Die Patientin als kunstseidenes Mädchen

Gabriele Dietze und Dorothea Dornhof haben einen Sammelband zum Thema „sexuelle Moderne und urbaner Wahn“ herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor nicht ganz einhundert Jahren entfaltete der deutsche Soziologe Max Weber sein Theorem von der „Entzauberung der Welt“. Ein Wort, das Karriere machte. Zu Beginn der 1980er-Jahre – mitten im sogenannten New Age also – verkündete der amerikanische Historiker Morris Berman das „Ende des Newtonschen Zeitalters“ und begrüßte nicht ganz so erfolgreich „die Wiederverzauberung der Welt“.

So nehmen Gabriele Dietze und Dorothea Dornhof im einleitenden Text des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes „Metropolenzauber“ auch auf Weber und nicht auf Berman Bezug, was umso näher liegt, als sich die Beiträge über „sexuelle Moderne und urbaner[n] Wahn“ auf die Jahrzehnte vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende konzentrieren und, wie die Herausgeberinnen darlegen, Webers These zu „relativieren“ versuchen, indem sie „anstatt Verzaubern und Entzaubern als eine ‚entweder/oder‘-Konstellation zu begreifen einen ‚beides/und‘-Zustand favorisieren“. Dabei „lesen“ die Beitragenden die „spezifisch moderne Urbanität eher unter dem Gesichtspunkt ihrer Faszinationskraft“ als unter der „Perspektive von Zivilisationskritik“.

Dietze und Dornhof haben, die von ihnen eingeworbenen Aufsätze unter vier „Assoziationsfelder“ mit den Titeln „Verortungen“, „Verfehlungen“, Verführungen“ und „Begehren“ rubriziert. Etwas mehr wertschätzende Aufmerksamkeit gegenüber ihren AutorInnen wäre allerdings wünschenswert gewesen. So schreiben sie nicht nur den Namen einer der Beitragenden fehlerhaft, sondern verwechseln zudem den Titel des Aufsatzes der Betreffenden mit dem einer andren Autorin des Bandes.

Die Beiträge behandeln mehr und weniger skandalöse Ereignisse, moderne Phänomene teils pathologischer Art, Filme, die Furore machten, oder außergewöhnliche Menschen des öffentlichen Lebens. Rainer Herrn eröffnet den ersten Teil mit einem für einen Beitrag in einem Sammelband sehr detailreichen Aufsatz über „Topografie, Architektur und Funktion des Instituts für Sexualwissenschaft zwischen Wahrnehmung und Imagination“.

Norman Domeier macht im Eulenburg-Skandal die „Geburtsstunde der Homophobie“ aus. Dem „Schaufenster-Wahnsinn“ und den damals beliebten „Völkerschauen“ widmen sich die Beiträge von Nina Schleif und Britta Lange. Letzterer verortet die Bella-Coola-Völkerschau von 1885/86 „zwischen Anthropologie und Salonmagie“. Rafael Huertas und Enric J. Novella stellen in dem gemeinsam verfassten Beitrag „Wissenschaft, Politik und Wahn“ die Spanierin Hildegart Rodríguezvor, die im Alter von nur 18 Jahren von ihrer Mutter getötet wurde, in den wenigen Jahren ihres Lebens aber mehrere Texte über Sexualität, Karl Marx und Malthusianismus verfasste.

Das Interesse von Petra Fuchs wiederum gilt der Berliner Charité, genauer gesagt dem dort praktizierenden Neurologen und Psychiater Franz Kramer und seiner 19-jährigen Patientin Herta B., deren „Fallgeschichte“ er in seiner Publikation „Haltlose Psychopaten“ berichtet. Fuchs entdeckte bei der Lektüre des Aufsatzes „überraschenderweise“, dass sich die „narrative Struktur“ der Darstellung wie der „vorweggenommene Roman ‚Das kunstseidene Mädchen‘ Irmgard Keuns“ liest.

Einer Institution ganz anderer Art wendet sich Tobias Becker zu: dem damals überaus populären Varieté. In zwei „Schritten“ zeichnet Becker zunächst die damals nicht selten geübte Kritik am Varieté als „Motor der Prostitution“ nach, um ihr sodann seine Darstellung der „Praxis von Bühne und Zuschauerraum, von Aufführung und Publikumsverhalten gegenüberzustellen“. Becker verharmlost in seinem Text „Theater, Großstadt und Sexualität um 1900“ den der Prostitution zugrundeliegenden Sexismus mit seiner affirmativ verschleiernden Terminologie, die ihn etwa zu den Begriffen „arbeiten“ (für sich prostituieren) und „Kunden“ (für Freier) greifen lässt. Die Prostituierten in den Varietés seien „keineswegs alle beklagenswerte Geschöpfe“, versichert er. Und selbst ein „emanzipatorisches Potenzial“ mag er der Prostitution nicht ganz absprechen, wenn auch „wahrscheinlich weniger für die Prostituierten selbst“, wohl aber „für die jungen Frauen der Mittelschicht, die sie imitierten“.

Einer Kunstfigur geht Dietmars Schmidt in seinem „Lulu oder Vom Irrsinn der Wiederholung“ betitelten Beitrag nach. Fast scheint er sich mehr noch als für Wedekinds Titelfigur für ihren Mörder zu interessieren, den er als Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Figur interpretiert. „Die Charaktere des schüchternen, zärtlichen Jack und des Lustmörders wissen nichts voneinander, sie sind durch kein Erinnern verbunden“, konstatiert er. Dabei konzentriert er seinen Blick nicht auf Wedekinds Stück, sondern auf Georg Wilhelm Pabsts cineastische Stummfilm-Adaption „Büchse der Pandora“ und entfaltet die „Pathologie des gespaltenen Bewusstseins“ Jack the Rippers als „genuin filmisch“, wofür er fünf insgesamt recht überzeugende Argumente anführt.

Wenn auch nicht ein gespaltenes Bewusstsein, so doch „extreme Stimmungsschwankungen“ macht Irene Gammel bei der für ihre damals als skandalös geltenden Auftritte bekannten Dichterin und Performance-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven aus. Die Autorin geht dem bisher von der Forschung vernachlässigte Verhältnis zwischen Freytag-Loringhovens „prekärer psychischer Verfassung und der Rhetorik“ sowie der „Ästhetik ihres kreativen Schaffens“ nach, wobei sie „Wahnsinn als sowohl rhetorischer Performance wie auch als klinisches Phänomen“ interessiert. Entdeckt Gammel in den während der Jahre 1924 und 1925 niedergeschriebenen Memoiren der Künstlerin vor allem einige „manische Höhen“, so findet sie in deren Briefen aus dieser Zeit hingegen weit mehr Anzeichen einer „tiefen Depression“ der Performance-Künstlerin.

Die Beiträge von Dietmar Schmidt und Irene Gammel zählen zu den erhellendsten des Bandes, der allerdings auch darüber hinaus so manchen Text enthält, der für alle, die sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht mit der frühen Moderne befassen von einigem Interesse sind.

Titelbild

Gabriele Dietze / Dorothea Dornhof (Hg.): Metropolenzauber. Sexuelle Moderne und urbaner Wahn.
Böhlau Verlag, Wien 2014.
390 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783205789345

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