Spielräume und Spieltage

Über eine Festschrift im Zeichen des Fußballs und eine etwas andere Geschichte der Bundesliga

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es muss „Spiel drin“ sein. Gewinnen, Verlieren, Abwägen und Entscheiden. Das ist die Botschaft eines ungewöhnlichen, von den Fragen aus dem Bereich des Fußballs inspirierten Herausgeberbandes, der Beiträge aus der Literatur- und Sprachwissenschaft und der Kultur- und Medienwissenschaft versammelt. Ein Freundschaftsspiel für den Bonner Literaturwissenschaftler Jürgen Fohrmann (Jahrgang 1953) zum 60. Geburtstag.

Im Sammelband werden Positionen, Spielweisen und Begriffe aus dem Fußballsport übernommen, denn es war der Fußball, der die meisten der hier aufgestellten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Freunde und Freundinnen zusammengeführt hat. Allen Beteiligten wurde ein Fußballbegriff zugewiesen, der genau einmal im Beitrag vorkommen sollte. Das war die Regel dieses Spiels. Die Spannbreite der Themenfelder reicht von Grimmelshausen bis zur Zukunft des Internets.

„Spiel“ kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutete ursprünglich „Tanzen“. So wirken auch hier verschiedene geistige Kräfte und Bewegungen der Autoren zusammen, die ihrer eigenen Spielweise folgen und dabei immer auch Spielräume erschließen, die neben und zwischen den wissenschaftlichen Feldern existieren. Diese Freiräume machen es erst möglich, strenge Regelwerke zu durchbrechen, neue Textkonstellationen auszuprobieren und eine Wirklichkeit hervorzubringen, die sich einem ausgeprägten Möglichkeitssinn verdankt. Das Spielfeld ist dabei auch in der Literaturwissenschaft ein Spannungsfeld, das von der „Gegenüberstellung der Spieler, von einander widersprechenden Konzeptionen, Begriffen und Theorien“, aber auch von Irritationen durch den „Gegenstand“ geprägt ist.

Der Beitrag „Der Dichter als Ärgernis“ von Ralf Schnell ist deshalb hervorzuheben, weil er am Beispiel von Heinrich Böll die Funktion des Schriftstellers in Kategorien des Fußballspiels beschreibt: Er nähme in einer Mannschaft öffentlicher Intellektueller vermutlich eine Position ein, die heute („im Zeitalter des fußballerischen Systemdenkens, im Zeichen der Viererkette und der flexiblen Raumdeckung, der offensiv orientierten Verteidiger und der defensiv agierenden Angriffsspieler“) obsolet geworden ist: die Position des Mittelläufers. Er ist zugleich Spielgestalter und Organisator der Defensive, der „Stopper“ mit der Nummer 5, „der den gegnerischen Mittelstürmer auszuschalten und zugleich für den Aufbau des Angriffs zu sorgen hat“. Es ist die Position, die in der Weltmeisterschaftself von 1954 Werner Liebrich übernahm und der später Franz Beckenbauer auf eigene Weise „Geschmeidigkeit und Flexibilität“ verliehen hat.

Der moderne Fußball bleibt nach Ansicht der „Spielführer“ des Buches ein so archaisches Phänomen wie die sophokleische Tragödie, in der ein Einzelschicksal immer mehr beeindruckt als die Masse. Das macht auch die Stärke und Faszination des Buches „Spieltage: Die andere Geschichte der Bundesliga“ aus, das 2013 zum Fußballbuch des Jahres gewählt wurde. Ronald Reng erzählt 50 Jahre Bundesliga entlang der Geschichte von Heinz Höher – abseits der Scheinwerfer.

Das Buch verzichtet auf die Aneinanderreihung von Typen, Toren und Tabellen und widmet sich einem Menschen, der das Leben stets als Spiel begriffen hat, und dem die Bundesliga das Gefühl gab, dass die Welt tatsächlich ein Spielfeld ist. Hier hat er Einzigartiges erlebt und angestellt: Höher war einst Spieler in Duisburg-Meiderich, dann Trainer in Bochum und beim 1. FC Nürnberg – hier der bislang einzige, den zu halten Spieler davongejagt wurden, die gegen ihn intrigierten. Später wird er entlassen. Alkohol, Krankheit, Fehlinvestitionen und Spielsucht zeigen die Rückseite seiner Fußballkarriere.

Heinz Höher verspürte den Drang, über all das zu sprechen und wählte als Gesprächspartner einen Schriftsteller in Barcelona, den er noch nie gesehen hatte, aber dessen Bücher er mit Interesse las. Er rief den in Barcelona lebenden Autor Robert Reng an, stellte seine Buchidee vor und reiste mit einem neongelben Rucksack voll vergilbter Zeitungsartikel über seine Zeit als Fußballprofi kurzentschlossen zu ihm. Sie sprachen über Liebe, Glück und Tod. Über Frauen, Ängste und Alkohol – über Fußball.

