Der Fremdwort-Erklärer

Annette Kremer analysiert Simon Roths „Teutschen Dictionarius“ (1571)

Von Yvonne LutherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Luther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simon Roth bezeichnet seinen 1571 erstmals erschienenen „Teutschen Dictionarius“ als „auszleger schwerer / vnbekanter Teutscher / Griechischer / Lateinischer / Hebraischer […] auch andrer Nationen wörter“. Das Werk wird üblicherweise als das erste deutsche Fremdwörterbuch betrachtet. Annette Kremer untersucht in ihrer Arbeit den „Teutschen Dictionarius“ nun ausführlich unter metalexikografischer Prämisse. Ziel ist es, eine möglichst umfassende Beschreibung des analysierten Werks zu erarbeiten.

Die Autorin referiert zunächst den bisher wenig umfänglichen Forschungsstand zu Roths „Dictionarius“, um dann über eine Darstellung des Humanismus und der zeitgenössischen Lexikografie das weitere Entstehungsumfeld des Werks zu charakterisieren. Die notwendigerweise sehr knapp gehaltene Betrachtung des Humanismus im Allgemeinen konzentriert sich dann auch auf die Hervorhebung des Stellenwerts der Gelehrtensprachen, daneben der Volkssprachen, wobei der Fokus auf die zeitgenössische Lexikografie gerichtet wird. Die Vorstellung einiger wegweisender Wörterbücher der Zeit (zum Beispiel das „Dictionarium Latinogermanicum“ von Petrus Dasypodius) nutzt die Autorin, um gleich an dieser Stelle das damals vorherrschende Grundprinzip des Generierens von neuen Wörterbüchern aus vorhandenen Wörterbüchern zur Sprache zu bringen. Ein eigenes Kapitel widmet sich – zu Recht – den Entlehnungen in humanistischer Zeit und dem jeweiligen Stellenwert der Gebersprachen. Kremer macht deutlich, welch große Rolle Fremdwörter – vorwiegend lateinischer und griechischer Herkunft – für die Erweiterung des deutschen Wortschatzes in der Zeit des (Spät-)Humanismus spielten und lässt verschiedene, meist befürwortende, zeitgenössische Stimmen zu Wort kommen.

Zum Leben und Wirken des Autors des „Teutschen Dictionarius“ gibt es kaum gesicherte Informationen. Das Vorhandene wird von der Autorin jedoch gut aufbereitet und mit der angebrachten Zurückhaltung dargelegt. Aus Roths Tätigkeit als Lateinschulmeister und Übersetzer lateinischer Dichtung schließt Kremer, dass er aktiv und bewusst die Volkssprache nutzte, um Wissen zu vermitteln. Dies scheint jedoch nicht ganz adäquat, da Roth selbst bezüglich seiner übersetzten Texte von „schlecht vnnd einfeltig Teutsch“ spricht. Letztendlich steht wohl auch hier der erleichterte Zugang zum Originaltext, das heißt zum Latein im Vordergrund, wobei die Volkssprache Mittel zum Zweck ist. Kremer relativiert ihre Aussage dementsprechend auch durch den Schluss, dass Roths Werke die Bilateralität und parallele Funktionalität der Sprachen Deutsch und Latein im Späthumanismus zeigten. Hinsichtlich der Benutzerzielgruppe des „Dictionarius“ und der Intention seines Bearbeiters bezieht sich die Autorin angemessenerweise auf Roths eigene Aussagen. Er sieht sein Werk als Hilfsmittel für Latein-Unkundige oder wenig Erfahrene beziehungsweise für Menschen, die beruflich viel mit Fremdwörtern lateinischer Herkunft zu tun haben, wobei auch Simon Roth die Entlehnungen durchaus positiv bewertet.

In der Darstellung eines Wörterbuchs des 16. Jahrhunderts darf eine Eruierung der Quellen und Vorlagen nicht fehlen, da zu dieser Zeit, wie die Autorin zutreffend betont, das „Patchwork-Prinzip“ bei der Herstellung von Wörterbüchern sehr verbreitet war. Wenn auch im Falle des „Dictionarius“ keine passgenaue Vorlage zu ermitteln ist, weist Kremer doch die infrage kommenden Quellen überzeugend nach, indem sie aus Roths Vorrede sowie aus den Artikeln selbst entsprechende Bezüge ermittelt. Veranschaulicht werden diese intertextuellen Beziehungen in einer Tabelle.

Die Wörterbuchsprache des „Dictionarius“ ist Kremer zufolge fast ausschließlich Deutsch. Die behandelten Lemmata sind – wie bei einem Fremwörterbuch nicht anders zu erwarten – mit großer Mehrheit nicht nativen Ursprungs. Die Autorin plädiert dafür, die gebuchten Lemmata als deutsche Wörter zu betrachten, da gegenüber der Herkunftssprache graphematische beziehungsweise morphologische Modifikationen vergenommen werden. Darüber hinaus stehe die Verwendung dieser Wörter in deutschen Texten im Fokus der Arbeit Roths. Diese Feststellungen werden durch Aussagen Roths in der Vorrede zu seinem Werk gestützt. Eine etwas ausführlichere Diskussion der angenommenen Zweckgebundenheit des „Dictionarius“, vielleicht ein Verweis auf die Fremdwortlastigkeit bestimmer, zeitgenössicher Textsorten (zum Beispiel im Bereich Recht und Verwaltung), wäre hier angebracht gewesen. Im Vergleich mit anderen Wörterbüchern des 16. Jahrhunderts stellt Kremer fest, dass Roth mit seinem Werk gewissermaßen zu einer kleinen lexikographischen Insel dieser Zeit gehört, die ausschließlich mit der deutschen Sprache arbeitet. Typischerweise sind Bedeutungsangaben auch zu deutschen Stichwörtern in dieser Zeit (wie auch bis ins 19. Jahrhundert, so zum Beispiel im „Deutschen Wörterbuch“ von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) oftmals lateinisch. Ein solches Vorgehen wäre beim „Dictionarius“, wie Kremer richtig hervorhebt, unangemessen, da er sich ja ausdrücklich an lateinunerfahrene Rezipienten richtet.

Kremer stellt ausführlich die äußere Form und den inhaltlichen Aufbau des „Teutschen Dictionarius“ dar, was die Beschreibung der Paratexte und des Gesamtaufbaus einschließt. Abbildungen helfen, dem Leser einen Eindruck von Roths Wörterbuch zu vermitteln. Zur Zahl der Lemmata im „Dictionarius“ gab es bisher sehr unterschiedliche Schätzungen, Kremer hat nun erstmals mit 2477 eine konkrete Zahl ermittelt. Deren Verteilung auf Anfangsbuchstaben, Wortarten und Herkunftssprachen wird eingehend untersucht und durch Grafiken veranschaulicht. Wie zu erwarten, stellt Kremer fest, dass hinsichtlich der Herkunft der aufgenommenen Wörter der gräko-lateinische Wortschatz deutlich dominiert.

Die Analyse der Makrostruktur des „Dictionarius“ zeigt auf, dass ein klares Bemühen um Systematik (etwa durch die initialphabetische Anordnung der Stichwörter, aber auch durch die teilweise Anordnung nach Wortfamilien) erkennbar ist. In der mikrostrukturellen Betrachtung veranschaulicht Kremer Artikelaufbau und -gestaltung in Roths Wörterbuch und weist anhand von Beispielen Bezüge zu anderen Werken nach. Die dabei deutlich werdenden zahlreichen Übereinstimmungen, so zum Beispiel in der Formulierung der Interpretamente, wären in einer grafisch entzerrten Darstellung wohl besser erkennbar als in einer Tabelle mit verschiedenen typografischen Auszeichnungen im zitierten Text.

Eine wichtige Frage ist die nach der Typisierung des „Dictionarius“, der traditionell als das erste deutsche Fremdwörterbuch bezeichnet wird. Kremer verweist zunächst darauf, dass es ausgehend von Roths Wörterbuch keine Linie hin zu heutigen Fremdwörterbüchern gebe. Sie entkräftet auch die These, es handele sich beim „Dictionarius“ um ein sprachpuristisches Werk – eine Meinung, die angesichts der fremdwortbefürwortenden Aussagen Roths auch kaum aufrechtzuerhalten ist. Kremer plädiert letztendlich dafür, den „Dictionarius“ als ‚hard word dictionary‘ zu klassifizieren – eine Wörterbuchgattung, deren Ursprünge in England in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts liegen (maßgeblich war vor allem „A Table Alphabeticall“ von Robert Cawdrey, das jedoch erst 1604 zum ersten Mal erschien). Roths „Dictionarius“ nimmt im deutschen Sprachraum eine Alleinstellung ein, denn dieser Wörterbuchtyp wurde hier, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, nicht weiterentwickelt. Als Fazit hält Kremer fest, dass Roths ‚hard word dictionary‘ als Vorläufer der Fremdwörterbücher zu betrachten sei.

In einem Exkurs zur Rezeptionsgeschichte arbeitet Kremer schließlich überzeugend Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Roths „Teutschem Dictionarius“ und Bernhard Heupolds „Teutschem Dictionariolum“ von 1602 heraus. Trotz des nicht unerheblichen zeitlichen Abstandes sind zwischen beiden Wörterbüchern keine ähnlich ausgerichteten Werke bekannt. In einer abschließenden Zusammenfassung greift die Autorin wichtige Fakten ihrer Untersuchung nochmals knapp auf und beschreibt erneut ihre Vorgehensweise. Roths Wörterbuch wird als doppelt paradigmenbildend klassifiziert, denn es ist das erste überwiegend einsprachige deutsche Wörterbuch, das nicht native Wörter erfasst und es ist das erste selbständig gedruckte Wörterbuch der schweren Wörter.

Annette Kremers Arbeit wird dem Anspruch einer ausführlichen metalexikografischen Beschreibung des „Teutschen Dictionarius“ von Simon Roth gerecht. Ihre Schlussfolgerungen stützen sich auf aus dem Werk erhobene Daten sowie auf Aussagen von Roth selbst und sind somit überzeugend begründet. Dass in dieser beschreibenden Analyse Redundanzen (wie zum Beispiel die mehrfach aufgegriffene Tatsache, dass neue Wörterbücher im 16. Jahrhundert üblicherweise aus bestehenden Wörterbüchern erarbeitet wurden) auftreten, ist bei der Ausrichtung der Arbeit wohl kaum vermeidbar. Tabellarische Übersichten und zahlreiche Beispiele veranschaulichen die Ergebnisse, wenn auch an dieser Stelle zum Teil mehr Leserfreundlichkeit durch ausführlicher aufbereitete Darstellungen wünschenswert wäre. Obwohl sicher berechtigte Vorbehalte hinsichtlich der Zuverlässigkeit digitalisierter Quellen bestehen, so wären dennoch Hinweise auf frei verfügbare Digitalisate, die sowohl zum „Teutschen Dictionarius“ als auch auch zu anderen vorgestellten Wörterbüchern wie Dasypodius’ „Dictionarium Latinogermanicum“ existieren, als Ergänzung durchaus angebracht gewesen.

Titelbild

Anette Kremer: Die Anfänge der deutschen Fremdwortlexikographie. Metalexikographische Untersuchungen zu Simon Roths "Ein Teutscher Dictionarius" (1571).
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013.
255 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783825361440

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