Betrifft Literatur und Sport

Betrachtungen vor 50 Jahren über zwei feindliche Brüder

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Der Erzähler und Dramatiker Siegfried Lenz, der in seiner unfernen Jugend, wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, auch als Leichtathlet, zumal als Speerwerfer, Beachtliches zu leisten vermochte, schreibt im Literaturblatt des Berliner Tagesspiegels vom 26. Januar 1964: „Wer zum Verständnis der modernen Gesellschaft gelangen will, kommt – so scheint mir – ohne Berücksichtigung des Sports nicht mehr aus; denn die Arenen der Welt sind zu Spiegeln geworden, in denen sich vieles abbildet: die Wünsche, Ehrgeize, die Hoffnungen und Sehnsüchte der Zeitgenossen, aber auch ihre Leidenschaften, Neurosen und Hysterien, ihre Räusche und Ansprüche.“

In der Tat: Der Sportwettkampf ist eine Volksbelustigung, die man sich aus dem Leben unserer Epoche nicht mehr wegdenken kann. Und die Volksbelustigung erweist sich zugleich als eine einzigartige Passion, welche Menschen, die nichts miteinander gemein haben, doch für die Dauer eines Boxkampfes, eines Fünftausendmeterlaufs oder eines Fußballmatches zu fast identisch reagierenden Gemeinschaften werden lässt. Hier sind sie sich plötzlich alle einig: der Greis und der Jugendliche, der Universitätsprofessor und der Analphabet, der Regierungschef und der Portier, der Krösus und der Bettler. Für eine Weile vergessen sie alle ihre Sorgen, sie lassen sich betäuben, berauschen, verzaubern. Sie fiebern nur noch mit dem Mann, der verzweifelt die Aschenbahn umkreist, sie leiden und triumphieren mit ihrem Helden im Ring, sie sind beglückt, wenn es der Mannschaft,  der sie den Sieg wünschen, gelingt, den Ball durch jenes Rechteck zu befördern, das man „Tor“ nennt.

Millionen werden vom Sport hingerissen. Nur nicht die Literatur. Sie lässt dieses Phänomen links liegen, sie zeigt ihm die kalte Schulter, sie kümmert sich wenig um den Sport. Gewiss haben Schriftsteller oft über den Sport geschrieben, gewiss ist es ihnen oft gelungen, wichtigen Sportereignissen in Reportagen, Berichten und Impressionen gerecht zu werden. Als typisches Beispiel kann man das Buch „Römisches Olympia“ von Rudolf Hagelstange nennen, der übrigens – wie ein Literaturlexikon informiert – „mitteldeutscher Meister im Stabhochsprung 1938“ war und gerade jetzt, während der Olympischen Winterspiele in Innsbruck, besonders geehrt wurde.

Aber nicht darum geht es mir hier, sondern um Sport als Thema von Romanen und Erzählungen, Dramen und Hörspielen. Gibt es derartige Werke? Wenn man lange sucht, kann man wenigstens etwas finden. Im Mittelpunkt des Romans „Cashel Byrons Beruf“ von Bernard Shaw steht ein Boxer. Sportmotive finden sich bei Jack London, bei Hemingway und bei manchen zweitrangigen amerikanischen Autoren. Cocteau hat sich mit dem Sport befasst und – in noch viel stärkerem Maße – Montherlant. Ein Rennfahrer ist der Held eines bereits in den zwanziger Jahren geschriebenen Romans von Kasimir Edschmid. Aus den dreißiger Jahren stammt ein Fußballroman von Friedrich Torberg mit dem Titel „Die Mannschaft“.

In seinem Buch „Verteidigung der Poesie“ wandte sich Johannes R. Becher an die Schriftsteller der DDR: „Es ist ganz und gar bedauernswert, dass die verschiedenen Sportarten, die verschiedenen Meister in diesen Sportarten noch, nicht ihre Dichter gefunden haben.“ Kein namhafter Schriftsteller der DDR ist der Aufforderung nachgekommen. Auch für die westdeutschen Autoren hat der Sport als Thema nach 1945 nichts an Attraktivität gewonnen. Immerhin kann man jedoch den Läuferroman „Brot und Spiele“ von Lenz anführen und das Johnsonsche „Dritte Buch über Achim“, der ja ein Radrennfahrer ist.

