Dichtung, Toleranz und Staat

Stefan Andres’ Essays sind eindrucksvolle Bekenntnisse

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 2007 erscheinen im Göttinger Wallstein Verlag Stefan Andres’ Werke in Einzelausgaben (herausgegeben von Christopher Andres, Michael Braun, Georg Guntermann, Birgit Lermen und Erwin Rotermund). Mittlerweile sind acht Bände herausgekommen und bereits zu einer beachtlichen Reihe des Œuvres eines Autors angewachsen, der früher einen hohen Bekanntheitsgrad aufwies und einflussreich war. Mit der Zeit wurde Stefan Andres allerdings vergessen. Es bleibt nur noch der Name in einer Reihe von Autoren, die als „christlich“ so treffend wie ungenau beschrieben werden. So widmete sich der 2009 erschienene Band „Eigensinn und Bindung“ über katholische Intellektuelle mit einem von John Klapper verfassten Aufsatz auch Stefan Andres, ohne dass sich dadurch die Bekanntheit des Autors hätte steigern lassen. Als umso verdienstvoller müssen daher die Werke in Einzelausgaben bezeichnet werden, die in opulenten, wohlkommentierten und mit breiten Nachworten versehenen Bänden viele der auch heute noch lesenswerten Texte von Stefan Andres wieder greifbar machen. Die Reihe hebt an mit einer Art Lebenswerk des Autors, der hochkomplexen Trilogie „Die Sintflut“, in der Wallstein-Reihe im Jahr 2007 erstmals überhaupt vollständig herausgegeben von John Klapper, gefolgt von den einst vielgelesenen „Moselländischen Novellen“ mit dem Übertitel „Gäste im Paradies“ (2008 herausgegeben von Hans Wagener), auf die auch der Stefan-Andres-Preisträger des Jahres 2013, Hanns Josef Ortheil, in seinem Kindheitstagebuch „Die Moselreise“ (2012) immer wieder zu sprechen kommt. Der Band „Terrassen im Licht. Italienische Erzählungen“ (herausgegeben von Dieter Richter 2009) versammelt Liebeserklärungen an Andres’ Wahlheimat, und der Band „Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933-1945“ (herausgegeben von Erwin Rotermund und Heidrun Ehrke-Rotermund unter Mitarbeit von Thomas Hilsheimer 2010) macht die auch für heutige Leser noch bedeutsamen Novellen „El Greco malt den Großinquisitor“ und „Wir sind Utopia“ wieder greifbar. Es folgten ferner der stark an eigene Erlebnisse angelehnte Roman „Der Knabe im Brunnen“ (herausgegeben von Christa Basten und Hermann Erschens 2011), der sich den Nichtprosagattungen zuwendende Band „Tanz durchs Labyrinth“ (herausgegeben von Claude D. Conter, Wilhelm Große und Birgit Lermen 2012) mit der Lyrik, den dramatischen Texten und der Hörspielarbeit des Autors, sowie der Roman „Die Versuchung des Synesios“ (herausgegeben von Sieghild von Blumenthal und Doris Weirich 2013).

Schließlich erschien ebenfalls 2013 der Band „Der Dichter in dieser Zeit“ (herausgegeben von Christopher Andres und Michael Braun), um den es im Folgenden gehen soll und der die Reden und essayistischen Arbeiten von Stefan Andres versammelt. Die Ausgabe gliedert sich in fünf Abteilungen, unter denen längere und kürzere Abhandlungen abgedruckt sind, was die Gesamtpublikation allerdings auf 500 Seiten anschwellen lässt: „Autobiographisches“, „Über Politik und Gesellschaft“, „Poetik und Ästhetik“, „Über andere Schriftsteller“, „Länder und Städte“.

Neben Texten, die immer wieder von tagesaktuellen Belangen handeln und als direkte Debattenbeiträge zur Verbesserung der Gesellschaft verstanden sein wollen, fallen vor allem die unmittelbaren und, indem sie sich zur Dichtung im Allgemeinen oder zu konkreten Beispielen äußern, die indirekten poetologischen Arbeiten auf, die den gesamten Band durchziehen. Diese verdeutlichen auch, wie lohnend es sein könnte, sich mit Andres’ Verständnis der eigenen Dichtung und natürlich mit seinen Primärtexten auseinanderzusetzen, wie interessant es wäre, Andres gerade jetzt nach einer Zeit des Vergessens wieder in Erinnerung zu rufen. Interessant scheinen hier etwa der Essay „Über mein Werk“, der Aussagen zu Andres’ Haltung seine eigene Schriftstellerei betreffend bietet, und der Essay „Innere Emigration“, mit dem Andres klug eben jenes Phänomen reflektiert, das in der Nachkriegszeit für viele christliche Schriftsteller eine große Rolle spielte. In „Über mein Werk“ formuliert Andres etwas, das demonstriert, wie sehr er die eigene Literatur als Fügung betrachtet, der ein Autor mit seinem Schreiben zu folgen habe: „Über Stoff, Gehalt und Weltbild meines Werkes mich auszulassen, widersteht mir. Auch ein Künstler darf seine innere Welt nicht in den Schaukasten legen. Er zeigt sie in seinem Werk durch Spiegelungen in indirekter Schau und überträgt sie durch magische Andeutungen und Zeichen in die Seele des Betrachters.“ Die Aufgabe des Schriftstellers – eine Art Streben nach Schönheit – wird Andres auch in weiteren Essays dieses Bandes abhandeln.

