Die Illusionen der Paranoiker

Die Moderne und das Krimigenre sind eng miteinander verknüpft. In Luc Boltanskis Studie „Rätsel und Komplotte“ ist davon aber wenig zu spüren

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Kern von Luc Boltanskis preisgekrönter Studie über Krimis und Thriller stehen die Phänomene des Rätsels und des Komplotts, und mit ihnen eine Lesart von Gesellschaft, die für einen Soziologen dieses Kalibers immerhin aufschlussreich, wenn nicht überraschend ist. Das geht nicht nur darauf zurück, dass Boltanski Krimigenre und Thriller mit den Phänomenen des Rätsels und der Paranoia eng verknüpft, auch wenn sich das ohne weiteres nachvollziehen lässt: Das Rätsel steht für Boltanski für das Verbrechen, dessen Hergang aufgeklärt werden muss, während die Paranoia unterhalb der Oberfläche von gesellschaftlicher Normalität geheime Mächte am Werk sieht.

Letzteres ist das Kernparadigma des Thrillers, hat jedoch auch im Krimi seinen Ort, wie ein knapper Dialog in einer Folge der US-amerikanischen Krimiserie „Bones“ zeigt (hier in der deutschen Fassung): „Es gibt Geheimbünde, die heute noch aktiv sind“, sagt dort einer der Nerds (Jack Hodgins) und fügt hinzu: „Etwas anderes zu denken, wäre naiv.“ Auf das Zögern seiner Gesprächspartnerin fragt er: „Sie denken, ich bin paranoid.“ Und erhält zur Antwort: „Nein, kommt drauf an wie paranoid.“

Die Paranoia hat mithin ihren Ort mitten im rationalen Denken, mindestens aber in jener Fassung des Rationalen, die sich mit dem Irrationalen, dem Bösen, dem Bruch des gesellschaftlichen Konsenses und Vertrauensprinzips beschäftigt, mithin in Krimi und Thriller. Wer also Verbrecher jagt und Verbrechen aufklären will, muss an eine geheime Realität glauben, mindestens jedoch mit ihr rechnen, will er oder sie erfolgreich sein.

Allerdings ist die Kontamination dieser Sichtweise von Realität mit dem Pathologischen, die im Paranoia-Begriff enthalten ist, selbst wieder fragwürdig. Die Konstruktionen von Krimi und Thriller sind gleichwohl medial und kulturell begründbar. Anders sieht dies in der Lebenswelt aus, in der eine paranoide Wahrnehmung in der Regel extrem unpragmatisch ist. Verschwörungen und Komplotte geben gute Stories und Erklärungsmuster ab, sind aber eben schlechte Ratgeber fürs tägliche Leben. Mithin, sie haben Funktionen auf einer anderen Ebene.

Das lässt sich an Boltanskis Studie recht genau sehen: Deren Schräglage ergibt sich nämlich daraus, dass Boltanski für den Krimi-Teil ein denkwürdiges Verständnis von moderner Gesellschaft präsentiert, während er für den Thriller das Paradigma Paranoia vor allem von einer wissenschaftlichen, speziell soziologischen Wahrnehmung und Beschreibung von Gesellschaft abzugrenzen versucht. Dabei werden dann angemessene und nicht-angemessene Wahrnehmungen unterschieden, allerdings nicht entwickelt am Erfolg der Wahrnehmung, sondern an deren Plausibilität. Das aber reicht als Unterscheidungskriterium nicht aus, solange dahinter die Vorstellung regiert, eine angemessene Wahrnehmung müsse sich nicht mit den sprachlichen Zeichen und Bedeutungen abgeben. Boltanski glaubt nämlich in der Tat, dass sich nur für den Paranoiker „die Welt“ „als ein Komplex aus Zeichen“ darstellt, „die dekodiert werden müssen“, während die wissenschaftliche, mithin die soziologische Wahrnehmung sich an der Realität selbst abarbeitet. Das klingt existenzialistisch motiviert – zeichentheoretisch jedoch ist das Anlass immerhin für grundsätzliche Fragezeichen hinter Boltanskis Prämissen. Denn welche Welt bestünde nicht aus Zeichen, die erfolgreich interpretiert werden müssen, damit Handeln möglich ist?

