Der Hirte ist dein Herr

Die Tübinger und Frankfurter Poetik-Vorlesungen von Marlene Streeruwitz liegen nun in einem Band vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar hatte das letzte Jahrtausend noch nicht ganz geendet, als die österreichische Literatin Marlene Streeruwitz zunächst in Tübingen und danach in Frankfurt Poetik-Vorlesungen hielt, doch sind sie auch nach annähernd zwei Dezennien noch immer zukunftsweisend. Denn nach wie vor liegt die von Streeruwitz in Theorie und literarischer Praxis angestrebte nichtpatriarchalische Sprache als Aufgabe vor uns. Wenngleich die Literatin, ebenso wie etwa die Linguistin Luise F. Pusch seit geraumer Zeit nicht nur die Richtung weisen, sondern selbst kräftig voranschreiten – mit offenem Ende, gerade so wie es feministischen Utopien eigen ist – ganz im Unterschied zu denjenigen der Herren Utopisten von Morus bis Morris.

Nun liegen Streeruwitz’ Poetik-Vorlesungen gemeinsam in einem preisgünstigen Suhrkamp-Taschenbuch vor, ergänzt um ein aktuelles Gespräch, das Christian Metz jüngst mit der Autorin führte. So lässt sich noch einmal nachlesen, warum die Ausgestaltung des Ziels einer (geschlechter-)gerechten Sprache und einer nicht patriarchalen Poetik nicht bereits heute schon endgültig vorgezeichnet ist und ausgemalt wird. Zwar wäre es natürlich „verführerisch, erklärt zu bekommen, wie es richtig ist. Richtig gemacht wird. Wie ordentliche, richtige Literatur gemacht wird.“ Stattdessen aber gilt es „zu verstehen, warum es nicht mehr wie in der patriarchal geordneten Poetik funktionieren kann, in der man einfach eine poetische Lizenz löste und damit zu dichterischer Freiheit gelang.“

Denn die „nicht patriarchale Poetik“ hat erkannt, dass gerade „nicht einfach nur neu gedacht werden kann“. Vielmehr ringt sie darum, „wie anders gedacht werden kann. Wie ein Anders-Denken möglich werden kann, obwohl wir keine andere Sprache als die patriarchale kennen“ und „können“. Dabei gelte es auch, der „Kolonialisierung unserer Grammatik“ entgegenzuwirken, indem „mit der Hilfe der zu entledigenden Sprache eine neue Sprache geborgen“ wird. Ein Anliegen, mit dem Streeruwitz in der Tradition etwa von Verena Stefans „Häutungen“ steht.

Dabei bietet Streeruwitz einiges mehr als Sprachkritik – nämlich Gesellschafts- und Machtkritik, die sich nicht zuletzt als Kritik an „Medizinmännern“ und vor allem an Hirten und Jägern äußert. Sie – die Hirten und Jäger – sind es, die von Alters her die Macht innehaben. Denn sie gebieten darüber, wer zu töten ist und wer zu essen bekommt. Die Hirten aber haben diese Macht perfektioniert, indem sie sie sozusagen industrialisierten. Denn „das ist ja der Sinn der Herde, Nahrung für den Hirten zu sein“.

Das Gespräch zwischen Streeruwitz und Metz, das der Verlag vermutlich als Kaufanreiz für diejenigen angehängt hat, die die beiden ursprünglich getrennt erschienenen Poetik-Vorlesungen bereits kennen oder gar besitzen, ist keineswegs ein überflüssiger Appendix. Gibt Streeruwitz hier doch einige weitere Denkanstöße in Sachen Poetik. So argumentiert sie etwa überzeugend gegen die Katharsis-Funktion, die Aristoteles von Dramen einforderte, indem sie betont, dass „der Verstand unbedingt mit angesprochen sein soll. Die Lektüre zielt nicht auf punktuelle Erschütterung ab, sondern man oder frau sollen das Erkennen, das durchaus emotional ist, lange mit sich herumtragen.“

Ob die deutsche Sprache allerdings, wie von Streeruwitz behauptet, tatsächlich „in besonderem Maße rassistisch und hegemonialistisch“ ist, mag dahingestellt sein. Zweifellos ließen sich gute Gründe dafür anführen, dass sie rassistischer, hegemonialistischer und sicher auch sexistischer ist als etwa das Englische. Um aber begründet beurteilen zu können, ob sie dies tatsächlich auch ganz allgemein in einem besonderen Maße ist, müsste man zumindest eine repräsentative Vergleichszahl anderer Sprachen ebenso gut kennen. Schlicht aus sich selbst heraus überzeugt die These nicht. Dazu sind etwa Rassismen aus anderen Sprachen nur allzu bekannt. Die Chinesen wettern etwa nicht weniger über die ‚ahnungslosen Langnasen‘ wie diese über die ‚Schlitzaugen‘ – und die Inuit bezeichnen sich selbst in Abgrenzung zu anderen indigenen und nicht-indigenen Völkern als Menschen.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Poetik. Tübinger und Frankfurter Vorlesungen.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2014.
256 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783596196210

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