Als historische Zeugnisse können gerade die Beiträge gelten, in denen sich Andres zu politischen Belangen seiner Zeit äußert, wie etwa die 1958 in Köln gehaltene Rede „Gegen die Atomaufrüstung“, die sich gegen Raketenbasen in Westdeutschland wendet, aber auch engagiert von den Obrigkeiten wissen möchte: „Sind es unsere Kinder, die sie in Sicherheit bringen? O nein, was sie da so eifrig von einem Ort zum andern tragen, sind Vernichtungsmittel endzeitlichen Ausmaßes.“ Eine Haltung mithin, die sich zweifellos bis zum heutigen Tage reaktualisieren ließe. Auch sein Aufsatz „Toleranz“, könnte sich in heutigen Debatten als instruktiv erweisen, wo doch die Toleranz als Generalbegriff in aller Munde ist. Andres dagegen vertritt mit seiner Definition von Toleranz, die er als heilige Duldsamkeit versteht, ein radikales Konzept. Er sieht die Toleranz sowohl als bedroht an, würdigt sie aber zugleich vor allem als ein aktives Prinzip, das nicht dadurch an Würde verliere, wenn sie vom Gegner nicht anerkannt werde. Andres setzt zur Bedeutung der Toleranz für das Religiöse einen entscheidenden Akzent: „Wenn wir die wenigen uns von der Geschichte hinreichend bezeugten Toleranzträger betrachten, so stellen wir fest, daß es samt und sonders geistig unabhängige und religiöse Menschen waren, voll Einfühlungskraft und zur Ehrfurcht fähig.“ Entscheidend ist ihm die Wahrheitsfindung in Freiheit, denn Andres weist die Vorstellung zurück, dass man zur Wahrheit gezwungen werden dürfe; ja, es gelte sogar, dass „der Mensch, der zur Wahrheit will, sogar auf die Toleranz der andern, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen, verzichten“ kann.

Poetologisch am reizvollsten unter allen Essays des Bandes ist „Über die Sendung des Dichters“. Der Text reflektiert, wie es sich mit dem Problem verhalte, dass der Dichter häufig als Propagandist einer Sache und Weltanschauung betrachtet werde, eine Forderung an den Schriftsteller, die in unserer Gegenwartsliteratur beispielsweise Martin Mosebach in seinen Essays nicht minder entschieden zurückweist. Andres wendet sich gegen eine Literatur, die nur eine Art Meinungsjournalismus oder getarnte Apologetik sein möchte und schreibt: „Wer heute von der Sendung des Dichters spricht in dem Sinne, daß der Dichter nicht nur der Schönheit zu dienen habe, sondern darüber hinaus oder daneben oder zuallererst einem ‚höheren Ziel‘, der hat noch nicht begriffen, was es mit der Funktion des Schönen in dieser Welt auf sich hat.“ Dem entsprechen Andres’ Würdigungen von Autoren der Literaturgeschichte: Der Aufsatz „Eine halblaute Frage. Zu Ernst Jünger“ fragt nach der Randstellung eines großen Autors im eigenen Land und bildet zusammen mit Andres’ Briefwechsel mit Ernst Jünger von 1937 bis 1970, der 2007 veröffentlicht wurde, ein beeindruckendes Zeugnis für diese Dichterbekanntschaft. Programmatischer erweisen sich sodann Stefan Andres’ Würdigungen des Werkes Joseph Conrads, Schillers als „Rebell und Bürger“ und, vorbildhaft für Andres selbst, der Essay „Henry D. Thoreau, der Eremit von Walden Pond“, aus dessen Werk Andres trotz seiner eigenen, eher konservativen Grundhaltung einen freiheitsliebenden Anarchismus extrahiert, der sich gegen jedweden staatlichen Leviathan stellt.

Der Band „Der Dichter in dieser Zeit“ bietet so eine eindrucksvolle Sammlung des ganzen Panoramas der Andres’schen Essayistik, zugleich einen guten Einstieg in Andres’ Werk und reiche Ansatzpunkte für die weitere Erschließung seiner fiktionalen Texte. Er verfügt über einen gründlichen Kommentarteil mit Nachweisen der einzelnen Texte, und, wie in allen Bänden der Reihe, über ein kluges und ungemein sachkundiges Nachwort. Dort schreiben die Herausgeber Christopher Andres und Michael Braun noch einmal resümierend über die Schwerpunkte der ganzen Publikation: „Die Parameter seiner politischen Essayistik und des gesellschaftlichen Engagements sind die Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte, vor allem die Kritik an der Elitenkontinuität nach dem ‚Dritten Reich‘, die Aussöhnung mit dem jüdischen Volk, die Wiedervereinigung Deutschlands, die europäische Idee mit Priorität der deutsch-französischen Annäherung und das christlich-humanistisch inspirierte Engagement gegen Kalten Krieg und atomare Aufrüstung.“ Mehr von Stefan Andres’ Mut zur Durchdringung seiner Gegenstände wäre gewiss auch für seine Leser des Jahres 2014 ein dringendes Plädoyer. Indem man Andres wieder zu einem Dichter in dieser Zeit macht, wäre ein erster Schritt getan.

Titelbild

Stefan Andres: Der Dichter in dieser Zeit. Reden und Essays.
Herausgeber von Christopher Andres und Michael Braun.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
498 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835311022

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