Mit Mühe und Not ließen sich in der Weltliteratur natürlich noch einige Beispiele finden – zumal wenn wir das Fliegen, Reiten und Fechten berücksichtigen. Noch einige Namen, noch einige Titel – sie können alle nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der Sport für die Literatur kaum existiert –, obwohl doch jeder Sportwettkampf von Dramatik strotzt, obwohl die Arenen der Welt zu jenen Spiegeln geworden sind, in denen sich „die Wünsche, Ehrgeize, die Hoffnungen und Sehnsüchte der Zeitgenossen“ spiegeln. Obwohl? Nein: weil.

Der Sport und die Literatur sind nahe Verwandte, die sich zu sehr ähneln, um sich aufrichtig lieben zu können. Vielmehr wetteifern sie miteinander und bekämpfen sich insgeheim. Fs sind im Grunde feindliche Brüder. Denn die Literatur und der Sport appellieren auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln an dieselben Gefühle.

Viele große Motive, mit denen sich die Literatur seit Jahrtausenden befasst – Heldentum, Leidenschaft, Solidarität, Neid, Ruhmsucht – dominieren auch in den Sportwettkämpfen, nur sind sie hier ungleich einfacher, primitiver, oberflächlicher, direkter. Viele Elemente, die die Literatur dem Leser zu bieten hat oder jedenfalls bieten möchte, kann er im Stadion finden – ohne Verschlüsselung, ohne Intellekt, ganz und gar unkompliziert. Kein Drama der Welt kann so übersichtlich sein wie ein Fußballspiel. Nichts zeigt die Brutalität des Lebens deutlicher als ein Boxkampf. Und ist nicht ein Langstreckenlauf zugleich eine Art Parabel vom Kampf ums Dasein? Und wo ließe sich die Vergänglichkeit des Ruhms besser beobachten als in der Arena?

„Im Sport“, schreibt Lenz, „wird jedem geboten, worauf er aus ist.“ Daher macht das Erlebnis, dessen der Sportzuschauer teilhaftig wird, für Millionen die Kunst überflüssig. In diesem Sinne darf man den Sport als Kunstersatz bezeichnen.

In einem Artikel über den „Sport und die Literaten“ meinte Gideon Freud in der Welt vom 18. Januar: „Der Sport ist Ausdrucksform, Charakterbekenntnis und ein Spiel der Persönlichkeiten, er ist Schauspiel und Komödie, Grazie und Kraft, Schönheit und Wissen …“ Aber wenn der Sport das alles schon ist, was soll da der Schriftsteller noch ausrichten? Er braucht nur noch zu berichten. Es hat keinen Sinn, dass der Maler sich um die Bewältigung von Aufgaben müht, die der Photograph besser, zuverlässiger und schneller lösen kann. Nein, hier bleibt für den Schriftsteller eigentlich nichts mehr zu tun: Der Sport ist kein Thema.

Am Ende seines Aufsatzes sagt Lenz, er höre, da er in der Nähe, eines Sportplatzes lebe, „jeden Sonntag die Gezeiten der Begeisterung und Enttäuschung von zwanzigtausend Zeitgenossen …, die hier Andachtsübungen vor ihren wadenstarken Ikonen abhalten“. Und er fügt hinzu: „Während ich einst das Brausen der Stimmen nur irritiert zur Kenntnis nahm, lausche ich ihm heute mit nachdenklichem Wohlwollen.“

Dem ehemaligen Leichtathleten muss man vermutlich dieses „nachdenkliche Wohlwollen“ zuschreiben. Aber in ihm scheint mir auch eine Prise Melancholie enthalten zu sein, die der Schriftsteller beigesteuert hat – der Schriftsteller, der sich bewusst ist, dass „die Gezeiten der Begeisterung und Enttäuschung“ von der gefährlichsten Konkurrenz hervorgerufen werden, vom feindlichen Bruder, gegen den die Literatur nicht aufkommen kann.

Anmerkung:

Der Artikel erschien unter dem Namen Marcel zuerst in „Die Zeit“, Nr. 7, 14. Februar 1964, S. 12, in der Kolumne „Hüben und drüben“, später in einer leicht überarbeiten Version u.a. in Marcel Reich-Ranicki: Wer schreibt, provoziert. Kommentare und Pamphlete. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993. S. 84-87 (vergriffen). Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de.

In einem Interview mit Hubert Spiegel zur Fußball-WM 2006 (F.A.Z., 29.06.2006, Nr. 148, S. 40) griff Reich-Ranicki auf die früheren Überlegungen zurück.