Bewährtes Wissen neu verpackt

Eine Neuauflage des Bachmann-Handbuchs von Monika Albrecht und Dirk Göttsche

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Piper 1978 zum ersten Mal eine Werkausgabe von Ingeborg Bachmann herausgab, kam das einem Erdbeben in der posthumen Rezeption der Dichterin gleich. Nicht nur boten die vier Bände erstmals einen Überblick über Bachmanns Œuvre, einschließlich vieler bis dahin unbekannter Nachlasstexte, die bis in die Schulzeit zurückreichten. Vielmehr gab es eine Neuentdeckung der Autorin unter veränderten Vorzeichen. Das Bild der „auratischen“, ja „verhuschten“ Dichterin, das die öffentliche Wahrnehmung bis zu ihrem Tod dominierte, wich dem einer Autorin, die sich in ihren letzten fünfzehn Jahren der Prosa gewidmet hatte und darin zu den wirklich Großen ihrer Zeit zählte. Der einzige zu Lebzeiten publizierte Roman Malina (1971) erschien hier zum ersten Mal im größeren Kontext des Zyklus Todesarten, ergänzt um die Textfragmente Requiem für Fanny Goldmann und Der Fall Franza (was korrekt eigentlich Das Buch Franza heißen musste). Todesarten handelt vom Weiterleben eines Gewaltpotenzials, das durch den Nationalsozialismus sichtbar wurde, in der Nachkriegsgesellschaft, und zwar in erster Linie als Gewalt von Männern gegen Frauen – eine Gewalt, die nicht zufällig und individuell, sondern konstitutiver Bestandteil einer nach wie vor von Männern dominierten Gesellschaft ist. Kein Wunder, dass die neue Aufmerksamkeit für Bachmann vor allem in den 1980er-Jahren unter feministischen Vorzeichen stattfand. Damit begann auch eine breite Bachmann-Rezeption in der Auslandsgermanistik, vor allem in Nordamerika und Frankreich, die bis heute nicht abgerissen ist.

Seit 1978 ist viel geschehen. Inzwischen wissen wir erheblich mehr über Ingeborg Bachmann. Das betrifft zum einen die Lebensgeschichte der Autorin, etwa durch die Briefwechsel mit dem Komponisten Hans Werner Henze und mit Paul Celan, mit dem die Dichterin – für viele überraschend – eine intensive Liebesbeziehung hatte. Andrea Stoll hat Bachmanns Lebensgeschichte aufgezeichnet, Ingeborg Gleichauf die problematische, fast fünf Jahre währende Beziehung mit Max Frisch aufgearbeitet. Noch mehr betrifft das allerdings ihr Werk. Zum einen durch Editionen unveröffentlichter Gedichte – bis dahin hatte man angenommen, Bachmann habe die Lyrik Mitte der 1960er-Jahre endgültig aufgegeben. Zum anderen durch immer wieder neue Textfunde wie die Römischen Reportagen, kleine Texte aus der italienischen Hauptstadt, die sie Mitte der 1950er-Jahre unter einem Pseudonym publiziert hatte, oder die Manuskripte der Unterhaltungsserie Die Radiofamilie (1952/53), die Bachmann für den Wiener Radiosender Rot-Weiß-Rot schrieb (unfassbar – eine „sensible Dichterin“, die Radiohörer unterhalten will!). Vor allem aber liegt seit 1995 eine fünfbändige Auswahl aus den über 10.000 Manuskriptseiten zum Todesarten-Zyklus vor, die zum ersten Mal die Umrisse und Verzweigungen des gigantischen Projekts sichtbar machte.

Das alles hat natürlich auch die Forschung beflügelt, die mittlerweile ins Unübersehbare geht. Monika Albrecht und Dirk Göttsche, beide auch an der Todesarten-Edition beteiligt, publizierten darum schon vor zwölf Jahren ein vorbildliches Ingeborg-Bachmann-Handbuch im Stuttgarter und Weimarer Metzler Verlag, das jetzt in einer preisgünstigen Sonderausgabe neu vorliegt. Gemeinsam mit ihren Ko-Autoren, zu denen ausgewiesene Größen der Forschung wie Sara Lennox und Hans Höller zählen, haben sie nicht nur Bachmanns Werke – inklusive der posthum publizierten –, sondern auch die gesamte Sekundärliteratur gesichtet. Den Anfang macht ein Durchgang durch Werk und Rezeption, dann werden die einzelnen Werke vorgestellt. Am gelungensten aber ist der dritte Teil, „Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk“, der in Längsschnitten philosophische und psychologische, zeitgeschichtliche und intertextuelle Bezüge im Werk der Autorin aufschlüsselt. Dies alles ist mit Kennerschaft zusammengestellt und verständlich geschrieben. Kurz – wer sich als Forscher einen Überblick zu Bachmann verschaffen oder sich im Studium genauer mit der Autorin beschäftigen will, kommt an diesem Handbuch nicht vorbei. Ein großartiges Kompendium – auf dem Stand von 2002.

Denn hier liegt die Achillesferse des Unternehmens: Es handelt sich um die seiten- und druckgleiche Neuauflage des alten Handbuchs, wenn auch zu einem günstigen Preis, als wäre in der Forschung in mehr als einem Jahrzehnt nichts mehr geschehen. Damals lag die Radiofamilie nicht vor, war der Briefwechsel mit Paul Celan nicht publiziert, von hunderten neuer Forschungsbeiträge ganz zu schweigen. Und wenn schon eine Neubearbeitung aus Zeit- und Geldgründen nicht möglich gewesen sein sollte, dann wäre wenigstens eine Überarbeitung der bibliografischen Angaben wünschenswert gewesen. Zum Einstieg in Werk und Forschung eignet sich der Band nach wie vor hervorragend. Wer sich aber auf den aktuellen Stand der Dinge bringen will, muss viele eigene Recherchen investieren. Trotzdem: Auf diesem fachlichen Niveau und dieser Preisstufe ist die Neuausgabe sicher konkurrenzlos.

Das größte Desiderat zu Ingeborg Bachmann ist jedoch eines, auf das Albrecht und Göttsche selbst verweisen: Wäre es nicht endlich an der Zeit, die Werkausgabe von 1978 vom Markt zu nehmen und durch eine kritische Edition zu ersetzen, die wenigstens die vielen seitdem neu entdeckten und veröffentlichten Texte in sich aufnähme? Also: Wer wagt es?

Titelbild

Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.): Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 2013.
330 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476025135

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