Erinnertes Wien

Über die Judengasse – einen Ort der Vergangenheit und der Gegenwart

Von Elvira HadzicRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elvira Hadzic

Ich sehe schönes Kopfsteinpflaster. Vor einigen Jahren war die Judengasse ziemlich dunkel, in ihrem fast ursprünglichen Zustand. Ganz ruhig. Geschäfte, Lokale und die Schickeria waren hier nicht so präsent, es gab mehr Wohnungen, unten Kleidergeschäfte. Eins ist in den 9. Bezirk übergesiedelt, daran kann ich mich noch erinnern. Unterschwellig waren da auch noch andere Gefühle, gemischte Gefühle, die auch sonst in Wien oft aufkommen.
Ich höre ein bisschen Straßenlärm, Vogelgezwitscher auch, und Kaffeehausgeräusche. Zwei Brüder betreiben das Lokal bei der Statue von Joseph und Maria, und in der Seitenstettengasse, die gleich auf der anderen Seite der Judengasse abzweigt, Richtung Donaukanal, befindet sich die Synagoge.
Heut ist es zu windig und der ganze gute Essensgeruch verblasen.

Der Gang zur Judengasse führt fort von den touristischen Sehenswürdigkeiten, dem Stephansdom oder dem Vermählungsbrunnen am Hohen Markt. Man ist hier abseits vom Getümmel der Großstadt. Zwischen den langen Häuserzeilen herrscht Feiertags- oder Sonntagsstimmung. Zu sehen sind alte restaurierte Gebäude, viele moderne, mit Plakaten beklebte Lokale, in der Mitte eine alte und hochgewachsene Kamelie am Hang der Stiege, die hinunterführt zum Fleischmarkt. Die Äste des Baumes wenden sich durch den heftigen Ostwind dem Westen der Gasse zu und weisen in die Richtung der Sterngasse. Nur wenige Menschen laufen die Stiegen hinauf und durch die Gasse. Es ist ruhig. Die Straße wirkt fast unbelebt. Der Wind scheint der einzige, flüchtige Besucher zu sein. Von Zeit zu Zeit dringen angeregte Männerstimmen aus der Seitenstettengasse. In wechselnden Schichten stehen immer zwei bewaffnete Männer an der Synagoge, die äußerlich als solche kaum erkennbar ist. Die Bewachung nach dem Anschlag von1981 erzeugt noch heute eine beklemmende Stimmung, die die brutalen Geschehnisse während der Zeit des Nationalsozialismus und danach bis in die Gegenwart nachvollziehbar werden lässt.

Ilse Aichinger widmete diesem Ort in den 1950er-Jahren ein gleichnamiges Prosagedicht, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges durch Erinnerungen und Beschreibungen miteinander verwoben werden. Bei „Judengasse“ handelt es sich um eine topografische Beschreibung, wie sie auf Postkarten oder in Broschüren und Reiseführern nicht zu finden sein könnte. So berichtet das lyrische Ich von einem Raum, der vor allem als Ort der Erinnerung einen wehmütigen Blick auf Vergangenes ermöglicht und einen persönlichen Bezug zur Gasse unverkennbar macht. Ein kollektives jüdisches „Wir“ etabliert sich und spricht von „unser[em] Stolz“, der verging, von den Häusern, die „wir“ hier bauten, und von dem Untergang der Sonne, der „wir“ nachzogen. Die Verfolgungen und Morde der NS-Zeit spiegeln sich in der Betroffenheit des lyrischen Ichs als Teil der jüdischen Gemeinschaft wider. Was nun übrig bleibt, ist der Ostwind, der „unsere Wäsche trocknet“, und das „Gras zwischen den Steinen“, den „Katzenköpfen“.

Auch wenn die Worte in Aichingers Prosagedicht nicht allen WienerInnen bekannt sind, ähneln die Beschreibungen der Judengasse oft den Worten der Autorin. An einem sonnigen Nachmittag im Mai 2014 lerne ich in der Judengasse fünf Wiener BewohnerInnen kennen. Eins verbindet die fünf trotz ihres unterschiedlichen Alters, ihrer sozialen Prägung, Religionszugehörigkeit oder Herkunft: Sie gehen fast täglich über die Judengasse, da sie in der Nähe leben oder arbeiten. Sie erzählen mir von ihren Eindrücken und Erinnerungen. Unter ihnen befindet sich ein älterer, adrett gekleideter Mann, der mit einem Beutel aus der Sterngasse auf die Judengasse spaziert und nicht weit von der großen Kamelie stehen bleibt, sich an einen angebundenen Lokaltisch lehnt und anfängt mir von seiner Wahrnehmung zu erzählen. Eine Bewohnerin aus der unmittelbaren Nachbarschaft scheint dem Mann nachgegangen zu sein, denn sie biegt ebenfalls aus der der Sterngasse ein und kommt vor dem Lokal s’ Eck Bier Bar Beisl zum Stehen. Auch sie plaudert drauf los. Einige Meter weiter, näher an der Kamelie, steht ein großer dunkelhaariger Mann, und seine interessierten Augen fixieren meinen Blick. Er lächelt kurz, dann leitet er seine Worte mit einem leisen „Hm“ ein. Vor dem Geschäft Tattoo-Mania, ganz in der Nähe, bleibt ein kleiner Junge mit seiner Hündin stehen – oder vielmehr bleibt die kleine Hündin mit ihrem Besitzer stehen, um ihr Geschäft zu erledigen. Währenddessen entsteht auch hier ein Gespräch. Am Hohen Markt bleibt eine junge und freundlich lächelnde Frau am Ende der Judengasse stehen. Mit einem Blick über die Schulter teilt auch sie ihre Gedanken mit mir.

Alle fünf schauen sich um, überlegen kurz und sprechen dann von einer ihnen fast fremden historisch-geprägten Judengasse und gleichzeitig von einem ihnen sehr vertrauten Ort der Gegenwart. Durch ihre dafür gefundenen Worte werden die fünf zu Autorinnen und Autoren dieses Aichinger-Pastiches, das zugleich eine Art Hommage an die Judengasse sein soll.