Geboren 1938, wird Heinz Höher während des Wirtschaftswunders in Leverkusen zum lokalen Fußballstar, der bereits 1962 mehr als ein Chemieingenieur verdient. Wenn er nicht trainiert, verbringt er seine Tage im Kaffeehaus, mit Mädchen oder beim Kartenspielen. „Der Heinz, leck mich am Arsch, sagten die Mitspieler, wenn er nicht in Hörweite war, den juckte gar nichts. Er war nicht nur ein Student der hohen Kunst des Nichtstuns, der einzige Hochschüler in der Mannschaft unter Buchbindern, Chemielaboranten und Lagerarbeitern, sondern auch Leverkusens unbestrittener Star, ein wirbelnder Außenstürmer“. Sie mochten ihn, auch und gerade, weil er so schrullig war. „Wenn alle vom selben schwärmten oder dasselbe machten, war das seine Sache nicht.“

Heinz Höher war talentiert, eigensinnig und risikofreudig, aber auch nachdenklich und schweigsam. Ein oft unverstandener Einzelgänger, der seinen eigenen Regeln folgte. Er war zu begabt, blitzgescheit, „hat phantastisch ausgesehen, konnte als Fußballer und Trainer einfach alles, ohne sich anzustrengen. Dem ist das Leben zu leicht gelaufen. Da kommt man wahrscheinlich auf dumme Ideen“, zitiert Reng Gerd Schmelzer, den ehemaligen Präsidenten des 1. FC Nürnberg.

Das Lehrerstudium hatte Heinz Höher in jungen Jahren „verspielt“. Es gab nur einen Ausweg: Trainer werden. Als er es war, überzeugte er sich immer wieder selbst, dass ein Trainer lieber zu wenig redete als zu viel. Er wollte sich nicht verbrauchen. Wenn er aber sprach, dann auf einem höheren Niveau: „Als ob im Sprachzentrum seines Gehirns die Synapsen feiner verästelt wären.“

Durch die Gründung der Bundesliga bildete sich eine zweite Wirklichkeit heraus: eine Medienrealität. Das Fernsehen machte sie reich und mächtig. Die Sender brauchten den Fußball, der zum Event wurde. „In aller Unschuld begann das Aktuelle Sportstudio am ersten Spieltag 1963, die Bundesliga nicht mehr ausschließlich als Sport, sondern als Unterhaltung zu präsentieren.“ Im Fernsehen kam es vor allem darauf an, wie man wirkte: „Die Sätze, die Aussagen, die Inhalte rauschten vorbei, was das Publikum behielt, war ein Eindruck.“

Mit seiner literarischen Reise durch 50 Jahre Bundesliga zeigt Ronald Reng, dass es nicht immer einen kontinuierlichen Aufstieg gab, sondern auch zwangsläufige Abstiege. Immer wieder bewegte sich der Profifußball in Deutschland auch auf das Abseits zu. Profisportler mussten versuchen, mit allen Mitteln zu gewinnen, sich aber gleichzeitig im Rahmen der Fairness bewegen. „In diesem Widerspruch lag der Charme des Sports. Ohne Fairness war der Fußball tot.“

In der Bundesliga machte ein einziger Torschuss aus Menschen Sieger und Verlierer. Aus einer Episode wurden endgültige und vernichtende Urteile abgeleitet. Die Bundesliga spuckte irgendwann ihre Kinder aus: Spieler, Trainer oder Funktionäre. Dann schrieben die Sportreporter ein „Ex-“ davor. Viele mussten damit fertigwerden, dass sie sich immer noch in ihrer alten Rolle fühlten, aber nicht mehr in ihr waren. Die Medien präsentierten dies stets als Scheitern. Viele Fußballer wurden nach ihrer Karriere auf ein Tor, einen Fehler oder einen Spruch reduziert.

Die Autorin und ehemalige Fußballmanagerin Katja Kraus, einst Vorstandsmitglied des HSV und Nationalspielerin plädiert in ihrem Buch „Macht. Geschichten von Erfolg und Scheitern“ dafür, dass die Gesamtleistung eines Menschen nicht am Ende gemessen und beurteilt werden, sondern auch in ihren sonstigen Lebensleistungen aufgehen sollte. Dabei war es ihr wichtig, den Begriff des Scheiterns neu zu diskutieren: „Wir sind irrsinnig schnell darin geworden, zu urteilen, Menschen ihre Kompetenz abzusprechen, ohne darüber nachzudenken, welche Fähigkeiten sie überhaupt erst in die exponierte Position gebracht haben. Die Härte, mit der das geschieht, und die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der persönlichen Integrität sind erschreckend.“

Sie hat es selbst erlebt und im Nachgang das Gefühl zugelassen, im reißenden Fluss zu schwimmen und so manchen greifbaren Baumstamm doch vorbeitreiben zu lassen. Die in sich hineinlachenden alten Chinesen (auch Heinz Höher „lächelt, wie immer, wen er sich besonders freut, nach innen“) liebten das Bild des Flusses, der auf seinem Weg einzigartig schöne Windungen beschreibt. Sich dem Strom des Lebens anzuvertrauen, ist wohl die weiseste Art des Seins. Die Gründer großer Weltreligionen ließen sich von ihm treiben. Zugleich waren sie hingebungsvolle Mittagsschläfer – wie Heinz Höher, dem der Schlaf immer „heilig“ geblieben ist.

Der Schlaf ist der rote Faden, der Leben und Literatur miteinander verbindet, der Heinz Höher half, beiseite zu treten, um einen Blick auf das Spiel und die Welt zu werfen und klarer zu sehen als der Rest. Ein Müßiggänger, der sich nicht stören ließ wie alle großen Denker, die auch große Schläfer waren. „Seit 50 Jahren glauben viele Weggefährten in der Bundesliga, er würde die Welt irgendwie falsch herum betrachten, und doch hat niemand von ihnen so viel gesehen wie er“, schreibt Ronald Reng.

Kein Bild

Jürgen Brokoff / Andrea Schütte / Elke Dubbels (Hg.): Spielräume.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013.
320 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849810030

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ronald Reng: Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga.
Piper Verlag, München 2013.
475 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055925

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch