Gemäßigte Moderne und radikale Antimoderne

Das Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar richtet den Blick auf „Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein netter, gleichwohl etwas preziöser, indes nicht allzu weit getriebener Einfall, bei Robert Musil eine Anleihe zu machen und dessen auf die moribunde österreichisch-ungarische Monarchie gemünzten Begriff „Kakanien“ auf Weimar zu übertragen. So recht passen die Größenverhältnisse und Problemlagen nicht zueinander: hier die Residenz eines thüringischen Duodezfürstentums, dort die Metropole eines Völker und Länder umspannenden mitteleuropäischen Imperiums. Beides miteinander zu verknüpfen, stößt uns noch einmal darauf, dass  die Stadt an der Ilm in den Jahren unmittelbar vor dem Krieg ihre besten Tage bereits hinter sich hatte. Das ‚goldene Zeitalter‘ der Klassik und Romantik war nur noch ein vielfach mythologisierter, auch deutschnational eingefärbter Erinnerungsposten, das nachfolgende ‚silberne‘ der Nachklassik hatte weder dessen Höhe noch dessen Bedeutung erreicht, und es hatte überdies unter dem jungen, eher dem Militär als den Künsten zugeneigten, etwas grobianisch wirkenden Großherzog Wilhelm Ernst, der seit 1901 regierte, keine Heimstatt mehr. Anfänglich eine Politik moderater kultureller Erneuerung fördernd, favorisierte dieser Monarch bald jenen behäbigen, uninspirierten wilhelminischen Traditionalismus, in dem sich weite Kreise des städtischen Bürgertums wie der Hofgesellschaft längst schon häuslich eingerichtet hatten.

Um 1800 habe dem „Kleinen, äußerlich Bescheidenen ein lebendig universaler Geist zur Seite“ gestanden, konstatiert der Präsident der Stiftung Hellmut Th. Seemann, die gehaltvolle, hier nur in Ausschnitten zu würdigende Aufsatzsammlung des Jahrbuchs einleitend; hundert Jahre später sei davon nicht mehr viel übrig gewesen: „Dünkel, der sich für erzogen hält; das Gestelzt-Konforme der Rede; die intellektuelle Übellaunigkeit und die pedantische Emphase“. Weimar sei „zur nationalen Sache“ verhunzt worden, heißt es weiter. Noch vor 1914 habe sich eine „Unfruchtbarkeit“ ausgebreitet, die „wissenschaftlich, philosophisch, künstlerisch und kulturell keine Bilanz vorzuweisen“ hatte. Und doch: Die Stadt blieb selbst in dieser Periode der Stagnation und Regression ein Sehnsuchtsort. Schriftsteller, Kritiker, Essayisten von Rang und Namen, Repräsentanten unterschiedlicher literarischer Lager und Strömungen pilgerten dorthin, ließen sich nieder an der Ilm, zeitweilig oder für immer, den Geist der Goethezeit suchend, beflügelt von der Hoffnung, Muße und Anregung für das eigene Schaffen zu finden: Dehmel, Heyse, Hauptmann, Rilke, Kafka, Brod, Paul Ernst, Wilhelm von Scholz, Friedrich Lienhard, Samuel Lublinski, um nur diese zu nennen.

Burkhard Stenzel sieht Weimar nach dem Thronwechsel von 1901 „am Scheideweg“. Dahinter verbargen sich konfligierende Deutungs- und Geltungsansprüche, persönliche Animositäten, ideologische Grabenkämpfe, die Antagonismen von Moderne und Antimoderne, Provinz und Metropole, Heimat und Welt – Konflikte und Richtungsentscheidungen, die auch sonst im Deutschen Reich zu beobachten waren, insofern der Singularität entbehrten, im kleinräumigen Weimar jedoch, angespornt vom genius loci, ein gewisses Maß an Verdichtung erfuhren. Auf der einen Seite versammelten sich die Vertreter einer Modernisierung, die auf Pflege und Fortentwicklung, nicht auf Petrifizierung der Überlieferung setzten. Ziel war ein ‚Neues Weimar‘, das sich den kulturellen Strömungen der Zeit nicht verschließt, sich vielmehr öffnet, Anschluss gewinnt an die Moderne, durch Förderung des Kunsthandwerks auch die Gegenstandswelt des Alltags durchdringt.

Prominente Repräsentanten solcher Bestrebungen waren Harry Graf Kessler und der mit ihm befreundete belgische Architekt und Designer Henry van de Velde: dieser Leiter der Kunstgewerbeschule, jener des Museums für Kunst und Kunstgewerbe. Für einen kurzen Moment nur schien es, als könne dies alles gelingen, aber bereits 1906 war das Ende der Fahnenstange erreicht. Kessler trat von seinem Amt zurück, der Traum, die Residenz in einen Ort grundlegender, über die Stadtmauern hinaus weisender geistiger Reform zu transformieren, war ausgeträumt. Was blieb, war die Herausgabe der Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker, zwischen 1905 und 1921 im Insel Verlag publiziert, deren Programmatik und innovativem Gestaltungskonzept, aber auch den bei der Auswahl der Autoren eingegangenen Kompromissen Jörg Meier einen instruktiven Beitrag widmet.

