Lächeln und trotzdem ein Verbrecher sein

Zur „Hamlet“-Inszenierung von Markus Trabusch am Theater Augsburg

Von Frank ZipfelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Zipfel

Hamlet ist die Mona Lisa der Literatur.“[1] So lautet eine inzwischen viel zitierte Behauptung des englischen Lyrikers und Dramatikers T. S. Eliot in seinem Hamlet-Essay von 1909. Und in der Tat scheinen sowohl Hamlet, das Stück, wie auch Hamlet, dessen Hauptfigur, ebenso undurchsichtig zu sein wie das mysteriöse Lächeln von Leonardo da Vincis Frauenportrait. Eliots Aussage ist jedoch nicht als Kompliment gemeint: „Viele Leute halten Hamlet für ein Kunstwerk, weil er ihnen interessant erscheint, wenige finden Hamlet interessant, weil er ein großes Kunstwerk ist.“[2] Und Eliot geht noch weiter; Hamlet sei weit davon entfernt, Shakespeares Meisterwerk zu sein, sondern vielmehr künstlerisch misslungen: die Dramaturgie der Geschichte bliebe unklar, manchen Szenen seien unmotiviert, ja überflüssig und noch nicht einmal die Verssprache sei auf der Höhe anderer Shakespeare Dramen.[3]

Mit dieser Einschätzung steht Eliot in der Literatur- und Kulturgeschichte allerdings ziemlich alleine da. Schiller bekennt den Einfluss der Tragödie auf seinen Don Carlos, Goethe setzte seiner Vorstellung des Hamlet in Wilhelm Meister Lehrjahre ein Denkmal, und seither ist Hamlet unzählige Male literarisch verarbeitet worden von Stéphane Mallarmé, Jules Laforgue, Gerhart Hauptmann, James Joyce, Alfred Döblin, Heiner Müller, Tom Stoppard, Bernard-Marie Koltès, John Updike und vielen anderen. Nach wie vor ist die Tragödie auf den Bühnen der ganzen Welt präsent, Schauspieler (und Schauspielerinnen) reißen sich um die Rolle des Hamlet, sei es im Theater oder im Film. Schon in der Zeit des Stummfilms hat Hamlet das Kino erobert und die Reihe der Verfilmungen durch namhafte Regisseure (wie F. Zefferelli, K. Branagh, M. Almereyda oder A. Kaurismäki) nimmt kein Ende. Schließlich gesellt sich neben die Fülle der Hamlet-Bearbeitungen, -Inszenierungen und -Adaptionen noch die durchaus eigenständige Reihe der Verarbeitungen und Fortschreibungen der Ophelia-Figur, nicht nur in der Literatur, sondern insbesondere auch in der bildenden Kunst.

All dies zeigt: Hamlet ist einer der wenigen neuzeitlichen Stoffe, die zum Mythos geworden sind – allenfalls Don Juan und Faust haben eine ähnliche kulturelle Bedeutung in der internationalen Geistesgeschichte erlangt. Und so gilt für Hamlet in besonderem Maße, was D. Schwanitz allgemein für die Dramen Shakespeares behauptet hat, nämlich dass sie „für das moderne Europa so etwas wie die griechischen Mythen für die Antike“ seien, d.h. „die Erzählungen, aus denen unsere Kultur die Bilder für ihre Selbstbeschreibung gewinnt,“ oder mit anderen Worten: „unser kulturelles Gedächtnis.“[4] Hinzu kommen noch die Besonderheiten der deutschsprachigen Shakespeare- und Hamlet-Rezeption; bekanntlich wurde der elisabethanische Autor in der Schlegel/Tieckschen Übersetzung zum so genannten dritten deutschen Klassiker, und Hamlet wurde im Anschluss an Ferdinand Freiligraths mehrdeutigem „Deutschland ist Hamlet“ in vielfältiger Weise als Spiegelbild der/des Deutschen gebraucht und missbraucht. Aber diese besondere Rezeption hier auch nur in den Ansätzen nachzuzeichnen, würde zu weit führen.

Nicht nur die literarischen und künstlerischen Verarbeitungen Hamlets sind vielfältig und unüberschaubar, gleiches gilt in noch verstärktem Maße für die kritische und literaturwissenschaftliche Rezeption. Jan Kott befindet schon 1965, dass allein die Bibliographie der Abhandlungen über Shakespeares Hamlet zweimal so dick sei wie das Warschauer Telefonbuch,[5] und Frank Günther berichtet, man habe ausgerechnet, dass ein durchschnittlicher Leser bei acht Stunden Lektüre pro Tag es in einer Lebenszeit von siebzig Jahren nicht schaffen würde, alles zu lesen, was über Hamlet geschrieben wurde.[6] Erst kürzlich ist im deutschsprachigen Bereich ein über 500 Seiten dickes und den Forschungsstand auch nicht annähernd erschöpfend behandelndes Hamlet-Handbuch (vgl. die Rezension dazu in dieser Ausgabe) dazugekommen.[7] Jedes Zeitalter, ja jede Generation hat ihren Hamlet, und die Hamletbilder sind so widersprüchlich, wie sie nur sein können: ein mit der Rache überforderter Intellektueller oder ein sorgfältiger planender Rächer, ein handlungsunfähiger Melancholiker oder ein vom Ödipuskomplex gehemmter Neurotiker, ein früher Existentialist, von Lebensekel gelähmt, oder ein kühl kalkulierender Rebell gegen die Verlogenheit des Establishments, ein Frauenfeind, der die Mutter hasst und den Tod der Geliebten in Kauf nimmt, oder ein weicher, dem Männlichkeitsideal überdrüssiger, femininer Charakter (weshalb möglicherweise, noch bevor es Mode wurde, männliche Shakespeare-Helden mit Frauen zu besetzen, große Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt, Asta Nielsen, Adele Sandrock oder Angelika Winkler sich an die Rolle des Hamlet gewagt haben). In dieser Hinsicht hat J. Kott Eliots Vergleich von Hamlet mit der Mona Lisa eine erweiterte Bedeutung gegeben: alle haben immer schon eine Vorstellung von Leonardos Bild und eine Deutung des mysteriösen Lächelns im Kopf, bevor sie überhaupt das Original gesehen haben. Und so geht es uns mit Hamlet: zwischen uns und dem Text steht Hamlets Eigenleben in der Kultur.

