Vom Glück ins Unglück

Ein Nachruf auf Frank Schirrmacher

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Es gibt kaum eine zweite Journalistenkarriere, die so glänzend verlief wie die von Frank Schirrmacher. 1959, im Jahr, als die „Blechtrommel“ erschien, wurde Schirrmacher in Wiesbaden geboren. Er studierte in Heidelberg und Cambridge Germanistik, Anglistik und Philosophie, hospitierte 1984 in der F.A.Z., wurde dort rasch zum Feuilletonredakteur, promovierte in Siegen 1987 mit einer Arbeit über Kafka und den amerikanischen Dekonstruktivismus und übernahm 1989, noch mit 29 Jahren, die Nachfolge von Marcel Reich-Ranicki als Leiter der Redaktion Literatur und literarisches Leben. Als er gut vier Jahre später, am 1. Januar 1994, als Nachfolger von Joachim Fest, der für das Feuilleton verantwortliche Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde, war er der jüngste, den es in dieser Position je gab.

Ein „Glückskind“ hat er sich selbst genannt, als „Wunderkind“, als „Klinsmann“ oder auch als „Dirty Harry“ des deutschen Feuilletons haben ihn andere bezeichnet, bestaunt und beargwöhnt. Manche munkelten, dass es bei dieser Karriere mit dem Teufel zugegangen sei. Dagegen sprechen Informationen, dass nicht zuletzt der Papst – mit Sitz in Frankfurt – höchstpersönlich seine Einflüsse geltend gemacht hat. Und es gibt für die Teufelsversion nur einen, allerdings schwachen Beleg: dass zu den Autoren, Romanen und literarischen Figuren, denen Frank Schirrmacher sich besonders verbunden zeigte, neben George, Rilke, Kafka, Benn, Jünger oder Enzensberger auch Thomas Mann, dessen „Doktor Faustus“ und der Tonsetzer Adrian Leverkühn gehören. Und ein Indiz wäre allenfalls noch jenes existentielle Grundgefühl, zu dem Schirrmacher sich mehrfach bekannt hat, das Gefühl einer diffusen Angst, dass die Gunst des Glücks irgendwann in Unglück umschlägt.

Das journalistische Genie des Buchstaben- und Wortesetzers Schirrmacher zeigte sich daran, dass es ihm gelang, alles, was er sprachlich anfasste, in Gold, in ein historisches Ereignis oder in ein literarisches Phänomen von der Bedeutung großer Romane oder Dramen zu verwandeln. Den in die Sprache und die Literatur vernarrten Philologen kann man auch noch in den Artikeln und Büchern erkennen, die scheinbar nichts mit Sprache und Literatur zu tun haben. Sein eigenes Schreiben war ein hochgradig symbolisches, sein Denken hatte eine spielerische, experimentelle Flexibilität, die sprachlichen Kunstwerken eigen ist, die ihrer Zeit voraus sind und über den Tag hinaus wirken.

Unvergesslich bleibt jene rasch legendär gewordene Ausgabe der Zeitung vom 27. Juni 2000, die im Feuilleton über sechs Seiten hinweg Bruchstücke von Sequenzen des menschlichen Genoms abdruckte, die von Craig Venter mit Hilfe auch deutscher Wissenschaftler eben entschlüsselt worden waren und in diversen Kombinationen der lateinischen Buchstaben C, G, A und T repräsentiert wurden. Ernst Jandl, wäre er noch am Leben gewesen, hätte nach der Lektüre vielleicht ein Lautgedicht daraus gemacht: „GAGGAT GTGGAG AAATAG…“ Frank Schirrmacher erklärte die Zeichenfolgen unter dem Titel „Die Rechtschreibung des Lebens“ zu einem epischen Werk. „Das Buch des Lebens ist achthundertmal umfangreicher als die Bibel. Es ist gleichzeitig ziemlich klein, denn wir tragen einhundert Milliarden Kopien von ihm in unseren Zellen herum. Und zugleich ist es in dreiundzwanzig Kapitel eingeteilt – dreiundzwanzig Chromosomenpaare. Jedes erzählt eine andere Geschichte.“ So beginnt sein Leitartikel auf Seite 1 dieser Ausgabe. Und er schließt mit den Sätzen: „Die Menschheit ist im Begriff, eine neue Sprache zu lernen, und wer könnte vorhersagen, welcher Roman sich am Ende aus den Buchstaben vor unseren Augen zusammensetzt?“

Am 7. Januar 2003 kommentierte eine ebenfalls ganz außergewöhnliche Ausgabe des Feuilletons die Situation vor dem drohenden Irak-Krieg und die Erwartung eines weiteren ökonomischen Krisenjahres auf zwei Seiten mit „426 Namen der Angst“, einem „Alphabet für unsere Zeit“, einer Begriffsliste sämtlicher klinisch festgestellten Ängste, die ein Amerikaner aus medizinischen Zeitschriften und Büchern gesammelt und dokumentiert hatte. Die Liste wurde mit den Worten eingeleitet: „Angst mag sprachlos machen, das Reden über die Angst aber kennt eine Unzahl von Begriffen.“

Immer wieder war es das beobachtende Nachdenken über Sprache, das Schirrmacher umtrieb, über die zeitsymptomatische Sprache der Wissenschaft, der Literatur oder der Politik. Nicht zuletzt Angst brachte ihn selbst zum Sprechen und zum Schreiben, ähnlich wie bei Kafka die Angst in Kämpfen um Selbstbehauptung der eigenen Person und der eigenen Generation, aber auch Angst vor dem Tod, vor dem Nichts. Das zeigte eine sich über acht Jahre hinweg erstreckende Folge von Gesprächen mit Herlinde Kölbel, 1999 erschienen unter dem Titel „Spuren der Macht“ (siehe literaturkritik.de 2/2000). Wohl in keiner anderen Veröffentlichung hat sich hier der private Frank Schirrmacher so offen gezeigt. Nie ist er mir näher gekommen als bei dieser Lektüre. Sie haben mein Bild von ihm verändert. Die Gespräche belegen, dass die Motive zum Schreiben jener Bücher, die ihn in den letzten Jahren zu einem in viele Sprachen übersetzten, millionenfach aufgelegten Bestseller-Autor gemacht haben, schon in den 1990er Jahren gereift waren.

Die öffentliche Resonanz auf „Das Methusalem-Komplott“ (2004), „Minimum“ (2006), „Payback“ (2009) und „Ego“ (2013) war überwältigend. Doch die zahllosen Rezensionen und Artikel, die auf diese Bücher eingegangen sind, haben eines völlig übersehen: dass sie zu weiten Teilen von Literatur und Sprache handeln. Man lese etwa in „Minimum“ nach, was hier über die Zusammenhänge von sprachlicher Kompetenz und der Fähigkeit zur Empathie ausgeführt wird. Oder die Seiten, auf denen eine kleine Geschichte der Familie in der Literatur vom 19. bis hin zur Konjunktur von Familienromanen im 21. Jahrhundert skizziert wird. Der Thomas Mann- und Kafka-Kenner Schirrmacher, der auch die einschlägige Studie des Literaturwissenschaftlers Peter von Matt zu dem Thema gelesen hat, weiß natürlich, dass sein Hohelied der Familie ganz und gar im Widerspruch steht zu den Familiendesastern, die besonders in der Literatur der Moderne ausgemalt wurden. Aber er findet durchaus gute Argumente dafür, dass die familienskeptischen Perspektiven Freuds, Kafkas, Hesses oder des Autors der „Buddenbrooks“ unter geschichtlichen Umständen entstanden, die nicht mehr die heutigen sind.