Fortan dominierte, und das war die andere, im Jahrbuch ausführlich und eindringlich dokumentierte Seite der Entwicklung, ein deutschnationaler, teils unverhohlen antisemitisch gewandeter Habitus, getragen von Leuten, die „Kritik und Überwindung der Moderne“ auf ihre Fahnen schrieben. Deren Netzwerke, in denen „Vorstellungen von einer ‚Neuklassik‘, einem ‚Neuidealismus‘ und einer ‚neuen Romantik‘“ kursierten, rekonstruiert Justus H. Ulbricht; Barbara Beßlich spürt den „Weltanschauungswanderungen“ Friedrich Lienhards nach, für den die Provinz als „Rückzugsort“ von tatsächlichen oder vermeintlichen Zumutungen der Moderne figurierte, ein Heilmittel gegen die „bürokratisierte und technisierte Gegenwart“. 1916 ließ er sich endgültig in Weimar nieder, feierte den Krieg als „Reinigungsgewitter“, in dem sich „Deutschlands europäische Sendung“ kristallisieren werde. Weimar war für ihn, wie er 1918 schrieb, ein „Lebensbegriff“, Berlin hingegen ein bloßer „Literaturbegriff“. Gemeinsam mit dem Kritiker und frei schaffenden Germanisten Adolf Bartels gab er die Zeitschrift „Deutsche Heimat“ heraus; wie Lienhard war auch dieser ein Verfechter der „Heimatkunst“, ein vehementer Zivilisationskritiker, der in Weimar, wie Anja Oesterhelt zeigt, nach der Jahrhundertwende im Kulturbetrieb der Residenz zunehmend an Resonanz gewann, dabei „völkischen Regionalismus mit der Utopie nationaler Größe“ verknüpfte. Bartels, der in Weimar „Deutschlands Herz“ schlagen hörte, war rabiater Judenfeind, überzeugt, dass ein „guter Deutscher“ bekennender und praktizierender Antisemit sein müsse. Kein Zufall war, dass der Mann sich in den 1920er-Jahren als engagierter Begleiter der nationalsozialistischen Bewegung betätigte, und ebenfalls kein Zufall war, dass ihn das Regime nach 1933 mit allerlei Ehrungen überhäufte.

War Bartels der Verfechter einer radikalen Antimoderne, so waren die Literaturvereine der Stadt eher der Hort eines konventionellen Kulturnationalismus, freilich auch er nicht frei von Überhebung, Autosuggestion und Selbstmystifizierung. Die Goethe-Gesellschaft, 1885 in Weimar begründet, sah die „Erhaltung der politischen Größe“ des Reichs „Hand in Hand“ gehen mit der „Pflege und Förderung seiner idealen Güter“. Deren Vorstand erklärte sie 1903 zum „Fundament eines Leuchtturms, dessen ruhiges Licht weit in die bewegte See“ hinaus strahle. Diese Linie wird im Krieg fortgeschrieben, nun allerdings ist von „Weltmacht“ und „Herrschaft des deutschen Geistes“ die Rede. Insgesamt jedoch, so der Befund von Jochen Golz, waren unverkennbar ambivalente Elemente im Spiel: neben „philologischer Solidität“ das Bestreben, sich nach 1914 durch Anpassung an nationalen und bellizistischen Überschwang zu behaupten. Ausdruck innerer Zwiespältigkeiten war, dass 1914 bei der Jahresversammlung der „kaisertreue Reaktionär“ Gustav Roethe als Festredner auftreten durfte, 1915 der nationalliberale Historiker Max Lenz und 1916 der jüdisch-deutsche Musikwissenschaftler Max Friedländer.

In ähnlichen Gewässern segelte die 1864 in Weimar ins Leben gerufene, mit 700 Mitgliedern zahlenmäßig weniger imposante Shakespeare-Gesellschaft. Von ihr hatte zu Silvester 1899 Großherzog Carl Alexander gefordert, das „Erbe der klassischen Zeit“ als „nationalen Besitz zu hüten und fruchtbringend zu gestalten“ – oder wie es der Präsident, der in Berlin lehrende Anglist Alois Brandl formulierte: die Werke des Dramatikers für die „Förderung der nationalen Wohlfahrt auf idealem Gebiete“ in Anspruch zu nehmen. Auch hier sollte Weimar als „literarische Wallfahrts- und Hauptstadt“ dienen. Vergleichbare Zuschreibungen waren bereits in der Gründungsphase zu hören. Man wolle „nach Kräften dazu beitragen“, hieß es 1867, „den Engländer Shakespeare zu entenglisieren“, auf dass er werde, was er realiter schon sei, nämlich ein „deutscher Dichter“ im „wahrsten und vollsten Sinne des Wortes“.

Einblicke in die Geschichte des Vereins gibt Christa Jansohn, die ihren Aufsatz mit dem Beginn des Krieges ausklingen lässt. Im Jahrbuch der Gesellschaft von 1916 finden sich aus der Feder von Ernst Hardt die Verse eines Prologs, gesprochen im Herbst 1914 auf der Bühne des Stadttheaters Leipzig, der Shakespeares „einzige und wahre Heimat“ in Deutschland lokalisiert. Ein Jahr zuvor hatte Gerhart Hauptmann in dasselbe Horn gestoßen: „Es gibt kein Volk, auch das englische nicht, das sich ein Anrecht wie das deutsche auf Shakespeare erworben hätte.“ Das war wie anderes auch ein Dokument der Hybris, der Selbstüberhebung wie der Selbstisolierung, womit willentlich in Kauf genommen wurde, dass bis dahin gepflegte wissenschaftliche Kontakte zu den Kollegen in England abrissen. Es sollte Jahrzehnte dauern, ehe die Fäden wieder neu geknüpft werden konnten.

Titelbild

Franziska Bomski / Thorsten Valk / Hellmuth Th. Seemann (Hg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
372 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783835314344

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