In der Beschreibung der Moderne hat sich in den vergangenen Jahren ein dynamisches Muster durchgesetzt. Danach ist Moderne eben nicht nur von einer simplen Homologie von jeweiliger Gegenwart und Ausstattungen gekennzeichnet, sondern von der Dynamik der Veränderung gesellschaftlicher Wahrnehmungen, Phänomene und Zustände. Das geht nicht zuletzt zurück auf ein Diktum des „Kommunistischen Manifests“, in welchem dem Kapitalismus nachgesagt wird, dass er keine gesellschaftliche Institution unberührt lasse und sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse zerschlage und auflöse – ein Phänomen, das, kombiniert mit der zunehmenden Dynamik dieser Prozesse, dem heutigen Leser deutlich in den Ohren nachklingt. Mit anderen Worten hat die Moderne seit dem 19. Jahrhundert innerhalb der Industriegesellschaften nichts und niemanden unberührt gelassen, nicht einmal den Himmel über den Subjekten und nicht einmal sie selbst, um auf ein bekanntes Diktum Walter Benjamins anzuspielen.

Im Kontext dieser Konstellation und dieses Verständnisses von Moderne hat die enge Verbindung des Krimi-Genres und auch des Thrillers mit der Moderne einen eigentümlichen Charakter. Sie ist eng verbunden mit einer auf der einen Seite komplexen und für den einzelnen undurchschaubaren Gesellschaftsstruktur, die auf der anderen Seite dringend der Erklärung bedarf, damit sie operationalisierbar wird.

Erklärung, Deutung – im Vokabular Boltanskis – und Auflösung (von Rätseln) stehen mithin im Zentrum des Genres, das sich zugleich der Rationalisierung von Erklärungen verschrieben hat. Damit verlagert sich jedoch das basale Problem weg vom Einzelereignis, das nichts weniger als kontingent ist, hin zum Gesamtensemble, in dem die Einzelfälle vor allem signifikanten Charakter haben. Und damit wird zugleich dieses Gesamtensemble als problematisch erkennbar. Der Fall zeigt die wahlweise Fragilität oder Fluidität, Komplexität oder Abstraktheit von Gesellschaft an – nicht jedoch ihre Stabilität oder Konsistenz.

Damit aber erhält Boltanskis Verständnis des Krimis wie des auslösenden Falles ihr Gefälle. So spricht Boltanski vom Rätsel, das als Riss durch das Gefüge von Gesellschaft gehe, der eben deshalb dringend wieder geschlossen werden muss. Belässt man es bei der nicht minder denkwürdigen Homologie, die Boltanskis Beschreibung des die Handlung auslösenden Falles mit Todorovs Charakterisierung der Fantastik zeigt, so lassen sich an diesem Denkmuster zwei auffallende Elemente erkennen: die Isolierung des Falls und die Bestimmung von Gesellschaft. Diese nämlich wird als stabil und sistiert verstanden, was als Nachklang des Weber’schen Verständnisses der Bürokratie als „stählernem Gehäuse“ verstanden werden kann: „Das Rätsel sticht nämlich nur vor dem Hintergrund einer stabilen Realität heraus.“

Nun wäre aber nichts weniger fantastisch als eine stabile Realität anzunehmen, wenngleich dies als eines der wirkungsmächtigsten Fantasmen der bürgerlichen Gesellschaft anzusehen ist. Für die kritische Forschung der 1930er-Jahre übrigens ein gängiges Paradigma, wie die in den 1970er-Jahren mehrfach wiederaufgelegte Exilstudie von Joachim Schumacher über die Angst des Bürgers vor dem Chaos belegen mag („Die Angst vor dem Chaos.“).

