Kunstfigur versus Schauspieler

László F. Földényis Nach-Lese zu Kleist und Craig

Von Gabriele KappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Kapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der ideale Schauspieler wäre der, dessen Verstand vollkommene Symbole für seine ganze Natur finden und uns vorweisen könnte.“ (Edward Gordon Craig: Die Künstler des Theaters der Zukunft, 1907)

Über das Paradox der Überlegenheit der Marionette gegenüber dem nur von seiner ‚Natur‘ geleiteten Schauspieler spekulierte Ende des 18. Jahrhunderts bereits Denis Diderot („Paradoxe sur le comédien“, 1777/1830). Im Jahr 1810 ist der Dramatiker Heinrich von Kleist davon ebenso affiziert wie fast genau 100 Jahre später der Theaterreformer Edward Gordon Craig. Verhandelt wird die schillernde Bedeutung der Person des Schauspielers, der zugleich als Medium und als Subjekt agiert. Dabei geht es vor allem um die Ausdrucks-, Darstellungs- und Nachahmungsproblematik.

Diesen Fragenkomplex umkreist eine Sammlung von vier Texten, die 2012 unter dem Titel „Marionetten und Übermarionetten“ erschienen sind: Heinrich von Kleists „Über das Marionettentheater“ (1810), in der Fassung der Brandenburger Ausgabe (1997) und Edward Gordon Craigs „Der Schauspieler und die Übermarionette“ („The Actor and the Über-Marionette“; 1908), ein Nachdruck aus der ersten, mittlerweile lange vergriffenen deutschen Craig-Ausgabe von 1969, der Textsammlung „Über die Kunst des Theaters“ („On the Art of the Theatre“; 1911). Kleist und Craig werden von zwei Essays von László F. Földényi flankiert: „Die Inszenierung des Erotischen. Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater“, der bereits 2001 im Kleist-Jahrbuch publiziert worden war, sowie der für diesen Band geschriebene Text „Der Tod und die Über-Marionette“.

Mit Kleists tiefgründigem Dialog und Craigs polarisierendem Manifest stehen zwei Texte zur Diskussion, die aus dem Theaterdiskurs nicht mehr wegzudenken sind. Im Mittelpunkt von Kleists vielgedeutetem Kunstgespräch steht der Konflikt zwischen Bewusstsein und „natürlicher Grazie“, eine Frage, die vorrangig an Bewegungskünsten wie (Marionetten-)Tanz und Fechten exemplifiziert wird. In Craigs Idee eines neuen Theaters scheinen ästhetisch Unkalkulierbares wie die „lebenswahre“ Menschendarstellung und das anvisierte absolute Schönheitsideal unververeinbar. Dagegen wird das von der künstlerischen Imagination Beherrschbare ausgespielt: die Kunstfigur, die Marionette. Craigs Text steht als Fanal für die Erneuerung und Retheatralisierung eines Theaters, das in die Sphäre von Kult und Tempel und damit in seine ureigene Sprache zurückgeführt werden soll — eine ästhetische Synthese von reiner Geste, Bewegung („motion“), Rhythmus und Tanz. Fragwürdig wird damit das Unkontrollierbare menschlicher Darstellungskunst, vor allem aber auch die Dominanz des literarischen Textes. Der Nachdruck des von Craig erstmals 1908 in „The Mask“ veröffentlichten Aufsatzes, eines der Gründungsdokumente des modernen Theaters, ist ein immenser Gewinn für den Leser. Hier liegt das große Verdienst des Verlages.

László F. Földényi, geboren 1952, ist Essayist, Kunsttheoretiker, aber auch Herausgeber einer ungarischen Kleist-Ausgabe und Autor eines poetischen Wörter-Buchs zu Kleist („Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter“, 1999). Als kongenialer Autor (nicht als Herausgeber) fokussiert er in seinen Essays zu Craig und Kleist zwei Schwerpunkte. In erster Linie konzentriert er sich auf die philosophische Ausrichtung der beiden Texte. Im Aufsatz zu Craig betont er als Gemeinsamkeit deren metaphysische Dimension: Die „Metaphysik, die den Menschen stets daran erinnert, welchen Platz er im Kosmos einnimmt“, verspreche Hoffnung auf „Erlösung“ von dem Grundübel einer entgötterten, das Individuum vergötzenden modernen Welt. Ebenfalls aus diesem Blickwinkel liest er in „Die Inszenierung des Erotischen“ Kleist fast gänzlich in die Idealität eines platonischen Eros-Diskurses ein, wobei er das Hauptgewicht auf das Redegeschehen legt, das sich zwischen den beiden Protagonisten der Rahmenhandlung ereignet. In zweiter Linie lenkt seine Idee, Craigs programmatischen Text mit Kleists Kunstgespräch kurzzuschließen, die Aufmerksamkeit auf die Nachahmungs- und Theaterthematik, während erstaunlicherweise im Text zu Kleist die ‚Realien‘ der zentralen Puppentanz-Diskussion ausgespart bleiben.

Földényis Craig-Essay zeigt, dass die Theaterperspektive – hier insbesondere im Blick auf die Avantgarde-Bewegungen – auch über die Marionettenproblematik hinaus weitreichende Bedeutung für den Moderne-Diskurs hat. So, wenn Földényi das Netzwerk von Bezügen zwischen dem Reformer und seinen Vorläufern (Walter Pater, Maurice Maeterlincks Symbolismus), seinen Generationsgefährten (Arthur Symons, Harry Graf Kessler, Sándor Hevesi), aber auch hinsichtlich der neu sich formierenden Kunstrichtungen skizziert. Für deren Vertreter (Oskar Schlemmer, Filippo T. Marinetti, Antonin Artaud bis hin zu Robert Wilson) war er Anreger, Vordenker und Prophet eines „Theaters der Zukunft“. Fruchtbar auch der Hinweis auf die Schrift „Abstraktion und Einfühlung“ (1907) von Wilhelm Worringer, der Erklärungen für das damalige Interesse an außereuropäischer Kunst, am Kultischen und Archaischen liefert.

„Der Schauspieler und die Übermarionette“ öffnet die Tür zum Traum eines neuen Theaters und macht zugleich neugierig auf weitere Arbeiten des Reformers. E. G. Craig war nicht nur Visionär, Praktiker und Theoretiker eines zukünftigen Theaters, sondern auch Illustrator, innovativer Bühnenarchitekt und -bildner, Figurenbauer und genialer, von der Arts and Crafts-Bewegung herkommender Zeitschriftenherausgeber und -autor („The Mask“, 1908-1929).

Wenn die Sammlung der Texte nicht vollständig überzeugt, so liegt das an der mangelnden Achtsamkeit, mit der sie als Ganzes konzipiert wurde. So hätten, etwa durch ein kurzes Vor- oder Nachwort das Gegen- und Miteinander der kombinierten Texte sowie die von ihnen ausgehenden produktiven Impulse besser eingeführt werden können. Auch für ein Inhaltsverzeichnis fehlte offenbar die Zeit.

Dennoch ist der kleine Band mit der Wiederentdeckung des in Deutschland fast nur Spezialisten bekannten Edward Gordon Craig ein Gewinn und zum Nach-Denken sehr zu empfehlen. Dies könnte, das ist zu wünschen, der Auftakt sein für weitere Auftritte dieses „Künstler[s] der Kunst der Bühne“ (Harry Graf Kessler).

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Heinrich von Kleist / Edward Gordon Craig / László Földényi: Marionetten und Übermarionetten.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
110 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783882214970

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