Entstellte Gesichter

In ihrem Roman „Tobys Zimmer“ erzählt Pat Barker von den Folgen des Ersten Weltkriegs, die hinter der Front spürbar wurden

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch immer vermag ebenso zu erstaunen wie zu erschrecken, wie vor hundert Jahren Tausende von Freiwilligen in den Krieg zogen, im Glauben, dass sie bald wieder zu Hause sein würden. Die Euphorie wandelte sich schnell in Entsetzen angesichts des brutalen Stellungskriegs. Dieser Stimmungswandel bildet den Hintergrund von Pat Barkers Roman „Tobys Zimmer“. Er lässt zwar nur am Rande durchblicken, dass einige der männlichen Protagonisten sich frohen Mutes an die Front meldeten, umso deutlicher werden dafür die Schrecken des Krieges erkennbar.

Aus Sicht der Kunststudentin Elinor Brooke klingt jede Begründung für den Krieg falsch. Die Verheerungen erahnend, glaubt sie sich ganz heraushalten zu können, zusammen mit ihren Freunden aus dem Bloomsbury-Kreis. Der Krieg ist böse: „Vollkommene Zerstörung. Von allem. Nicht nur Leben.“ Sie will nichts damit zu tun haben und sich stattdessen ganz der Malerei widmen, die vor allem „Huldigung“ und „Lobpreisung“ des Lebens sein soll. Eine vornehme Haltung, doch wenn Kriege einmal entfesselt sind und Opfer fordern, gibt es kein Abseitsstehen mehr. So betrauert auch Elinor Brooke im dritten Kriegsjahr den geliebten Bruder Toby.

Pat Barker situiert ihren Roman in der Londoner Künstlerszene um den Bloomsbury-Kreis. Elinor Brooke, Paul Tarrant und Kit Neville lernen sich an der Slade School of Fine Arts kennen. Elinors Bruder Toby studiert Medizin an der benachbarten Universität. 1912, im ersten Teil des Romans, scheint die Welt noch in Ordnung. Elinor sucht sich einen Weg aus der familiären Obhut, Toby unterstützt sie nach Kräften. Sie sind sich einander nicht nur geschwisterlich zugetan, eine gefährliche Anziehung zwingt sie zur Vorsicht spätestens seit jener Nacht, die sie gemeinsam verbracht haben. Elinor studiert beim renommierten Maler Henry Tonks, nebenbei besucht sie Anatomie-Kurse bei den Medizinern.

Fünf Jahre später ist von dieser Sorglosigkeit nichts mehr zu spüren. 1917 wird Toby Brooke an der Front „vermisst“, offenkundig gefallen, ohne dass lebende Überreste von ihm hätten identifiziert werden können. Elinor kann sich nicht damit abfinden und will mehr darüber erfahren. Doch Paul, ihr Freund, weiß nichts und Kit scheint ihr etwas zu verheimlichen. In diesem Dreieck zwischen den am Knie verwundeten Paul, dem im Gesicht entstellten Kit und der trauernden Elinor entwickelt sich ein kleines Drama um ein Wissen, das zuletzt erahnbar macht, welche Wunden der Krieg an der Front wie zu Hause hinterlässt.

Vor allem Kit Neville rückt mehr und mehr in den Fokus: „eine fette, feuchte Seidenraupe, die fortwährend ihre eigenen Legende wob“, wie es Paul empfindet. Dabei schwankt Kit gefährlich zwischen Zynismus und Verzweiflung. Ihm ist im Krieg die Nase weggeschossen worden, im Queen Mary’s Hospital wird versucht, ihm aus eigenen Hautstreifen eine neue Nase zu formen. Genau genommen ist es ein penisähnlicher Rüssel, wie Kit spottet. Als Elinor ihn einmal besucht, trifft sie auf ihren Lehrer Tonks, der für den plastischen Chirurgen Gillies Zeichnungen anfertigt, nach denen dieser die entstellten Gesichter so gut wie möglich rekonstruiert. Tonks bittet Elinor, ihm bei dieser Arbeit zu helfen. Nach kurzem Zögern gibt sie ihren Anspruch auf künstlerische Freiheit auf und stellt ihr Handwerk in den Dienst der Opfer, wenigstens wissend, dass diese nicht für den Krieg, sondern für ein Leben danach „wiederhergestellt“ werden. Zudem hofft sie so näher an Kits Geheimnis heranzukommen.

„Tobys Zimmer“ – ein ferner Nachklang von Virginia Woolfs „Jacobs Room“ – zeichnet ein ebenso unspektakuläres wie beeindruckendes Bild des Krieges, der die Menschen an Gestalt und Seele entstellt. In den Zeichnungen, die Tonks und Elinor anfertigen, wird die Fratze des Krieges augenscheinlich. Die Toten sind nicht mehr aufzuwecken. Doch wäre es nicht auch für viele Überlebende vielleicht besser, tot zu sein, als mit entsetzlich entstelltem Gesicht weiter leben zu müssen?

Pat Barker erzählt mit unnachgiebiger Behutsamkeit und Sachlichkeit. Ohne je zu verletzen, seziert sie mit scharfem Skalpell die nicht zuletzt auch egoistischen Gefühle ihrer Protagonisten. Sie alle kämpfen gegen eigene Ängste an und suchen in der Kunst eine Zuflucht. Elinor ist auf den Tod des Bruders fixiert und malt leere verwundete Landschaften, in der kaum sichtbar der Schatten eines Abwesenden auftaucht. Der im Gesicht entstellte Kit bewahrt ein Geheimnis, um damit die eigene Feigheit zu vertuschen. Der am Knie verwundete Paul laviert zwischen den beiden auf der Suche nach Geborgenheit und Freundschaft. Paul und Kit werden schließlich als Kriegsmaler berufen, mit der Auflage, den Krieg zu dokumentieren und zugleich seine Schrecken zu verschleiern.

Das ist mit großer Einfühlungsgabe geschildert, elegant und frei von Beiwerk, und vor allem stets loyal zu den Menschen und ihren Schicksalen. Pat Barker erlaubt sich keine stilistischen Experimente, einzig Rückblenden und einige Passagen aus Elinors Tagebuch lockern die chronologische Erzählung auf. Nicht zuletzt wegen dieser Zurückhaltung behält der Roman etwas berührend Luzides.

Hinter den Protagonisten werden in Barkers Roman tatsächliche Figuren sichtbar, sei es unter ihren wirklichen Namen wie Henry Tonks oder Harold Gillies, sei es variiert wie bei Elinor, Kit und Paul. Die drei tragen Züge von Künstlern jener Epoche aus der Slade School of Fine Arts, Elinor beispielsweise erinnert mit ihrem Kurzhaarschnitt an die extravagante Dora Carrington.

„Tobys Zimmer“ ist auch innerhalb von Pat Barkers Werk in größere Zusammenhänge eingebettet. Zum einen geht ihm ein Roman voran, „Life Class“, worin die Jahre zwischen 1912 und 1917 erzählt werden. Zum anderen hat Pat Barker in den 1990er-Jahren eine Aufsehen erregende „Regeneration“-Trilogie geschrieben, die sich aus außergewöhnlicher Perspektive mit den Kriegsjahren 1914-1918 auseinandersetzte. Für deren letzten Band „The Ghost Road“ („Die Straße der Geister“), erhielt sie 1995 den renommierten Booker-Preis zugesprochen.

Zum Schluss von „Tobys Zimmer“ gibt Kit das Geheimnis Paul gegenüber preis. In Tobys Tod laden sich Mut, Verrat, Verzweiflung und Feigheit gegenseitig auf, ohne dass am Ende das eine vom anderen zu trennen wäre. „Wenn du ein Bild brauchst, das den kompletten Wahnsinn dieser ganzen Unternehmung verdeutlicht, da hast du es“, bemerkt Kit dazu. Paul erzählt es weiter an Elinor, allerdings mit feinen Auslassungen, denn im Krieg ist es sinnvoll, „sich mit einer Annäherung an die Wahrheit zufriedenzugeben“. Mehr wäre gar nicht auszuhalten.

PS: Henry Tonks Pastell-Zeichnungen von entstellten Gesichtern sind übrigens auch online zu finden.

Titelbild

Pat Barker: Tobys Zimmer.
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow.
Dörlemann Verlag, Zürich 2014.
384 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-13: 9783038200017

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