Die Überlagerung des Textes durch die zahllosen Verarbeitungen und Auslegungen ist ein grundsätzliches Problem für jede Hamlet-Interpretation: Gibt es überhaupt noch etwas Neues über Hamlet zu sagen? In verschärftem Maße stellt sich diese Frage für jede Bühnenproduktion von Hamlet, denn sie kann sich im Gegensatz zu einer literaturwissenschaftlichen Auslegung nicht auf die Diskussion oder Bewertung vorhandener Interpretationen zurückziehen. Sie muss und will einen eigenen Zugang zu Shakespeares Klassiker erarbeiten. Die Vielfalt der Verarbeitungen und Interpretationen ist daher sicherlich eine Bürde für jede heutige Hamlet-Inszenierung. Kann man noch einen eigenen, vielleicht sogar bisher nicht gesehenen Hamlet auf die Bühne bringen? Wie geht man mit den Klischees der Hamlet-Rezeption um? Z. B. mit der Tatsache, dass das kulturelle Gedächtnis mit der klassischen Darstellung Hamlets mit dem Totenkopf den bekannten Monolog „Sein oder nicht sein“ verbindet, obwohl diese Verbindung im Text nicht gegeben ist.

Die bestehenden Bearbeitungen können aber auch produktive Anregungen liefern. So kann man z. B. die von Shakespeare mit relativ wenig Text bedachte und deshalb für eine Schauspielerin schwer greifbare Figur der Gertrud mit John Updikes Version der Vorgeschichte der Shakespeareschen Dramas aus seinem Roman Gertrude and Claudius unterlegen.[8] Updikes Prequel geht davon aus, dass Gertrud aus Staatsräson von ihrem Vater mit dem alten Hamlet, der als eher primitiver und kriegerischer Herrscher dargestellt wird, in eine wenig glückliche Ehe gezwungen wurde und dass im Laufe der Zeit eine echte Liebesbeziehung zu dem weltgewandten und feinsinnigen Bruder ihres Mannes entsteht. Der Mord am alten Hamlet wird dann mit der unmittelbaren Gefahr motiviert, die entsteht als der König die geheime Affäre zwischen Gertrud und Claudius entdeckt.

2.

Hamlet ist nicht nur im Hinblick auf seine Rezeption ein Drama der Superlative und der Rekorde. Das Außergewöhnliche beginnt schon mit dem Text selbst, und das betrifft sowohl die darin enthaltenen Themen wie auch die Textgestalt und deren Umfang. Betrachtet man den Text auf der thematischen Ebene, so fällt die Vielfalt der Probleme und Fragen auf, die in Hamlet verbunden werden bzw. verborgen liegen. Schon Samuel Johnson sieht variety (Abwechslungsreichtum) als eine der hervorstechenden Charakteristika des Stücks[9] und J. Kott bringt diese Mannigfaltigkeit Hamlets prägnant auf den Punkt:

In Hamlet gibt es viele Fragen: die Politik, die Gewalttätigkeit und die Moral, den Streit um die Übereinstimmung von Theorie und Praxis, um die letzten Dinge und den Sinn des Lebens; Hamlet ist eine Tragödie der Liebe, der Familie, des Staates, es ist eine philosophische, eschatologische und metaphysische Tragödie. Alles, was ihr wollt! Und obendrein eine aufrüttelnde psychologische Studie. Eine blutige Fabel, ein Duell und ein großes Gemetzel sind darin enthalten. Man hat die Wahl. Aber man muss wissen, weshalb und wozu man wählt.[10]