Aber auch aus einer anderen Perspektive ist die Dynamik der Gesellschaften des 19. Jahrhunderts offensichtlich – und die Funktion der Idee einer in sich ruhenden, stabilen gesellschaftlichen Ordnung: Im Rahmen der Nationalisierungsbemühungen des 19. Jahrhunderts ist der Wunsch nach der Sistierung gesellschaftlicher Handlungsstrukturen funktional. Die enormen Dynamiken der Industriegesellschaften im selben Zeitraum, der für Boltanski eine zentrale Rolle spielt, da das Genre hier begründet worden sei, zeigen jedoch eben dies, nämlich dass diese Idee funktional und fantasmatisch zugleich ist.

Damit gerät aber Boltanskis Skizze der sozialen Struktur etwa der Sherlock Holmes-Geschichten zur Farce: Gerade weil sie auf eine traditionale hierarchische Struktur verweisen, zeigen sie deren Brüchigkeit und ihren Anachronismus an und eben nicht deren Stabilität. Die Betonung der gesellschaftlichen Hierarchien und der funktionalen Differenzen des Personals der Texte verweist eben nicht darauf, dass diese gesellschaftliche Struktur noch Bestand hat, sondern dass sie zum Fantasma abgesunken ist.

Die Störung der angeblich so gesicherten Ordnung und die Bemühungen um die Rationalisierung der Verfahren und Deutungen zeigen nämlich in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in die der Entzauberung der Idee der stabilen Gesellschaft. Sherlock Holmes visiert demnach nicht die Restituierung der Ordnung an, sondern treibt deren Destruktion weiter voran. Und zwar, indem er Gesellschaft und gesellschaftliches Handeln rational erklärt: Es geht nicht darum, die Risse in der Welt zu reparieren, die durch das Rätsel (den Fall, die Tat) entstanden sind.

Ganz im Gegenteil, die Konstruktion ist einfach nur umzukehren, wobei das Skandalon des Krimis auf beiden Seiten der Linie besteht, auf jener der Tat und auf jener der Aufklärung des Falls. Es geht darum, die Fragilität von Gesellschaft aufzuzeigen und sie soweit möglich aufzuheben. Die verbrecherische Tat – und insbesondere der Mord – zeigt sich dabei als Extrem der wirkungsvollen Handlung, als letztes Refugium des Einflusses, den ein Einzelner auf Welt haben kann.

Das widerspricht allerdings der Vorstellung kategorisch, dass die Gesellschaft aus einem fugen- oder risslosen Gehäuse besteht. Die Vorstellung der bürgerlichen Behaglichkeit ist zwar ein hohes Gut, das bewahrt werden muss. Damit verbunden ist aber die Gewissheit, dass diese gesellschaftliche Realität mit anderen gesellschaftlichen Ebenen konkurrieren muss – ein Motiv, das in Boltanskis Beschreibung des Thrillers wiederkehrt. Die Oberfläche der bürgerlichen und zivilisierten Gesellschaft verbirgt nur die Tiefenstrukturen einer sozialen Wirklichkeit, die entschieden grausamer und bösartiger ist als alles, was in der zivilisierten Welt Platz findet. Mehr noch, die Überzeugung, dass verborgene Mächte die Welt eigentlich regieren, vielleicht auch das Böse selbst, grenzt an Gewissheit, was in der Denkwelt von Boltanski nichts weniger als paranoid ist. Und dem ist zuzustimmen, ohne diese Gewissheit erschüttern zu können.

Dasselbe gilt für die andere Seite des Handlungsstranges, die Aufklärung der Tat: Sie ist es nämlich, mit der die ungeordnete Welt überhaupt erst so etwas wie Ordnung erfährt, wird in ihr doch das Erklärungsmuster entwickelt, wie Realität insgesamt, die Tat aber insbesondere funktioniert. Die ungeheure Vielzahl von Handlungs- und Ableitungsalternativen wird in der Aufklärung, die die Tat erklärt, auf ein Minimum reduziert. Dieses Erklärungsmuster jedoch konstituiert damit überhaupt erst die Ordnung, die in der Denkwelt Boltanskis ja erst mit der Tat ihren Riss erhält. Soll heißen, die aufklärende Aktivität ist die ordnungs- und damit sinnstiftende Aktivität in einer ansonsten chaotischen und in Auflösung begriffenen Welt.