Schirrmachers Buch über das Altern, mit dem ihm geglückt ist, Kafkas Postulat zu entsprechen, ein Buch müsse uns wie ein Faustschlag auf den Schädel wecken, ist durchsetzt von zahlreichen, zum Teil linguistisch abgesicherten Beobachtungen zu sprachlichen Verhaltenweisen, etwa in der Kommunikation zwischen alten und jungen Menschen, und von Hinweisen auf literarische Veranschaulichungen des Problemfeldes. Schirrmacher erinnert an die Zeit vor hundert Jahren, als ein so junger Autor wie Hofmannsthal und mit ihm eine ganze Generation von Schriftstellern Verfall und Altern als inspirierendes Moment für sich entdeckten, zitiert Italo Svevo oder Philipp Roth. Und man kann in Erinnerung an die Verleihung des Jacob-Grimm-Preises an Frank Schirrmacher das Buch als zeitgemäße Fortsetzung einer Rede mit dem Titel „Über das Alter“ lesen, die ein Germanist im 19. Jahrhundert hielt: eben Jacob Grimm. Schirrmacher zitierte aus ihr. Jacob Grimm war allerdings 75 Jahre alt, als er sie schrieb. Schirrmacher war eben schon immer früher dran als andere.

Und er sorgte dabei für immer neue Überraschungen. Es ist noch gar nicht so lange her, als er im Namen einer jungen Generation antrat, den Autoren aus dem Umkreis der Gruppe 47 ihre Überlebtheit zu bescheinigen und mit ihr die gesamte Nachkriegsliteratur zu verabschieden. Doch im „Methusalem-Komplott“ malte er einen neuen Generationskonflikt aus – und ergriff Partei für die Alten. War zur Zeit der Wende von 1989 zu befürchten, dass er und das Feuilleton der F.A.Z., ohne es recht zu wissen und zu wollen, sich einer fatalen Tradition annäherten, in der das Wort „Intellektueller“ ein Schimpfwort war, so entwickelte sich eben dieses Feuilleton unter Schirrmacher in den Auseinandersetzungen mit dem Kosovo- und mit dem Golfkrieg zum Forum einer offenen, internationalen Debatte unter Intellektuellen. Bei jedem neuen Beitrag konnte man mit einer Überraschung rechnen. Die Redaktion gab keine feste Linie vor. Die Vehemenz jener Stimmen, die sich für die Luftangriffe der NATO einsetzten, war ebenso präsent wie jene, mit der die NATO-Kritiker zu Felde zogen. Die Beiträge von Gabriel García Márquez und Hans Magnus Enzensberger, Susan Sontag, Mario Vargas Llosa und Paul Virilio oder die von György Konrad und Herta Müller hat Frank Schirrmacher unter dem aussagekräftigen Titel „Der westliche Kreuzzug“ als Buch herausgegeben. Die vormals geschmähten Intellektuellen: im Kosovo-Krieg wurden sie von der F.A.Z. um ihre Meinung und um ihr Engagement gebeten. Sie haben in großer Zahl geantwortet. Und ihre Stimmen bleiben, Schirrmacher sei Dank, in Erinnerung.

Im Zusammenhang mit dem Golf-Krieg erschien in der F.A.Z. an exponierter Stelle einer der schärfsten und wortmächtigsten Artikel gegen die Politik der USA, die überhaupt geschrieben wurden: von der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy. Und geradezu eine Sensation war es, dass in dieser Zeitung der Debattenbeitrag eines deutschen, weltweit hochangesehenen Intellektuellen veröffentlicht wurde, der die F.A.Z. Jahrzehnte lang zu seinem Lieblingsgegner erkoren hatte und von dieser ihrerseits als solcher behandelt wurde: Jürgen Habermas. Eben erst hatte Hans Magnus Enzensberger nach dem Fall von Bagdad die völkerrechtswidrige Politik der Sieger für sankrosankt erklärt, da befand Habermas, am 17. April 2003, in eben dieser Zeitung: „Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern.“

Ach ja, und wenn von den Überraschungen die Rede ist, wäre natürlich noch über die wechselvollen Geschichten der Beziehung zwischen Frank Schirrmacher und seinem Feuilleton zu Günter Grass oder zu Martin Walser zu berichten. Zu weit das Feld, um es hier zu begehen. Nur so viel: Als Günter Grass 70 wurde, erschien in der F.A.Z. einer der besten Artikel, die je über ihn geschrieben wurden, – von Frank Schirrmacher. Als er 80 wurde, erschien so gut wie nichts. Vielleicht war ja auch wirklich schon alles gesagt. Doch symbolisch blieb das sprachliche Handeln Schirrmachers und seiner Mitarbeiter auch da, wo sie schwiegen. Dass es nicht um Personen, sondern um Sachen ging, über die man stritt, zeigte allerdings die Koalition von F.A.Z. und Günter Grass in einigen Akten jener bundesdeutschen Tragikomödie, die unter dem Titel „Rechtschreibereform“ die Republik erschütterte.

Frank Schirrmacher und sein Feuilleton waren schwer zu fassen. Schirrmacher war ein intellektueller Abenteurer, ein bekennender Konservativer, doch voll avantgardistischer Lust an immer neuen Experimenten, auch sprachlichen. Ein Anti-68er, der viel von der Generation gelernt hat, der gegenüber er sich immer wieder zu behaupten versuchte. Einer der sich zu Benn bekannte, nicht zu Brecht, aber mit der gleichen Genugtuung wie dieser über sich und sein Feuilleton den Satz hätte schreiben können: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Das war gut so. Und gut war auch, dass Frank Schirrmacher seine Sprachmächtigkeit und Publizität immer wieder dazu benutze, Meinungen zu polarisieren. Dabei bemerkten jedoch viele nicht, was er an Integrationsleistungen erbringen konnte, und zwar durch die ständige Auflösung festgefahrener Gegenüberstellungen, die produktives Denken verhindern. Zu den Leistungen der intellektuellen Generation, die in Schirrmacher einen Protagonisten und einen ihrer wortgewaltigsten Sprecher hatte, gehört der permanente Zweifel an starren Grenzziehungen: zwischen rechts und links, Elite- und Popkultur, Literatur und Wissenschaft, Kunst, Politik und Leben. Die F.A.Z. hat einen großen Magen, der konnte unter Schirrmacher sogar Mitarbeiter wie Dietmar Dath vertragen.

In einem wunderbaren Artikel zu Hans Magnus Enzensbergers 70. Geburtstag porträtierte Frank Schirrmacher mit Enzensberger zu weiten Teilen auch sich selbst. Er beginnt mit dem Satz: „Über Enzensberger wissen wir fast nichts.“ Der Essay weiß dennoch viel Erhellendes über ihn zu sagen. Was wir über Schirrmacher wissen, ist zumindest Folgendes: Die F.A.Z. brauchte ihn, und er brauchte die F.A.Z. Er wird ihr und ihren Lesern sehr fehlen.

Den Essay über Enzensberger hatte übrigens Marcel Reich-Ranicki 2006 in seinen Essay-Kanon aufgenommen. Die Geschichte der Beziehung zwischen Marcel Reich-Ranicki und  Frank Schirrmacher ist noch zu schreiben. Sie hatten sich gegenseitig viel zu verdanken. Die wohl letzte öffentliche Rede hielt Frank Schirrmacher am 1. Juni 2014 in der Frankfurter Paulskirche – bei einer Gedenkfeier der Stadt Frankfurt zu Ehren von Reich-Ranicki und zur Erinnerung an seinen Tod im September 2013. Sie war ein kleines Musterbeispiel von Schirrmachers rhetorischer Kunst. Der respektvolle, freundschaftliche, traurige und zugleich humorvolle Nachruf hätte dem Geehrten gefallen, dass die Rede der letzte Freundschaftsdienst sein sollte, hätte ihn erschüttert.

Der Nachruf basiert auf meiner Würdigung Frank Schirrmachers bei der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises an ihn 2007 in Kassel.