Mixtur von Urteilen und Vorurteilen

Rolf Hochhuths szenischer Versuch über Martin Luther: „9 Nonnen auf der Flucht“

Von Wolfgang ReitzammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Reitzammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter Verzicht auf jegliche Altersmilde sieht sich der 83-jährige Rolf Hochhuth wohl mehr denn je als agent provocateur, der keinem Wespennest, keinem Fettnäpfchen und keinem Streit ausweichen will. Ob diese Spätform eines frühkindlichen Trotzverhaltens jedoch seine literarische Qualität bestärkt, lässt sich (auch) an seinem aktuellen Opus mit Fug und Recht bezweifeln.

Nach dem aufsehenerregenden „Stellvertreter“ (1960, UA 1963) hat er immer wieder versucht, historische und zeitgeschichtliche Skandale literarisch als Theatertext aufzudecken: mit „Soldaten“ (1967), mit „Juristen“ (1980), mit „Ärztinnen“ (1980), mit „Wessis in Weimar“ (1993) und mit „McKinsey kommt“ (2004).

Mit der Komödie in drei Akten „9 Nonnen fliehen“ kehrt er nun ins kirchengeschichtliche Terrain zurück – allerdings weit zurück ins 16. Jahrhundert, in die Zeit Martin Luthers, dessen bevorstehendes Jubiläumsjahr vielleicht auch ein Grund für die Beschäftigung mit dieser Figur war. Zentrale Person des Theaterstücks ist aber die Ex-Nonne Katharina von Bora, die in allen drei Akten präsent ist und sozusagen den Leitfaden dieser wenig schlüssigen Theaterhandlung bilden soll.

Die aufgeklärte Johanna, eine der neun Nonnen, die zu Beginn des Stücks aus einem Kloster fliehen, erklärt den – so Hochhuth – wahren Zeitgeist des 16. Jahrhunderts: Ihr sei bewusst geworden, „wie absurd widernatürlich Nonnen und Mönche leben“. Die neun Nonnen – vom Autor als Teenies und Twens apostrophiert – reden dabei in einer merkwürdigen Mischung aus Verssprache und derber Umgangssprache, sie verwenden, obwohl Hochhuth in der Einleitung Geschichtstreue einfordert, sogar mehrfach Anglizismen: „No risk no fun“. Angeregt wurde diese Szene durch Lucas Cranachs Gemälde „Das Goldene Zeitalter“.

Ein Zeitsprung führt zum 2. Akt, wo das Paar Luther und Katharina Besuch vom dänischen König Christian bekommt. Das Zwei-Männer-Gespräch pendelt recht ziellos um Themenkomplexe wie Bibel-Übersetzung, Hexenverbrennung und fürstliches Mäzenatentum. Als aber Katharina (hier: Käthe) ihren Luther auffordert, Position gegen die Hexenverbrennungen zu beziehen, bleibt er recht indifferent, flüchtet sich in den „scholastischen Dreck“ der Abendmahls-Theorie.

Im 3. Akt steht Luthers Eheweib als Modell für Lucas Cranach Akt, Luther nimmt das liberal hin und lässt sich auch vom hessischen Prinzen Philipp dazu erpressen, dessen Zweitehe zu legalisieren. Dem Wunsch eines Gesandten von Thomas Münzer nach einer positiven Würdigung der kriegerischen Bauern entzieht sich Luther jedoch feige.

Geht es also darum, eine Ikone des Protestantismus vom Sockel zu stoßen? Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn selbst in kirchennahen Kreisen ist die Ambivalenz der Person Martin Luther längst bewusst. Also scheint es eher so, dass Rolf Hochhuth aus den historischen Skizzen ein paar als aktuell vermutete Reizthemen destillieren will und dies in umfänglichen Zwischentexten (Kommentare? Regieanweisungen?) ausbreitet. Das gar bunte Potpourri von arg populistischer Kritik an so allerlei sei hier nur stichwortartig aufgezählt: Kritik am modernen („marxistischen“?) Regietheater, an der finanziellen Unehrlichkeit von Schriftstellern, an der neuen Prüderie ab dem 19. Jahrhundert, an der Staatsverschuldung in der EU, an der Ablehnung der Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte, an dem Irrsinn bei Gruppen, Parteien, Völkern (Nietzsche) – wohl im Gegensatz zur Vernunft des Individuums? – an der viel zu geringen Kunstförderung der Politik (wie zum Beispiel Kunst am Bau), an der monogamen Ehe als Institut zur Lähmung des Geschlechtstriebs.

Dass aus dieser Mixtur von Urteilen und Vorurteilen kein schlüssiges Theaterstück werden kann, versteht sich fast von selbst. Der krude Text wurde bisher einmal als szenische Lesung erprobt: bei dem „Festspiel der deutschen Sprache“ im sächsisch-anhaltinischen Bad Lauchstädt (2013), immerhin in Anwesenheit von Ministerpräsident Haseloff, Kulturstaatsminister Naumann und local hero Hans-Dietrich Genscher. Seitdem ist das Stück in Vergessenheit geraten – zu Recht! Vielmehr wäre zu wünschen, dass sich ein paar Intendanten an Dieter Fortes Reformationsdrama „Martin Luther & Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung“ erinnern würden.

Zusätzliches Ärgernis: Die Buchausgabe bei Rowohlt wird noch durch ein fast schon peinliches Nachwort von Uta Ranke-Heinemann und eine arg wohlwollende Exegese von Antje Vollmer „abgerundet“.

Titelbild

Rolf Hochhuth: 9 Nonnen auf der Flucht. Komödie in drei Akten.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
176 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783499268557

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