Kein Stahlgewitter

Zu dieser Ausgabe

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

„Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Der bekannte Spruch von Karl Valentin mag einem derzeit wieder in den Sinn kommen. Geht es doch seit Monaten in den Medien permanent um den Ersten Weltkrieg, und dies nicht immer auf erhellende Weise. Der ‚Große Krieg‘ brach im kommenden August vor 100 Jahren aus. Doch halt: Man sagt das oft so gedankenlos daher, dass ein Krieg wie der von 1914 bis 1918 ‚ausgebrochen‘ sei. Klingt das nicht irreführenderweise so, als habe es sich um einen unkontrollierbaren Vulkan gehandelt, der urplötzlich ein großes Unglück auslöste?

Womit wir auch schon bei der nächsten problematischen Metapher wären, um die es bereits in unserer ersten diesjährigen Schwerpunkt-Ausgabe zum Ersten Weltkrieg ging. Die Rede ist von der Bezeichnung des Ersten Weltkriegs als der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Ein Krieg als „Katastrophe“? Demnach müsste es sich dabei um eine folgenschwere Wendung hin zu einer schicksalhaften Verheerung gehandelt haben, wie man sie traditionell mit fatalen Naturereignissen wie dem Untergang von Pompeji, dem mittelalterlichen Ausbruch der Pest in Europa oder dem Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 assoziierte. Es handelte sich jedoch bei dem komplexen Konflikt, der vor 100 Jahren eskalierte, um einen historischen Prozess, der keineswegs mit diesen Naturkatastrophen oder Epidemien vergleichbar war – also mit Phänomenen, die ohne das Zutun der Menschen große Opferzahlen forderten. Deshalb kann man das, was von 1914 bis 1918 in Europa geschah, auch schlecht als „Stahlgewitter“ metaphorisieren, so wie es Ernst Jünger in seinem gleichnamigen work in progress tat, das 1920 erstmals erschien.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Wenn der Erste Weltkrieg eine „Urkatastrophe“ gewesen sein soll, dann impliziert dies, dass die folgenden Kriege des Jahrhunderts inklusive Holocaust ebenfalls bloß „Katastrophen“, also letztlich unvermeidliche ,Unfälle’ waren, die allesamt aus dem ersten, von Menschen nicht verschuldeten Unglück unweigerlich folgten. So gesehen hätte selbst an der Shoah niemand mehr Schuld.

Tatsächlich konnte man den eloquenten Juror, Autor und Literaturkritiker Burkhard Spinnen beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in der Diskussion des umstrittenen Textes der nominierten Autorin Katrin Preiwuß, in dem die Tötung von Nerzen mit dem Holocaust assoziiert wird, wiederholt ergriffen von der „Katastrophe“ des Holocaust reden hören: Diese und viele andere problematische Formulierungen sind längst so sehr Allgemeingut geworden, dass sich kaum noch jemand etwas dabei denkt, wenn er sie im Fernsehen ausspricht oder in einem Zeitungsartikel nachbetet. Es gibt auch keinen Karl Kraus mehr, der dagegen anschriebe. Recht hatte der österreichische Sprachkritiker, der das kriegsverherrlichende Geschwätz der Presse zur Zeit des Ersten Weltkriegs anprangerte, mit seinen Polemiken aber schon, und es wäre an der Zeit, sich wenigstens als Autor und als Literaturkritiker bewusster daran zu erinnern. „Es gibt wohl keinen anderen deutschen Schriftsteller dieses Jahrhunderts“, schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal über Kraus, „von dem sich mit gleichem Recht sagen ließe, dass seine Sprachkritik immer auch Gesellschaftskritik ist und seine Gesellschaftskritik sich stets auch als Sprachkritik erweist“.

Carl Zuckmayer, aus dessen Autobiografie „Als wär‘s ein Stück von mir“ (1966) wir diesen und nächsten Monat Auszüge seiner Erinnerungen an den Sommer 1914 bringen, sprach zwar über 40 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg immer noch von einem „Katastrophenerlebnis“, präzisierte jedoch: „Ein solches Ereignis, auf eine unvorbereitete Welt hereinbrechend, auf Menschen, die keiner Propaganda ausgesetzt, keiner hochgepeitschten Hysterie erlegen waren, läßt sich nicht wie ein Gewitter oder ein Schneesturm beschreiben. Was wir vom Kriegsbeginn im Jahr 1870 gehört und gelesen hatten, gab uns keinerlei Vorstellung von seiner Wirklichkeit.“ 

Es geht hier also nicht nur um unser Alltagsgerede, sondern um wirkmächtige literaturgeschichtliche Entwicklungen, die an der Genese dieser heutigen Sprache mit teilhatten. Floskeln wie die vom Krieg als „Sturm“, der eine ,verlorene Generation’ hinwegfegte, tauchten in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bereits in der Literatur der 1920er-Jahre vielfach auf – nicht nur bei Ernst Jünger, sondern ebenso bei einem ,Anti-’Kriegsschriftsteller wie Erich Maria Remarque. Darauf bezog sich wohl auch Zuckmayer, der Remarques Roman als Zeitgenosse hymnisch rezensiert hatte, als er in den 1960er-Jahren abermals über die Ereignisse von 1914, über ihre emotionalen Effekte und nachträglichen Metaphorisierungen in der Literatur schrieb. Man sollte also heute nicht mehr gedankenlos an Fehler anknüpfen, die letztlich sogar Zuckmayer durchschaut hatte. Verharmlosen doch solche schiefen Sprachbilder wie das von der „Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs“ ein Massenmorden, das von verantwortlichen Menschen geplant, organisiert und durchgeführt worden war.

Dass zudem die Politik des deutschen Kaiserreichs eine wesentliche Schuld an der fanatischen Kriegstreiberei in allen Bereichen des öffentlichen Lebens trug, war jahrzehntelang unumstritten. Wenn Zuckmayer 1966 allerdings schreibt, die Euphorie des Augusterlebnisses 1914 sei ,ganz ohne Propaganda’ aus der spontanen Begeisterung unpolitischer und letztlich naiver Menschen entstanden, so kann dies kaum der Wahrheit entsprechen. Die deutsche Ideologie eines spezifischen Imperialismus hatte sehr wohl Teil an der Erzeugung einer gesellschaftsübergreifenden fanatischen Stimmung, die schließlich maßgeblich zum sogenannten Kriegsausbruch und dem darauf folgenden deutschen Jubeltaumel führte. 

Zuckmayers Memoiren von 1966 widersprachen in diesem Punkt einem seinerzeit bereits vorliegenden historiografischen Standardwerk. Die Rede ist von Fritz Fischers einschlägiger Studie, die schon im Titel erkennen ließ, was man in dieser angeblich so unpolitischen Atmosphäre der Zeit tatsächlich sehr bewusst anstrebte. Er lautete „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918“. Fischers Buch löste eine große Kontroverse aus und wird auch heute plötzlich wieder vielfach angezweifelt – insbesondere und wieder einmal auffällig begeistert in Deutschland, wo Christopher Clarks Studie „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, die paradigmatisch für diesen Backlash steht, zu einem Bestseller wurde.

Zu alledem gar nichts mehr zu schreiben, ist also auch keine Lösung. Unsere Juli-Ausgabe widmet sich dem Thema des Ersten Weltkriegs deshalb erneut. In den Essays und Rezensionen, die sowohl historiografische als auch literarische Perspektiven einnehmen und beleuchten, geht es jedoch noch um sehr viel mehr als um Christopher Clarks ‚neue Sicht‘ auf den Ersten Weltkrieg als fatalen Stolperstein für eine bloße Horde von Traumtänzern. So wird etwa die Frage beantwortet, was so gut wie vergessene (‚Anti‘)-Kriegsautoren wie Wilhelm Klemm und Ludwig Renn über die Fronterlebnisse und deren Folgen schrieben, und warum auch solche Werke wie die Renns keineswegs immer eindeutig als ‚pazifistische‘ Texte aufgefasst wurden.

Ein vergleichbar ambivalenter Fall ist Heinrich Mann, der in jungen Jahren noch ein offen reaktionärer Autor war, sich jedoch vor 1914 zu einem scharfen Kritiker des Opportunismus und der nationalen Anbiederung wandelte. „Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist“, mahnte er vor dem Krieg. Vor dem „Verrat der Intellektuellen“ warnte später auch noch ein Buch des Franzosen und Bekannten von Heinrich Mann, Julien Benda, dessen Neuauflage Anlass für eine wiederholte Lektüre in unserer Juli-Ausgabe ist. Neben einem erst 2012 veröffentlichten, antimonarchistischen Text von Heinrich Mann – tatsächlich einem der wenigen Schriftsteller, die im Juli 1914 überhaupt noch eine kriegskritische und frankophile Haltung einnahmen – stellen wir Ihnen unter anderem auch noch den neu wiederzuentdeckenden Antikriegsschriftsteller Andreas Latzko vor. Zudem erinnern wir an Erich Mühsam, der vor 80 Jahren, am 10. Juli 1934, im KZ Oranienburg ermordet wurde und ebenfalls zu denjenigen gehörte, die frühzeitig durchschauten, was der Erste Weltkrieg tatsächlich bedeuten würde.

Doch damit nicht genug: Neben dem Themenschwerpunkt über den Ersten Weltkrieg gibt es in unserer Juli-Ausgabe, wie auch schon im letzten Jahr, wieder eine aktuelle Berichterstattung vom Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Studierende von der Universität Duisburg-Essen sind für literaturkritik.de vor Ort und haben Porträts der nominierten Autorinnen und Autoren verfasst.

Ganz zum Schluss noch ein Geständnis: In der kommenden August-Ausgabe von literaturkritik.de wird es schon wieder um den Ersten Weltkrieg gehen. Tatsächlich sind so viele Publikationen zum Thema erschienen, dass unsere Rezensenten mehr zu tun hatten denn je. Aber wer weiß, vielleicht behält Karl Valentin ja auch hier am Ende wieder einmal Recht: „Des is wia bei jeda Wissenschaft, am Schluss stellt sich dann heraus, dass alles ganz anders war.“

Herzlich
Ihr
Jan Süselbeck