Die Wahl beginnt jedoch nicht erst bei der Frage, welche(s) der verschiedenen Themen man in einer Inszenierung besonders herausgreifen soll, sondern schon bei der Textgestalt. Hamlet ist das längste Drama Shakespeares und mit seinen über 4000 Versen fast doppelt so lang wie beispielsweise Macbeth. Zudem weichen die drei frühen Drucke, welche die Grundlage aller Hamlet-Editionen bilden, erheblich voneinander ab, so dass schon die Textgestalt eine Frage komplexer Entscheidungen darstellt. Unklar ist zudem, welcher Hamlet zu Shakespeares Zeiten gespielt wurde: Es erscheint unwahrscheinlich, dass ein Drama solcher Länge, wie wir es heute kennen, dessen Aufführung – auch unter Berücksichtigung der wohl relativ schnellen Spielweise – fünf bis sechs Stunden dauern würde, auf der elisabethanischen Bühne zur Darstellung gebracht wurde. So gibt es keinen Original-Hamlet in einem emphatischen Sinn, weder was die Textgestalt, noch was die Bühnenvorlage betrifft, und das Problem, einen spielbaren Hamlet zu erarbeiten, ist wohl so alt wie das Drama selbst. Kaum eine Hamlet-Inszenierung, sei es auf der Bühne oder im Film, ohne kommt ohne Kürzungen und Streichungen aus. Und auch wenn man sich dafür entscheidet, eine der heutigen Textvorlagen des Hamlet nicht oder wenig gekürzt zu spielen (wie zuletzt Andrea Breth in ihrer Inszenierung am Wiener Burgtheater, Premiere am 28.9.2013), gilt: „Man kann nur einen Hamlet spielen, einen von denen, die in diesem Super-Stück enthalten sind. Es wird immer ein Hamlet sein, der ärmer ist als der Shakespearesche, aber es kann auch einer sein, der reicher ist, reicher um unsere Zeit. Er kann, nein, er muss es sein.“[11] Vielleicht müsste man heute ergänzen, dass bereits die Tatsache einen Hamlet zu spielen, wenn Hamlet auf dem Spielplan steht, eine Entscheidung voraussetzt, nämlich die – in welcher Form und mit welcher Akzentuierung auch immer – mit Shakespeares (übersetzten) Worten die in seinem Drama enthaltene Geschichte zu erzählen, und nicht die Textvorlage zum Anlass zu nehmen, durch die postmoderne Montage von Teilen oder Versatzstücken davon etwas ganz Anderes zu zeigen.

3.

Der eine Hamlet, der in Augsburg gespielt wird, d.h. die Interpretationsachse, um die sich die Augsburger Inszenierung dreht, lässt sich mit Hilfe eines Essays mit dem Titel On Simulation and Dissimulation (Über Verstellung und Heuchelei)[12] erläutern, der sich in den Schriften des Shakespeare-Zeitgenossen und Wegbereiters neuzeitlicher Philosophie Francis Bacon findet.[13] Bacon unterscheidet drei Stufen der Verstellung: Verschwiegenheit (was impliziert, dass man nicht preisgibt, was man weiß), Verstellung in negativer Form (was impliziert, dass man nicht durchscheinen lässt, wer man wirklich ist) und Verstellung in positiver Form oder Heuchelei (was impliziert, dass man gegenüber anderen aktiv vorgibt, zu sein, was man nicht ist). Verschwiegenheit sieht Bacon als eine Tugend, der eine stabilisierende Wirkung sowohl auf das Individuum wie auch auf das soziale Gefüge zugesprochen wird, während Heuchelei als moralisches Fehlverhalten und als destabilisierend für das Individuum und den sozialen Zusammenhalt angesehen wird. Heuchelei führt gesellschaftlich nach Bacon u.a. zu übertriebenem Misstrauen, zur Vereinsamung des Individuums und zur Zerstörung des Vertrauens, das die Grundbasis menschlichen Zusammenlebens darstellt. Allerdings weist Bacon daraufhin, dass die Grenze zwischen ethisch positiv konnotierter Diskretion und moralisch verwerflicher Falschheit nicht klar gezogen werden kann. Zwischen den einzelnen Stufen der Verstellung bestehen nur graduelle Unterschiede: So führt Verschwiegenheit notgedrungen dazu, dass der Verschwiegene, wenn nach dem Zu-Verschweigenden gefragt, sich bis zu einem gewissen Grad verstellen muss, wenn er sein Wissen nicht preisgeben will. Man kann Bacons Ausführungen über Verstellung und Heuchelei in eine Reihe von Antagonismen entfalten, die sich wie folgt ausformulieren lassen: Vertrauen und Misstrauen, Authentizität und Inszenierung, Wahrheit und Lüge, Loyalität und Täuschung, Treue und Verrat, Sein und Schein.

Betracht man Shakespeares Tragödie vor diesem Hintergrund, scheint es auf den ersten Blick so, dass die Hauptfigur Hamlet auf der positiven Seite dieser Gegensatzreihe anzusiedeln ist. Schon zu Beginn des Stückes, noch vor den Offenbarungen des Geistes, sieht er sich verraten: von Gertrud, seiner Mutter, die unbegreiflicherweise kurz nach dem Tod von Hamlets Vater dessen Bruder Claudius geheiratet hat, obwohl sie ihren ersten Mann angeblich liebte; von eben diesem Onkel, der sich mit Hilfe des Königsrats in Windeseile zum König und damit zum Nachfolger seines Bruders gemacht hat; von Ophelia, die den Anweisungen ihres Vaters Polonius folgend unvermittelt den Kontakt zu Hamlet abbricht. Angemerkt sei, dass das Dilemma der Verstellung auch in einer Nebenfigur wie Polonius deutlich erkennbar wird, da für ihn als Staatsmann die Grenze zwischen Verschwiegenheit und Verstellung sozusagen von Berufs wegen äußerst durchlässig ist. Die Abweisung Ophelias muss Hamlet umso mehr als Treuebruch empfinden, wenn man davon ausgeht, dass die Beziehung zu Ophelia für Hamlet die einzige Konstante in der durch den Tod des Vaters und die seltsame Allianz zwischen Onkel und Mutter für ihn aus den Fugen geratenen Welt von Helsingör darstellt. Die Annahme, dass am Beginn des Dramas eine veritable Liebesbeziehung zwischen Hamlet und Ophelia besteht, ist natürlich auch eine interpretatorische Entscheidung, die sich jedoch gut aus dem Text begründen lässt.

Etabliert wird die Thematisierung der Verstellungsproblematik des weiteren in der ersten Auseinandersetzung zwischen Hamlet und Claudius am Beginn von I,2. Hamlet wettert gegen den Schein, gegen das, was Äußerlich ist, was man vorgaukeln kann und das nicht dem authentischen Gefühl und dem eigentlichen Sein entspricht. Zugespitzt wird die Frage nach Schein und Sein, nach Wahrheit und Lüge jedoch mit dem Erscheinen von Hamlets Vaters Geist, der behauptet, dass er von seinem Bruder umgebracht worden sei und Hamlet den berühmten Racheauftrag erteilt. Hamlets Vorahnung, dass etwas sehr faul sei im Staate Dänemark, wird damit bestätigt und Claudius scheint als König der Verstellung entlarvt: „Daß einer lächelt und lächelt und trotzdem ein Verbrecher sein kann.“[14]

Allerdings wirft der Auftritt des Geistes neue Probleme im Hinblick auf die Wahrheitssuche auf. Handelt es sich bei der Erscheinung wirklich um den Geist des Vaters oder um einen trügerischen Dämon? Diese Unsicherheit im Hinblick auf die Authentizität des Geistes ist historisch wohl mit den grundlegend verschiedenen Jenseitsvorstellungen der im England Shakespeares konkurrierenden Konfessionen zu erklären: in katholischer Sicht kommt der Geist des Vaters aus dem Fegefeuer, um etwas das ihn quält, zu erledigen, in protestantischer Sicht, nach der es kein Fegefeuer gibt, läge der Schluss nahe, dass der Geist ein teuflischer Dämon sei, der die Sterblichen durch Täuschungen und Illusionen zu verwirren sucht und sie dadurch ins Verderben lockt.[15]

Jedenfalls führt die Unsicherheit über die Authentizität des Geistes dazu, dass Hamlet sich einen weiteren Beweis für die Schuld von Claudius verschaffen will, und zwar durch die „Mausefalle“, die wohl berühmteste Spiel-im-Spiel-Szene der Weltliteratur. Hamlet lässt von der zufällig angereisten Schauspieltruppe im Beisein des Hofes einen Königsmord darstellen, der den Erzählungen des Geistes ähnelt, und hofft, dass die Reaktion von Claudius ihn verraten wird. C. Menke vergleicht die „Mausefalle“ mit einem wissenschaftlichen Experiment zur Aufdeckung der Verstellung des Königs:

Sie ist ein künstliches Arrangement, in dem alle Künstlichkeit, alles Erscheinen, alles Sekundäre durchschlagen werden soll, damit sich die Dinge so zeigen, wie sie wirklich sind. Genauer noch gleicht das Experiment, in dem Hamlet die Wahrheit herausfinden will, einem Lügendetektor: Es soll eine Situation unwillkürlichen Äußerns schaffen, in der der vermutete Heuchler die Kontrolle über seine Äußerungen verliert und nicht mehr sagt, was er will, sondern wie es wirklich ist.[16]

Für Hamlet erfüllt das Experiment seinen Zweck: Er sieht seinen Verdacht und die Aussagen des Geistes, dadurch dass Claudius das Schauspiel bei der Ermordungsszene abbrechen lässt, bestätigt. Interessant ist, dass für den Zuschauer, das Experiment durchaus nicht die Eindeutigkeit aufweist, die Hamlet ihm zuschreibt. Zwar wird durch die Schauspieler ein Giftmord auf die Bühne gebracht, der dem an Hamlets Vater genau gleicht, allerdings wird der Mörder als Neffe des Schauspielkönigs vorgestellt, so dass Claudius möglicherweise nicht nur das eigene Verbrechen auf der Bühne sieht, sondern auch die Ankündigung seiner Ermordung durch seinen Neffen Hamlet. Allerdings wird dem Zuschauer in der folgenden Gebetsszene des Königs, dessen Verantwortung für den Brudermord durch seine Selbstanklage vor Augen geführt. Für Hamlet jedoch, der vom monologischen Schuldeingeständnis des Claudius nichts wissen kann, ist die Reaktion des Onkels auf die „Mausefalle“ ein ausreichender Beweis für dessen Schuld.

Das Misstrauen Hamlets gegenüber den undurchsichtigen Vorgängen in Helsingör hatte sich inzwischen ohnehin verstärkt. Die Studienfreunde Rosenkranz und Güldenstern, die bereits Goethe als Repräsentanten einer heuchlerischen Gesellschaft charakterisiert hat,[17] täuschen gegenüber Hamlet einen Freundschaftsbesuch vor, sind jedoch in Wirklichkeit von Claudius und Gertrud beauftragt, Hamlet auszuhorchen. Ophelia lässt sich von ihrem Vater und Claudius dazu missbrauchen, Hamlet ‚zufällig’ an einem Ort zu treffen, an dem Polonius und der König, die Begegnung belauschen können, um mehr über den Grund von Hamlets seltsamem Benehmen zu erfahren.

Nach der Spiel-im-Spiel-Szene führt die Spirale von Lüge, Täuschung und Verrat, in das auch Laertes, der Bruder Ophelias, verstrickt wird, schließlich zu dem bekannten tragischen Ende, an dem alle unmittelbar Beteiligten bis auf einen den Tod finden werden. Dass der Wahrheitssucher Hamlet in den von Täuschung und Verrat geprägten Intrigen des dänischen Hofes ebenso umkommt wie seine Widersacher, passiert nicht von ungefähr. Der Verächter des Scheins und der Verstellung beginnt bekanntlich nach dem Auftreten des Geistes den Wahnsinnigen zu spielen, um Claudius, Polonius und die Mutter über seine wahren Absichten, nämlich Sicherheit über die Schuld des Claudius zu erlangen und die Rache für den Vater vorzubereiten, zu täuschen. Hamlet ist also nicht nur der Getäuschte und Verratene, sondern auch selbst ein aktiv Täuschender. Insofern ist letztlich auch Hamlet in das Spiel mit der Verstellung verstrickt und der Verrat, den er durch andere erfährt, ist teilweise als Reaktion auf sein eigenes Verhalten zu erklären.

Neben der positiven Form der Verstellung als unhintergehbare Komponente menschlichen Zusammenlebens und der negativen Form der Verstellung als Heuchelei, Täuschung und Betrug wird in Hamlet eine dritte Form der Verstellung thematisiert, nämlich die spielerische Verstellung des Schauspielers. Mit der inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen Frage „Was bedeutet ihm schon Hekuba?“[18] reflektiert Hamlet über die Macht des Schauspielers, seinen Körper- und Gesichtsausdruck durch die Kraft der eigenen Vorstellung zu verändern. Diese spielerische Form der Verstellung ist nicht negativ konnotiert, weil sie ohne Täuschungsabsicht durchgeführt wird. Da sich die Zuschauer durch die Theaterverabredung des Als-Ob-Spiels der Schauspieler bewusst sind, ist diese Art der Verstellung moralisch völlig unbedenklich. Hamlet sieht ja sogar im Theater ein Instrument, die Verstellungen in der Realität zu entlarven: „Hm, ich habe gehört, schuldige Kreaturen, / die im Theater saßen, / wurden von der Kunst des Spiels/so in der Seele getroffen /, daß sie auf der Stelle/ihre Verbrechen gestanden haben.“[19]

Allerdings führt das Schauspiel auch die große Macht der Verstellung vor. Die Tatsache, dass ein Schauspieler nur mithilfe seiner Phantasie den emotionalen Zustand einer ihm völlig fremden Figur darstellen kann und dass eine solche Darstellung wiederum diverse Gefühlsreaktion im Zuschauer auslöst, zeigt einmal mehr, dass der „natürliche“ Ausdruck einer Person und unsere Reaktion darauf immer unter dem Verstellungsvorbehalt stehen. Den am Gegenüber wahrgenommenen Einstellungen oder Emotionen ist nicht immer zu trauen, weil die von Schauspielern für ihre Kunst angewandte Fähigkeiten ohne weiteres auch außerhalb des Theaters von entsprechend talentierten oder geschulten Individuen zur Täuschung ihrer Umwelt angewendet werden können.

Verstellung, sowohl in ihrer milden, notwendigen und moralisch nicht verwerflichen Form der Verschwiegenheit wie auch in ihrer negativen, betrügerischen und damit destabilisierenden Form der Heuchelei kann auch als die Grundlage für das tragische Ende des Dramas angesehen werden. Nicht nur Laertes, der im Wettkampf mit Hamlet seine Rache durch ein scharfes statt stumpfes und dazu noch vergiftetes Schwert absichern will, „krepiert zurecht“ durch seinen eigenen Betrug „wie eine Schnepfe in meiner eigenen Falle,“[20] als er nach der Vertauschung der Waffen im Eifer des Gefechts durch das eigene Schwert getroffen wird. Am Ende fallen, wie es im Text heißt, die Pläne der Betrüger auf die Erfinder selbst zurück. Das gilt schon für Polonius, der als Belauscher der closet scene unabsichtlich von Hamlet umgebracht wird, das gilt für Rosenkranz und Güldenstern, die sich bereitwillig als Spitzel zur Verfügung gestellt haben, das gilt in gewisser Weise für Gertrud, die sich zumindest des Betrugs an ihrem ersten Ehemann schuldig gemacht hat, das kann ansatzweise für Ophelia gelten, die sich von Polonius und Claudius gegen Hamlet hat instrumentalisieren lassen, das gilt insbesondere für Claudius, der sich zur Vertuschung des Brudermords in immer verzweifeltere Intrigen verstrickt.

C. Menke sieht Hamlets Tragödie als Ergebnis der Unvereinbarkeit von Hamlets Lebenseinstellung mit der Realität: Hamlets Vorstellung sei, dass Handeln nur durch sicheres Wissen begründet werden könne; ein solches Wissen sei jedoch nicht erreichbar und deshalb könne das Handeln und damit das Leben nicht gelingen. Hamlet, das Stück, reflektiere dieses Dilemma undzeige die „Schwierigkeit, ja, Unmöglichkeit für Hamlet, diese Einstellung nicht zu haben, obwohl sie es ist, die uns am Wissen- und Handelnkönnen verzweifeln lässt.“[21] Diese Idee weiterführend könnte man sagen, dass Hamlets Tragik im Dilemma von notwendiger und trügerischer Verstellung begründet liegt, welches ebenfalls das Gelingen menschlichen Handelns und Zusammenlebens grundsätzlich in Frage stellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der einzige Überlebende des dänischen Hofes Horatio ist, der dem trügerische Duo Rosenkranz und Güldenstern entgegen gestellte Studienfreund, der trotz aller Seltsamkeiten in seiner Freundschaft Hamlet unerschütterlich treu bleibt und der die einzige Figur ist, die im Laufe des Dramas nicht als sich aktiv Verstellender gezeigt wird. Auch in dieser Sichtweise ist Hamlet als Reflexion dessen, was Hamlet widerfährt, zu verstehen.

4

Die Entscheidung für eine Inszenierung Hamlets vor dem Hintergrund einer Interpretation, welche auf das dargestellte Problem der Verstellung fokussiert, hat eine Reihe von Auswirkungen, welche die konkrete Umsetzung des Textes auf der Bühne berühren  Das betrifft u.a. Bühne und Kostüme, Musik, die Textfassung und die Übersetzung.

Da man die dargestellte Problematik der Verstellung weder in eine historische Vergangenheit rücken, noch auf eine konkrete zeitgeschichtliche Situation verengen wollte, hat man sich für eine abstrakte Bühne und zeitgenössische Kostüme entschieden. Die Bühne besteht aus einer schrägen Scheibe, die auf einem Eisengestänge montiert ist, das wiederum auf einer Drehbühne steht. Die hintere Hälfte der Scheibe wird umrandet von einem hohen Vorhang, der aus ca. ein Meter breiten überlappenden weißen Plastikbahnen besteht. Dabei ist die drehende schräge Scheibe mit der durch die diversen Intrigen verursachten der allgemeinen Verunsicherung des Helsingörschen Hofes korrelierbar. Der Vorhang aus überlappenden Plastikbahnen sowie die Drehbühne stellen mannigfaltige Möglichkeiten bereit, die mit dem Thema Verstellung verbundenen Belauschungs- und Bespitzelungsszenen für den Zuschauer sinnfällig darzustellen. Korrespondierend zur Abstraktion der Bühne wird das szenische Geschehen musikalisch von Intermezzi einer einzelnen E-Gitarre begleitet, deren Klang die Vereinsamung der Figuren in einer Welt der Verstellung unterstreichen soll.

Die thematische Fokussierung hat auch Auswirkungen auf die Textfassung, d.h. auf Kürzungen und Streichungen. Einige durchaus klassische Striche, die üblicherweise aus Gründen der Darstellungsökonomie gemacht werden, lassen sich mit der Akzentuierung der Verstellungsproblematik sinnvoll begründen. So bleibt die außenpolitische Bedrohung Dänemarks durch das Königreich Norwegen zwar präsent, auf die ausführlichen Berichte über die Verhandlungen, auf das Auftreten von Abgesandten oder von König Fortinbras selbst kann jedoch verzichtet werden. Die thematische Akzentuierung führt aber auch zu Kürzungen, die eher ungewöhnlich sind. So wird der Beginn von Szene II,2, in dem Claudius und Gertrud die beiden Studienkollegen von Hamlet, Rosenkranz und Güldenstern, beauftragen, Hamlet auszuhorchen, gestrichen. Das hat zur Folge, dass der Zuschauer in der ersten Begegnung der beiden mit Hamlet keinen Informationsvorsprung hat und quasi zusammen mit Hamlet die trügerischen Absichten von Rosenkranz und Güldenstern herausfindet. Ziel ist es dabei den mit der Verstellung zusammenhängende Verunsicherung für den Zuschauer nicht nur beobachtbar, sondern unmittelbar erlebbar zu machen.

Ein letzter, aber nicht weniger wichtiger Aspekt ist die Frage der Übersetzung – eine Frage, die sich für jede Hamlet-Produktion stellt, die das Drama nicht in der Originalsprache inszeniert: Hier befinden wir uns im deutschsprachigen Raum in einer besonderen Lage, die wiederum eine Situation der Rekorde und Superlative ist. Die Mannigfaltigkeit von Übertragungen durch namhafte Übersetzer, Autoren und Theatermacher reicht von der ersten Prosaübersetzung C. Wielands, über die viel beachtete Versionen von F. v. Bodenstedt, T. Fontane, H. Rothe, E. Fried, bis hin zu der breiten Auswahl zeitgenössischer Versionen z. B. von F. Günther, H. Klein, E. Plessen, P. Zadek/G. Greiffenhagen, F.-P. Steckel, H. Müller, F. Zaimoglu/G. Senkel, W. Buhss, M. v. Mayenburg u.v.a. Überschattet werden alle Übersetzungen von der omnipräsenten Übertragung A.W. Schlegels (1797), welche Zuschauer, ob sie mit Shakespeares Hamlet vertraut sind oder nicht, als deutschen Klassiker unweigerlich zumindest in Form der geflügelten Worte im Ohr haben.

Die Entscheidung für die eine oder andere Übersetzung hängt natürlich zuerst von der Gesamtkonzeption der Produktion ab. Wenn man sich dafür entscheidet, Hamlet nicht in einer historisierenden Ausstattung (sei es die mittelalterlichen Quelle oder des elisabethanischen Englands oder die irgendeiner anderen Epoche) auf der Bühne zu bringen, sondern auf einer abstrahierenden Bühne mit heutigen Kostümen, dann liegt die Wahl einer Übersetzung in einem zeitgenössischen Deutsch nahe. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Ziel der Suche eine Version ist, die ausschließlich auf Alltagssprache setzt und den Kunstcharakter der Shakespeare-Sprache verleugnet. Die Wahl fiel im vorliegenden Fall auf die Übersetzung von Roland Schimmelpfennig, einem der bedeutendsten zeitgenössischen deutschen Theaterautoren. Schimmelpfennigs Übersetzung hat für den vorliegenden Zweck verschiedene Vorzüge: Sie ist nicht metrisch gebunden, aber rhythmisiert und sie ist um eine möglichst präzise Wiedergabe der Inhalte des Originals in einem heutigen Deutsch bemüht. So verbindet sie künstlerische Stilisierung mit unmittelbarer Verständlichkeit und es gelingt ihr damit, die dichterische Kraft des Originals mit dessen unterschiedlichen stilistischen Registern (von erhabenem Ernst bis zu derbkomischen Wortspielen, von eminent poetischen Bildern bis zu zotigen Anspielungen) zu transportieren.

