines – „sack”. Zum einen spielt Falstaff hier also mit der übertragenden Bedeutung von ‚pistol‘, ein Wort, das semantisch Waffe bezeichnet, im übertragenden Sinne aber auch für etwas starkes Alkoholisches verwendet wurde. Zum anderen aber spielt er mit der Doppelbedeutung von ‚sack‘. Zuerst knüpft er den Gebrauch von ‚sack‘ an die Erstbedeutung von ‚pistol‘, in dem Sinne nämlich, dass die ‚pistol‘ so „hot“ sei, dass mit ihr eine Stadt eingenommen werden könne, um gleichzeitig die übertragende Bedeutung von ‚pistol‘ mit dem tatsächlich in seiner Tasche befindlichen Wein zu verknüpfen. Nicht nur Hal raucht der Kopf – auch dem Zuschauer, der mit dieser fulminanten Art Falstaffs, mit Polysemien zu spielen, fast durchgehend konfrontiert wird. Falstaff macht Sprache als Sprache sichtbar und den Leser genauso wie den Zuschauer dadurch – genau wie im Fall der politischen Vernunft – darauf aufmerksam, dass hier nichts Natürliches, sondern im Gegenteil ein Set von Konventionen am Werk ist.  

III

Falstaff nimmt in diesem Sinne eine Sonderstellung ein, sowohl im Hinblick auf sein Handeln wie seine Sprache. Er ist ein Ritter (das ‚Sir‘ weist uns darauf hin), allerdings immer unberitten; er gehört dem Rang nach zu den höheren Figuren des Stücks, spricht aber nicht wie diese in Versen, sondern in Prosa und arbeitet trotzdem virtuos am Sprachmaterial; nicht zuletzt war auch der Schauspieler des Falstaff während der Aufführungen immer abgeschoben: er spielte aus einem ‚unspecified place‘ heraus, einem Bühnenstück, das der eigentlichen Bühne vorgelagert, fast schon Teil des Publikums war – einem regelrechten „unlocalized space“, wie das der Shakespeare-Forscher Sean McEvoy treffend genannt hat. All das unterstreicht die Sonderstellung Falstaffs noch einmal, seine Positionierung in einem Raum des Dazwischen, als Figur, die klare Kategorisierungen unterläuft und somit als auf der Grenze befindlich beschrieben werden könnte. Er zerstört die Ordnung nicht, stellt sie aber in Frage, er löst die Kategorien nicht auf, zwingt aber dazu, sie zu hinterfragen. Damit ist seine Funktion in den Historiendramen benannt. Wenn die beiden Heinrich IV.-Stücke den Aufstieg eines jungen Prinzen zur Macht, seine Entwicklung zur Herrschaft beschreiben, dann repräsentiert Falstaff für Hal das, was auch möglich gewesen wäre als Lebensentwurf, und er repräsentiert für die Konstitution von Herrschaftsbildung und die politische Ordnung überhaupt einen Gegenentwurf. Das zwingt einerseits dazu, ihn aus dem Prozess der Herrschaftsbildung auszuschließen – Hal schiebt ihn im zweiten Teil mehr oder weniger ab –, und es zwingt andererseits dazu, ihn in der Betrachtung dieses Prozesses mitzudenken und als Ausgeschlossenes sichtbar zu machen. Seine privilegierte Stellung als Figur im Werk Shakespeares über die Jahrhunderte hinweg unterstreicht diese besondere Funktion noch einmal. In letzter Instanz macht Falstaff damit als Schwellenfigur auf die Notwendigkeit einer solchen besetzten liminalen Position – einer Figur auf der Grenze also – für die Konstituierung von Gesellschaft überhaupt aufmerksam: in Falstaff wird Gesellschaftsbildung als Prozess beobachtbar ­– was für Mechanismen in der Bildung von gesellschaftlichen und politischen Ordnungen am Werk sind, was Gemeinschaften ausschließen, um sich selbst als Einheit erkennen zu können und was sie dann als Negativfolie wieder hereinholen, um sich spöttelnd oder abwertend darüber zu erheben (für Hal ist Falstaff lediglich ein „huge hill of flesh“, „so fat a deer“, „my sweet beef“).

IV

Welche Tageszeit es sei, so fragend hatte sich Falstaff in die Dramenwelt Shakespeares eingeführt: „Now, Hal, what time of day is it, lad?“. Was uns zunächst als flapsige Frage erschienen war, erkennen wir jetzt, hat Methode. Denn schließlich zeigt sich an seinem Umgang mit Tageszeiten am deutlichsten, dass er selbst diese als vielleicht natürlichste aller Ordnungen geltende Struktur nicht unhinterfragt lassen möchte. Denn Falstaff gefällt sich in seiner Rolle als Körper der Nacht: er bezeichnet sich selbst als „squire of the night´s body“ und dieser Körper der Nacht, den er so pflegt (ein Forscher hat ausgerechnet, dass Falstaff im Schnitt drei Gallonen sack pro Tag konsumiere), das ist eben jener groteske Körper, der dem ‚normalen‘ entgegengesetzt ist, der fressende, trinkende, verfallende Körper (denn, auch das darf man nicht vergessen, selbst den Verfall Falstaffs lässt Shakespeare die Zuschauer noch erleben). Er ist der Körper, der in die Nacht gehört und ihren Versuchungen nachgibt. Damit durchbricht er die Maßregeln der gewöhnlichen Verhaltensordnung, übertritt die Regeln gewissermaßen und verkehrt mit seinem Leben in der Nacht – Hal fragt ihn: „What a devil hast thou to do with the time of  the day?“ – die übliche Tag-Nacht-Ordnung. Auch das ist absurd, bringt uns zum Lachen, ist aber auch etwas unheimlich, bestätigt ihn als Figur, die jede säuberliche Ordnung ins Wanken bringt, die Herrscher genauso wie Rezipient mühsam errichtet haben. Da sitzt er dann mitten in diesen Historiendramen, mit seinem riesigen Körper, zieht alle Blicke auf sich und jeder fragt, irritiert und ein wenig schwindelig, was dieser Dicke da eigentlich macht. Er selbst würde vermutlich eine spöttische, freche, plumpe Antwort darauf geben – dass er uns jedoch mit der Frage zurücklässt, obgleich er doch eigentlich niemals um eine Replik verlegen ist, macht seine überragende Qualität als literarische Figur zuallererst aus.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz