Lehrjahre als Herrenvolkjahre

Heinrich Manns reaktionäre Phase ist berühmt und berüchtigt. Bemerkenswert daran ist vor allem, dass der Autor sich von seinen frühen Ansichten löste

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Mann ist bis heute vor allem als Autor der Romane „Untertan“ und „Professor Unrat“ bekannt. Er ist berühmt für seinen Exilroman „Henri IV“. Seine „Politischen Essays“, eine Sammlung von Texten, die nach seinem Tod zusammengestellt wurde und in denen er für eine Westorientierung Deutschlands, weg von der Großmannsucht des Wilhelminischen Kaiserreichs stritt, waren einmal bevorzugte Studienobjekte für germanistische Studienanfänger. Lehrreich sind sie bis heute, auch wenn so viel intellektueller Mut mittlerweile arg unmodern wirkt. In Zeiten, in denen sogar die Bürokratien kreativ sein sollen, ist ein intellektueller Kopf wie der Heinrich Manns vielleicht doch fehl am Platz. Bedenkenswert sind seine Überlegungen freilich immer noch, zum Beispiel in jenem ersten Text der „Politischen Essays“, „Geist und Tat“, in dem Deutschland und Frankreich gegenübergestellt werden.

Dort findet sich etwa die folgende Passage über Deutschland: „Kein großes Volk: nur große Männer. Was es hat an Liebe und allen Ehrgeiz, alles Selbstbewußtsein setzt dies Volk in seine großen Männer. Seine großen Männer! Hat man je ermessen, was sie dieses Volk schon gekostet haben?“

Das sind starke Sätze, auch wenn sie in einer parlamentarischen, nachautoritären Demokratie, deren Regierung von einer Frau angeführt wird, die „Machtworte“ tunlichst meidet, anachronistisch wirken. Vom Zeitkontext im Jahr 1910 aus gesehen haben sie jedoch eine beunruhigende Bedeutung.

Für Heinrich Mann zeigen diese Sätze einen basalen Paradigmenwechsel an, der sich vielleicht in den Romanen „Die kleine Stadt“ und „Der Untertan“, an denen Mann um 1906 zu arbeiten begann, am besten zeigt. Das „Hohelied“ der Demokratie, vorgeführt am Beispiel einer kleinen italienischen Stadt, die unter dem Besuch einer Theatertruppe zu zerbrechen droht, und die „Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“ bildeten den Gegentext zu den Essays seiner ersten publizistischen Jahre, die Peter Stein zusammen mit Anne Flierl und Volker Riedel in einer mustergültigen Edition vorgelegt hat.

Dass die Editoren der Essays Heinrich Manns (zu denen hier noch Wolfgang Klein zu zählen ist) wohl die besten Kenner seines Werks sind, haben sie in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen. Kenntnis, editorische Kompetenz und Umsicht bei der Bewertung des Materials, das sie vorzulegen haben, zeichnet sie aus, umso mehr in diesem Fall, in dem es um jene Texte Heinrich Manns geht, von denen er sich nachhaltig losgesagt hatte.

Diese Texte dennoch vorzulegen, und das auch noch derart intensiv aufgearbeitet, ist eben nicht nur editorische Pflichtarbeit, sondern ein Lehrstück wissenschaftlicher und editorischer Seriosität. Umso mehr, als man aus ihnen lernen kann, dass ein Intellektueller, und sei er ein Rechtsintellektueller, lernfähig ist und sich weiter entwickeln kann, ohne seine basalen Orientierungen völlig aufzugeben – soll heißen, indem er sie weiterentwickelt.

In der Tat scheint es ein weiter Weg vom völkischen Redakteur Heinrich Mann zum Repräsentanten der Volksfront im französischen Exil in den 1930er-Jahren und zum umworbenen Parteigänger der Russischen Revolution, die für ihn zur konsequenten Fortführung der Französischen Revolution geworden war. Das ist angesichts der stalinistischen Säuberungsaktionen der 1930er-Jahre heute kaum nachvollziehbar, vielleicht naiv oder in gewissem Sinn ignorant. Aber angesichts der faschistischen Bedrohung, die nach 1933 ubiquitär zu werden drohte, verschieben sich die Bewertungen doch um einiges.

Etwas Ähnliches lässt sich auch für die frühen Essays Manns sagen: So finden sich im vorliegenden Band zwei kürzere Texte über Wilhelm II., die in einem entschiedenen Gegensatz zu jener Charakterisierung des Kaisers stehen, die Heinrich Mann später im „Untertan“ entwarf. Die Editoren weisen hier noch einmal gesondert darauf hin, aber auch darauf, dass Heinrich Mann eigentlich eher Bismarck – wieder einem großen Mann – zugewandt war als Wilhelm II.

Im ersten, im Juli 1895 erschienenen Text, wehrt Mann mit aller stilistischen Brillanz und ätzenden Ironie, die ihm schon damals zur Verfügung stand, die zunehmende Neigung in der Publizistik ab, sich mit dem Monarchen auf eine Ebene stellen zu wollen. Den Monarchen damit zu verteidigen, dass wohl jeder andere genauso gehandelt hätte, ziehe ihn aufs Untertanen-Niveau herunter – während das Gottesgnadentum, das dem Monarchen noch nachgesagt werde, der Rest von etwas Allgemeinem sei, nämlich, dass jeder Einzelne auf seinen Platz gestellt gewesen sei, der ihn von Gott zugewiesen werde. Ein Gedanke, der am Ende des sozial so dynamischen 19. Jahrhunderts mit Sicherheit diskreditiert war.

Die Psychologisierung, die sich zudem in den zeitgenössischen Publikationen zu Wilhelm II. andeuteten, weist Mann entschieden und als unziemlich zurück. Einen Monarchen psychologisiert man nicht, nicht einmal dann, so Mann in einem zweiten, Ende desselben Jahres erschienenen Text, wenn die Schrift auf ein Herrscherlob ausgehe. Diederich Heßlings Anverwandlung Wilhelms II. im „Untertan“ läuft allerdings genau darauf hinaus: Er wird kaisergleich, und das so sehr, dass er Ansichten und Anordnungen Ihrer Majestät zu ahnen imstande ist.

Dass der reaktionäre Heinrich Mann antisemitisch, nationalistisch und chauvinistisch war, versteht sich somit von selbst. Allerdings ist es etwas anderes, die Argumentation auch konkret nachzuvollziehen. Das geht am besten in jenem gleichfalls 1895 erschienenen Text, der die Überschrift trägt: „Jüdischen Glaubens“. Der Text bezieht sich auf eine vom „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ herausgegebene Zeitschrift, die sich intensiv für die Integration der jüdischen Deutschen in das soziale Gefüge einsetzte. Im Falle Walther Rathenaus, der eine ähnliche Position einnahm, wird dies in der heutigen Forschung gern als „jüdischer Selbsthass“ abgetan und unter Hand ein Bekenntnis auch noch nachträglich ethnisiert.

Heinrich Mann geht allerdings anders vor: Er visiert zentral die ethnische Differenz des Judentums von den anderen Völkern Europas an, die es überall zum Fremdkörper mache: Es rufe überall „instinktive“ Ablehnung hervor, so sehr sich die Beteiligten auch sonst aufgeklärt geben wollten. Mit anderen Worten, er unterstellt ethnisch begründete Volkscharaktere, zu denen Juden mit ihrem eigenen stets auf Distanz blieben.

Das erklärt er am Beispiel der Differenz des jüdischen zum ,germanischen‘ Mittelstand. Sei der eine doch von Beginn an entschlossen, aus der Enge seines Anfangs aufzusteigen, nötigenfalls auch durch das Nutzen von Gesetzeslücken, so sei der Mittelstand für die ,germanische‘ Rasse „etwas Dauerndes und fest Abgegrenztes“, aus dem sich der Betreffende nach Möglichkeit nicht zu lösen versuche. Ähnliche Bezichtigungen bringt Mann auch gegen die jüdische Oberschicht vor, die sich selbstherrlich über alle rechtlichen und moralischen Schranken hinwegsetze, und – wenn doch dabei einmal erwischt – sich auch noch unverschämter Weise wirtschaftlich dadurch abgesichert habe, dass die Betreffenden Teile ihres Vermögens an ihre Frau überschrieben hätten. Die „Plage“ des „hausirende[n] und bettelnde[n] Kleinjudenthums“ kenne man etwa in den größeren Teilen des Reichs nicht, aber die dieser Repräsentanten des Judentums sei jedem bekannt. Der Text mag, wie die Editoren hervorheben, selbst in Manns Werk singulär sein, seine Brillanz und Ignoranz tut das keinen Abbruch. Selten kann man eine solche Abweisung einer konfessionellen Profilierung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland derart gekonnt formuliert finden. Was die Sache allerdings nur noch schlimmer macht, so schlimm, wie sie ja schließlich wurde. Die Bedrohung wird noch größer, die Anschuldigungen noch nachhaltiger. Die dummen Antisemiten ist man gewöhnt, und es ist Usus, jene antisemitische Gruppe, der es schließlich gelang, sich durchzusetzen, als dämonisch und intellektuell subaltern anzusehen. Das sollte aber nicht davon ablenken, dass der Nationalsozialismus in großen Teilen eine junge und akademische Bewegung war – nicht zuletzt das hat sie derart bedrohlich gemacht.

Heinrich Mann war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits zur anderen Seite gewechselt, auf die Seite des „anderen Deutschland“, das eben seine positiven Traditionen in den Vordergrund stellte, die der Aufklärung, die der Weltoffenheit und die der Toleranz. Es gilt also Saulus zu besichtigen, um Paulus verstehen zu können. Und wir bevorzugen, denke ich, Paulus allemal.

Titelbild

Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Band 1: 1889-1904.
Herausgegeben von Peter Stein.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013.
912 Seiten, 178,00 EUR.
ISBN-13: 9783895289354

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