Ziel der Inszenierung war es jedoch auch die Tradition der deutschsprachigen Shakespeare-Rezeption nicht zu negieren, sondern zu integrieren. Deshalb wurde die Übersetzung, wo nötig, dahingehend bearbeitet, dass die Qualität von Hamlet als ‚deutschsprachigen Klassiker’ erhalten blieb. Konkret bedeutet das, dass überall dort, wo die Schimmelpfennigsche Übersetzung an den zitathaft bekannten Stellen von Schlegels klassischer Übertragung abweicht, auf die Schlegelsche Version zurückgegriffen wurde. So steht anstelle von Schimmelpfennigs „Leben oder nicht leben“ das allgemein bekannte „Sein oder nicht sein“. Interessant ist, dass sich bei dieser Operation herausstellt, dass die Einfügungen von Schlegels geflügelten Worten in das heutige Deutsch der Schimmelpfennig-Übertragung nicht zu einer als störend empfundenen Heterogenität führen, sondern das Ergebnis sich als doppelt positives erweist: einerseits werden die bekannten Zitate durch den ungewohnten Sprachkontext neu beleuchtet und in ihrer Wirkkraft intensiviert, andererseits wird die Neuübersetzung an die omnipräsente Tradition der Shakespeare-Rezeption, die ohnehin nicht verleugnet werden kann, angebunden.

5

Jede Hamlet-Inszenierung ist, wie der zu Anfang zitierte Kott treffend formuliert, zugleich ärmer und reicher als der Text – das gilt übrigens für jede Inszenierung eines jeden beliebigen Theatertextes, allerdings wohl im besonderem Maße für Shakespeares vieldeutiges Meisterwerk. Eine Inszenierung ist ärmer, weil sie nur eine Interpretation des mehrdeutigen Textes zu liefern vermag, sie ist reicher, weil sie aus dem literarischen Text ein andersartiges multimediales Kunstwerk macht, unabhängig davon, ob das dabei entstehende Kunstwerk als gelungen anzusehen ist oder nicht. Übrigens ist dessen Gelingen auch grundsätzlich nicht an so etwas wie Texttreue zu messen, da dieser Begriff bei näherer Betrachtung als Vergleichspunkt für das theatralische Kunstwerk inhaltsleer ist. Allerdings kann man dem ungeachtet beschreiben, welche Art von Interpretation der Textgrundlage ihrer Transposition zum theatralischen Kunstwerk zugrunde liegt – und das ist das, was ich in diesem Beitrag versucht habe. In einer solchen Transposition ist grundsätzlich der Faktor Zeit eingeschrieben, insofern ist das, was Kott quasi als Forderung formuliert, nämlich dass eine Hamlet-Inszenierung reicher sein müsse um ihre Zeit, in gewisser Weise auch ein Gemeinplatz der theatralen Darstellungskunst. Jede Bühnenumsetzung wird – wenn sie nicht als Museumsprojekt geplant ist – mit den Darstellungsmitteln ihrer eigenen Zeit arbeiten. Jedoch ist es auch im Hinblick auf diesen Zeitfaktor möglich, genauer zu beschreiben, wie sich eine spezifische Inszenierung dazu verhält und das soll im letzten Teil dieses Beitrags versucht werden.

Die Beschreibung der inszenierungsspezifischen Interpretationsachse nahm ihren Ausgang in einem Essay des Shakespeare-Zeitgenossen Francis Bacon. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass es sich bei der Reflexion über die Bedeutung von Treue und Verrat, Sein und Schein, Wahrheit und Lüge, Authentizität und Inszenierung, Vertrauen und Misstrauen, Loyalität und Täuschung um ein nur für das elisabethanische England relevantes Problem handelt. Vielmehr steckt in dieser Reflexion eine doppelte Aktualität, eine überzeitliche und eine gegenwartsbezogene.

Mit überzeitlicher Aktualität meine ich die Tatsache, dass alles das, was hier unter dem Oberbegriff „Verstellung“ beschrieben wurde, geradewegs ins Zentrum menschlicher Kommunikation und Interaktion führt. Seit der Mensch mit der Sprache die Fähigkeit zu lügen (oder zuminderst zu verschweigen) erworben hat, stehen die Kommunikationsangebote der Anderen und die von ihnen übermittelten Informationen immer auch unter dem Vorbehalt des möglichen Betrugs; gleichzeitig jedoch ist es eine anthropologische-soziologisch-psychologische Tatsache, dass konkretes Leben in einer Gemeinschaft ohne Grundvertrauen nicht möglich ist. Es kommt hinzu, dass wir seit dem Beginn der Moderne mit ihrer Infragestellung der durchgängigen Einheitlichkeit des personalen Individuums und damit eines emphatischen Begriffs von Authentizität durch Autoren wie A. Schnitzler über L. Pirandello, S. Beckett, M. Frisch, P. Auster u.v.a. für diese Problematik besonders sensibilisiert sind. Man könnte sogar fragen, ob diese am Beginn der Moderne durch Kunst und Literatur mit Nachdruck thematisierte Verquickung von Verstellung, Authentizität und personaler Identität der Grund dafür ist, dass wir dieses Problem heute als ein überzeitliches und allgemein menschliches ansehen.

