Schwierig, die Menschen

Über Steven Uhlys Roman „Glückskind“

Von Kathrin SchlimmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Schlimme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wieder so ein Scheißtag.“ Wieder so ein Tag, an dem das Aufstehen ungeheuerliche Anstrengung bedeutet, und nach dem Aufstehen müsste so viel passieren. Wieder so ein Tag voller Selbsthass, weil eben nichts passiert. Hans D. – Mittfünfziger und Hartz IV-Empfänger – ist kurz davor, aufzugeben. Aber auch das würde eines Entschlusses bedürfen und damit Aktion, zumindest gedanklicher.

Da passiert etwas absolut Unvorhersehbares: Hans D. findet im Müll ein Kind, ein weinendes Baby, ein kleines Mädchen. Und alles wird anders. Die Geschichte Steven Uhlys mutet beinahe märchenhaft an, wäre geradezu prädestiniert, zu verklären und ins Kitschige abzugleiten. Uhly gelingt es jedoch vortrefflich, gerade dies zu vermeiden – und zwar mit einer sehr authentischen Sprache, die die einzelnen Figuren überaus glaubhaft macht, und einem schlichten, ungekünstelten Erzählstil, der jegliche Rührseligkeit meidet. Mittels der Beschreibung einiger weniger Details schafft es Uhly, seine Figuren samt Innenleben stimmig zu skizzieren, schreibt klar und eher knapp und lässt so etwaige Langeweile beim Lesen gar nicht erst aufkommen; mehr noch: er berührt.

„Das Baby schreit weiter, leise, heiser. Jemand muss helfen, denkt Hans. Als Nächstes kommt ein Jugendlicher vorbei, er ist wohl auf dem Heimweg. Hans sagt: ,Entschuldige, ich habe Hausverbot im Supermarkt, aber mein Enkel hat Hunger, ich gebe dir Geld und du kaufst mir eine Babymilch, okay?‘ Der Jugendliche ist ein schlaksiger Kerl, einen Kopf größer als Hans, vielleicht vierzehn Jahre alt, Lederjacke, eine Jeans, die tief im Schritt hängt, Schuhe ohne Schnürsenkel, aber mit Ösen, um die Schulter eine Ledertasche an langer Schlaufe. Keine Körperspannung. Er betrachtet Hans mit einer Mischung aus Scheu und Verachtung. Das Baby schreit. Der Jugendliche sagt: ,Okay, ich mach’s.‘“.

Hans D. meidet Menschen, soweit es sich irgend machen lässt, und erst recht Gefühle, die aus dem Zusammentreffen mit Menschen resultieren; das hat er jahrelang geübt. Mit diesem Kind, das er Felizia, Glückskind, nennt, hält er es dennoch nicht durch. Zum einen ist er mit Felizia plötzlich auf Hilfe angewiesen und gerät zwangsläufig mehr und mehr in Kontakt mit Menschen; Felizia ist nur die erste, bleibt aber längst nicht die einzige. Mit diesen Begegnungen funktioniert es nicht mehr, die gewohnte Gleichgültigkeit beizubehalten. Zum anderen ruft Felizia selbst lange vergrabene Erinnerungen an Hans’ eigene Kinder wach, an seine Tochter und seinen Sohn, auch an seine längst verloren gegangene Ehefrau. Beides führt Hans D. hin zu neuer Sensibilität, ermöglicht ihm neu zu denken und schließlich wieder zu leben. Sein Weg dorthin macht nachdenklich. Wie kann Zusammenleben gelingen, mit näheren und ferneren Menschen? Was ist Verantwortung? Was ist gerecht? Was ist Glück? Steven Uhly gibt Antworten, die viel mit Liebe zu tun haben, auch mit deren dunklen Seiten.

„Wieder so ein Scheißtag. Hans D. macht den Wecker aus. Wenn er ihn nicht stellt, bleibt er einfach liegen. Manchmal den ganzen Tag. Wenn er ihn stellt, wie heute, hasst er seinen Wecker. Und er hasst sich selbst, weil er nicht hochkommt […]. Er will sich das alles nicht klarmachen, er will nicht wahrhaben, wie es ihm geht, nämlich schlecht, so schlecht, dass er es kaum erträgt, einen klaren Gedanken zu fassen, den einzigen, der in Frage käme: Reiß dich zusammen, Hans! Ändere dein Leben!“

Titelbild

Steven Uhly: Glückskind. Roman.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2012.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951165

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