Die wissenschaftliche Aufklärung unterscheidet sich von der paranoiden nun nicht darin, dass die eine angemessen, die andere jedoch offensichtlich falsch ist, sondern gleicht ihr in ihrem Gegenstand, ihren Verfahren und ihren Ergebnissen, ihrem Effekt. Selbst das Kriterium Erfolg kann die wissenschaftliche Wahrnehmung nicht vollständig für sich in Anspruch nehmen, wie ihre Irrgänge in den vergangenen Jahrhunderten gezeigt haben. Eine Welt ohne Gott als Letztursache anzunehmen, hat bis weit in die Gegenwart hinein fatale Folgen für diejenigen gehabt, die diese Ansicht vertreten haben. Und an eine Transzendenz zu glauben, gilt auch heute nicht als Zeichen für eine Paranoia, sondern als Bekenntnis – während an Geister zu glauben wahlweise als kindlich oder paranoid gilt. Oder eben zumindest als unterhaltsame mediale Unterstellung.

Das führt zu der Erkenntnis, dass zwar Erfolg als Unterscheidungskriterium greift, dabei aber relativ schwach ist, zudem zeitgebunden und abhängig von einer Reihe von Rahmenbedingungen. Erfolg ist mithin kontextuell gebunden und die Konkurrenz der Erklärungsmodelle ist nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Für die soziologische Erkenntnis besagt das nichts anderes, als dass sie in ihren methodischen Bemühungen nicht nachlassen darf. Für Krimi und Thriller jedoch, dass sie in allem frei sind zu schreiben, was ihnen recht ist. Die Diffamierung von Realitätslektüren als paranoid, mithin ihre Pathologisierung wird damit als hinreichend erfolgreich, aber sachlich wenig belastbares Ausschlussverfahren erkennbar – auch wenn es in zahlreichen Fällen nachvollziehbar ist.

Erhellend ist dabei, dass Boltanski selbst auf klinische Studien zur Paranoia verweist, in denen die Verschwörungsillusionen des Paranoikers von dem „starken Gefühl“ ausgehen, dass „hinter dem äußeren Anschein, dessen unmittelbarer Sinn sich verflüchtigt hat, etwas versteckt liegt“. Darin eine Beschreibung der Normalität moderner Realitätswahrnehmung zu sehen, ist kaum zu weit hergeholt – was allerdings die Existenz pathologisch-paranoider Wahnvorstellungen nicht negiert, sondern ihre Abgrenzung von angemessenen Wahrnehmungen erschwert.

Unter dieser Prämisse sind Krimi und Thriller nichts weniger als offensichtlich paranoid. Sie können jedoch medial derart erfolgreich sein, eben weil sie alternative und entlastende Erklärungsmuster und Handlungsmodelle vorführen, in denen die relative Wirkungslosigkeit der individuellen Existenz, die Abhängigkeit von abstrakten Mächten und unbeeinflussbaren Entwicklungen wahlweise gedeutet oder aufgehoben werden kann. Anders gewendet, es ist einfacher an einen Komplott krimineller Elemente zu glauben respektive ihn als unernstes Spiel vorzuführen als an allgemeine Entwicklungen, die niemand ernsthaft zu bestimmen oder auch nur zu beeinflussen scheint. Und es ist spannender, einen solchen Komplott aufzudecken oder ihn zu entwickeln, als sich mit den Effekten von Börsenspekulationen oder des Hochfrequenzhandels zu beschäftigen. Dies wird erst dann wieder interessant, wenn solche Techniken missbraucht werden und irgendeinem Schurken zur Verfügung stehen.

Titelbild

Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft.
Übersetzt aus dem Französischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
515 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585986

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