Die gegenwartsbezogene Aktualität der Frage nach den Auswirkungen von Verstellung, Unwahrheit und Täuschung sowie nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Authentizität, Loyalität und Vertrauen erscheint mir darin zu liegen, dass wir in einer Zeit leben, in der auf vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit von Institutionen, Personen und Informationen zunehmend erschüttert wird: so z. B. das Vertrauen in ein Bankensystem, das trotz Krise von der Realität abgekoppelt und damit in seinen Risiken unkontrollierbar bleibt und für hohe Provisionen gutgläubigen Bürgern risikoreiche Anlagen als Altersvorsorge verkauft, das Vertrauen in das politische System, das zunehmend statt konkrete Inhalte zu diskutieren, Personen inszeniert, die sich dann gegebenenfalls als Betrüger herausstellen (z.B. zu Gutenberg), das Vertrauen in die Integrität kirchlicher Würdenträger (Missbrauchsskandal, Tebartz-van Elst), das Vertrauen in staatliche und nicht-staatliche Institutionen, die sich als unzuverlässig oder manipulativ herausstellen (Medizin, z. B. Transplantationsskandal; Justiz, z.B. der Fall Mollath; ADAC), das Vertrauen in die Redlichkeit vorgeblich als integer geltender und sich als moralische Instanzen inszenierende Personen des öffentlichen Lebens (z. B. A. Schwarzer, U. Hoeneß), das Vertrauen in die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Lebensmitteln bzw. in Inhaltsdarstellungen von deren Verpackungen, das Vertrauen in den Sicherheit von inzwischen fast lebenswichtigen digitalisierten Daten (sei vor dem Zugriff durch den Staat oder durch Hacker), das Vertrauen in die Authentizität des oft nur noch virtuell erlebten Gegenübers in einer digitalisierten Welt, die ganz neue Möglichkeiten der (trügerischen) Inszenierung der eigenen oder erfundener Persönlichkeiten bietet. So steht der Mensch heute wie Hamlet, aber in noch vielfältigerer Hinsicht vor der Frage, wie Täuschung zu erkennen ist, wie man sich sicher sein kann, was jeweils hinter den Äußerungen einer Person, den medial verbreiteten Informationen oder der inszenierten Fassade einer Institution wirklich zu finden ist.

Fotos von Nik Schölzel

Informationsseite des Theaters Augsburg zur Inszenierung

[1] T.S. Eliot: „Hamlet“, in: T.S.E.: Selected Essays. London. Third enlarged edition. London 1951. S. 141-147, hier S. 144 (Übersetzung v. F. Z.).

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Dietrich Schwanitz: Shakespeares Hamlet und alles, was ihn für uns zum kulturellen Gedächtnis macht. Frankfurt/M. 2006, S. 7.

[5]Vgl. Jan Kott: Shakespeare heute. Erw. Ausgabe. Aus dem Polnischen v. Peter Lachmann. Berlin/Köln 2013, S. 86.

[6] Vgl. Frank Günther: Shakespeares Hamlet. München 2001, S. 7.

[7] Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart/Weimar 2014.

[8] John Updike: Gertrude and Claudius. A Novel. New York 2000.

[9] Vgl. Ulrich Suerbaum: Der Shakespeare-Führer. Stuttgart 2006, S. 338.

[10] Jan Kott: Shakespeare heute, S. 87.

[11] Ebd.

[12] Francis Bacon: Essays. Ed. by Michael J Hawkins. London /Rutland, Vermont 1994 (dt.: F.B.: Essays oder praktische und moralische Ratschläge. Übers. v. Elisabeth Schücking. Stuttgart 2011).

[13] Die Tatsache, dass Bacon zeitweilig als möglicher Autor der Shakespeare-Dramen gehandelt wurde, spielt hierbei keine Rolle.

[14] William Shakespeare: Hamlet. Übers. v. Roland Schimmelpfennig, in: Shakespeare Variationen. Hrsg. von Uwe B. Carstensen, Stefanie von Lieven, Bettina Walter, Frankfurt/M. 2012, S. 7-147, hier S. 37.

[15] Vgl. Dietrich Schwanitz: Shakespeares Hamlet, S. 20-22.

[16] Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt/M. 2005, S. 166.

[17] Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: J. W. G.: Werke. Bd. 4. hrsg. v. Wilhelm Voßkamp u.a. Frankfurt/M. 1998, S. 103-629, hier, S. 359 („Ferner hatte Wilhelm in seinem Stücke die beiden Rollen von Rosenkranz und Güldenstern stehen lassen. Warum haben Sie diese nicht in eine verbunden? fragte Serlo, diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht. Gott bewahre mich vor solchen Kürzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben! versetzte Wilhelm.  Das, was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen, und Biegen, dies Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dieses Schwänzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtlichen Schurkerei, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch einen Menschen ausgedruckt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben könnte; denn sie sind bloß in Gesellschaft etwas, sie sind die Gesellschaft, und Shakespeare war sehr bescheiden und weise, daß er nur zwei solche Repräsentanten auftreten ließ. Überdies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem Einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert.“)

[18] W. Shakespeare: Hamlet. Übers. v. R. Schimmelpfennig, S. 63.

[19] W. Shakespeare: Hamlet. Übers. v. R. Schimmelpfennig, S. 64.

[20] W. Shakespeare: Hamlet. Übers. v. R. Schimmelpfennig, S. 141.

[21] C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 164.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz