Erziehung zur Lernfähigkeit

„Aggression und Avantgarde“: Thomas Schlepers Plädoyer für eine neue Erinnerung an den Ersten Weltkrieg

Von Hannes NagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Nagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurt Tucholsky und Hans Koschnik wagten die Lernfähigkeit der Menschheit nach allen ihren Kriegen zu bezweifeln. Kurt Tucholsky meinte, beim nächsten Krawall zögen „alle wieder mit dem Schmitt“; Hans Koschnik bemerkte in einer Veranstaltung der URANIA vor zirka 11 Jahren zum Thema Jugoslawienkrieg an: „Ich glaube allmählich, dass man aus der Geschichte überhaupt nichts lernen kann.“ Kurt Tucholsky war Schriftsteller in der Weimarer Republik und Hans Koschnik war Bosnienbeauftragter der Europäischen Union. Sein Einsatz in dieser Funktion war nötig geworden, weil der Todeskampf des Vielvölkerstaates Jugoslawien zeigte, dass in Europa trotz EU, OSZE und alledem Kriege als Tatsache wieder denkbar geworden waren. In der Zeit der Blockkonfrontation zwischen Ost und West, NATO und Warschauer Vertrag, Sozialismus und marktliberaler Wirtschaftsordnung waren Kriege trotz einiger brenzliger Situationen und Stellvertreterkriegen anderswo in Europa ausgeblieben.

Ab 2013 tauchten in den Feuilletons, in Webmagazinen und Ausstellungen Erinnerungen an das Jahr 1914 auf, als europäische Mächte den ersten von zwei Weltkriegen vom Zaun brachen, der nicht nur auf lokale Konfliktparteien beschränkt blieb, sondern global ausuferte. Eine dieser Ausstellungen zum Thema des Ersten Weltkrieges wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen und dem Landschaftsverband Rheinland ausgerichtet. Aus den dort gehaltenen Vorträgen zum Kongress „Aggression und Avantgarde“ entstand unter Leitung von Thomas Schleper als Herausgeber der Sammelband „Aggression und Avantgarde. Zum Vorabend des ersten Weltkrieges“ im Klartext-Verlag in Essen.

Die Didaktik der Geschichtsvermittlung des Buches ist klug. Sie beruht auf dem Wunsch, dass die Unberechenbarkeit von Kriegen in den Lehrplänen für den schulischen Geschichtsunterricht als Friedenserziehung vermittelt werden möge. Das ist selbst für entwickelte westliche Demokratien ein revolutionär neuer Ansatz, um nun doch einmal aus der Geschichte lernen zu lernen. In dem Buch wird an keiner Stelle ausdrücklich behauptet, dass zwischen dem Vorabend des Ersten Weltkrieges und der globalen Energiekrise, Rohstoffkrise, Klimakrise und der Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt von heute Parallelen bestehen. Doch genau diese Assoziation drängt sich auf. Die Assoziationen haben das Potenzial, die Leser wachzurütteln. Eisenbahnüberführungen an Landstraßen als Verkehrslösung für rein militärische Infrastrukturprojekte zu betrachten, lässt aufhorchen. Was wäre also, würde man bezüglich der Großbaustellen eines Zeitabschnittes fragen: Kann man aus einem Hafenneubau, dem Umbau des Autobahndreiecks Havelland oder anderen tatsächlichen Projekten erkennen, auf welchen Nutzungszweck die Arbeiten hinaus laufen?

Vorkrieg und Industrie, Vorkrieg und Architektur, Vorkrieg und Wirtschaft werden auf mehr Seiten behandelt als alle anderen Aspekte. Aber auch die haben es in sich. Vorkrieg und Beschleunigung, Vorkrieg und Nervosität als weit verbreitete Volkskrankheit mögen zwar keine kausale Kriegsursache gewesen sein. Es wäre aber unklug, sie nicht als Stimmungsbarometer zu betrachten und sich zu fragen: Wenn Stimmungen einer Situation ähneln, die schon mal verheerende Folgen hatte, was sagen dann aktuelle Stimmungen über die Möglichkeit von erneuten furchtbaren Folgen aus? Was sagt also die Analogie zwischen der Nervosität 1914 und dem Burnout-Syndrom von 2014? Der Band ist ein solides Nachschlagewerk sowohl für Detailinteressierte als auch für ein größeres Publikum. Das Buch ist Stimulans und Lehrbuch zugleich.

Titelbild

Thomas Schleper (Hg.): Aggression und Avantgarde. Der Vorabend des Ersten Weltkrieges.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2014.
488 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783837511734

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