Im Labyrinth der Erinnerungen

Georgi Gospodinovs außergewöhnlicher Roman „Physik der Schwermut“ erzählt über die vergangene Kindheit, Vergänglichkeit der Zeit und das Bewahren von Erinnerungen

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Du schickst dich an, eine Rezension über Georgi Gospodinovs Roman „Physik der Schwermut“ zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Lass deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: Diesen Roman müsst ihr lesen!

Was wäre treffender, als mit einer abgewandelten Form von Italo Calvinos Klassiker „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ einzuläuten, um den literarischen Dunstkreis aufzuzeigen, in dem Georgi Gospodinov mit seinem zweiten Roman „Physik der Schwermut“ schwebt? Vielleicht noch einen Verweis zu dem großen Jorge Luis Borges hintenanstellen? Hiermit geschehen. Der 1968 geborene bulgarische Autor Gospodinov ist wahrlich eine Bereicherung im literarischen Leben, denn er schreibt so scheinbar mühelos und überaus klug in der Tradition der bedeutenden Schriftsteller des magischen Realismus und der Postmoderne, denen er definitiv auf Augenhöhe begegnet. Melancholisch, aber auch urkomisch und raffiniert präsentiert sich „Physik der Schwermut“.

All die vielen, kurzen Unterkapitel stellen die mit Erinnerungen unterschiedlichster Art gefüllten „Zeitkapseln“ dar, die der Erzähler für die postapokalyptische Welt sammeln und konservieren will. Struktur geben dem labyrinthisch verzweigten Roman unter anderem die leitmotivischen Themen der vergangenen Kindheit und des „Im-Stich-Lassens“, das Aufgreifen und Abwandeln von Mythen, das Eindringen in Erinnerungen und in Vergangenheiten – aber nicht nur in die des Ich-Erzählers, sondern gleichermaßen auch in die vieler anderer Figuren, Tiere oder auch der Mythengestalt des Minotauros: Ein Text wie eine alles umfassende Erinnerungsenzyklopädie.

Möglich gemacht wird dies durch die höchst seltene und unheilbare Krankheit, an der der Erzähler leidet: „Pathologische Empathie oder Obsessiv Empathisch-Somatisches Syndrom.“ Sie tritt besonders stark bei Kindern auf; im Laufe der Jahre werden die Anfälle zwar schwächer, aber sie verschwinden nicht: „Er hatte diese spezielle Fähigkeit bereits an sich bemerkt, und er hielt es für einen schrecklichen Makel, das zu spüren, was anderen passierte. Sich in ihre Körper […] hineinzuversetzen, sie zu sein.“ Aber warum eigentlich „er“? Sprach nicht zuvor noch der 1968 geborene Erzähler Georgi – richtig, Georgi, wie der reale Autor, aber wen verwundert das schon bei der Borges-Referenz? – in der Ich-Form? Ach ja, genau, deswegen: „Ich bin mir dieser unsicheren ersten Person bewusst, die sich leicht in die dritte entzieht, um dann erneut in die erste zurückzukehren.“ Und warum das Ganze? „Ich kann keine lineare Erzählung anbieten, weil kein Labyrinth und keine Geschichte linear ist. Sind alle da? Wir brechen auf.“

Und wie gern folgen wir Gospodinov in diesem großartigen Labyrinth der Erinnerungen. Calvino und seine metafiktionale Raffinesse scheinen hier unverkennbar durch. Und Borges? Der wird immer wieder als „Señor Jorge“ und intertextuell durch dessen Minotauros-Bearbeitung in der Erzählung „Das Haus des Asterion“ erwähnt. Das schlägt sich auch direkt in „Physik der Schwermut“ nieder, da sich der Erzähler dort intensiv mit dem Minotauros-Mythos auseinandersetzt und sich in die Figur hineinversetzt. Einerseits widmet der Erzähler sich wehmütig den Zurückgelassenen und legt doch andererseits mitunter so humorvoll einen kurzen „Katalog der Zurückgelassenen“ vor. Kostprobe gefällig? Gerne: „Der zurückgelassene Ödipus, das Neugeborene mit den durchbohrten Knöcheln, ausgesetzt in einem Korb im Gebirge, der zuerst von König Polybos adoptiert werden wird, danach von Sophokles und am Ende von seinem späten Vater Sigmund Freud.“ Genealogisch ist das doch einwandfrei hergeleitet.

So melancholisch der Roman eigentlich ist, durchdringen ihn immer wieder solche komischen Einfälle, sodass die Grenzen zwischen Schwermut und Leichtigkeit fließend verschwimmen. Auch deshalb stellt der Wechsel von der ersten in die dritte Person für den Erzähler einen Schutzpanzer dar, um die „Minenfelder der Vergangenheit“ mit all den verwinkelten Ecken und Gassen aufzusuchen und in seine tiefsten Tiefen einzudringen. Seien es die Mythen, die Geschichte seines Großvaters als Kind und Soldat, oder die eigene Vergangenheit von der Geburt im kommunistischen Bulgarien bis zu dem Punkt, an dem die Zeitkapseln mit allen möglichen Erinnerungen gefüllt werden, Gospodinovs Roman birgt auf jeder Seite – ob nun melancholisch oder amüsant – immer etwas außerordentlich Besonderes. Allerspätestens ab dem achten Kapitel „Teilchenphysik der Trauer“ lässt sich nicht mehr bestreiten, dass es sich bei „Physik der Schwermut“ um große Literatur handelt: So poetisch, bedrückend und anmutig werden darin Reflexionen über die menschliche Existenz, Leben und Tod, Trauer und natürlich auch Literatur angestellt, dass es einem die Sprache verschlägt.

Der Erzähler gibt alle Möglichkeiten vor, die er anbieten kann: Soll er nun in der Gegenwart erzählen oder von der Vergangenheit berichten? Labyrinthe tun sich dem Leser auf und man weiß nicht, was einen als Nächstes erwartet, er wird in die sogenannten „Seitengassen“ geführt und immer ist es der Erzähler, der „den Faden der Geschichte in der Hand“ hält, wie er es selbst mit Blick auf Scheherazade und „Tausendundeine Nacht“ ausführt. Da macht es überhaupt nichts, wenn man aus dem Irrgarten der Erinnerungen und Geschichten nicht herausfindet und stattdessen weiterliest, denn „die Geschichte ist endlos. Wie das Labyrinth endlos ist.“

Der Roman spielt so intelligent mit der literaturgeschichtlichen Tradition – wie viele Anspielungen finden sich wohl in dem Text? –, der Metafiktion und der Erzählperspektive, was nicht zuletzt auch der „pathologischen Empathie“ des Erzählers geschuldet ist, die ihm die schier unendlichen Innensichten ermöglicht. Der heiter-melancholische Ton macht aus „Physik der Schwermut“ einen ganz und gar wunderbaren und außergewöhnlichen Roman. „Die Melancholie überschwemmt langsam die Welt“, aber wie erträglich ist das Ganze doch, wenn man die „Physik der Schwermut“ zur Hand hat.

Titelbild

Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut. Roman.
Übersetzt aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann.
Literaturverlag Droschl, Graz 2014.
336 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208495

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