Kentern auf dem Weg in das Sehnsuchtsland

Hans-Ulrich Treichels Liebesgeschichte „Mein Sardinien”

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Norden? In den Süden? Für viele Deutsche bedeutet das in der Urlaubszeit eine schwierige Entscheidung. Die Sehnsucht nach dem Norden oder dem Süden kennen auch Autorinnen und Autoren. Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Westfalen geboren und seit 1995 Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, gehört zu der Gruppe, die es in ein Land zieht, wo die Zitronen blühen. Er kennt es aufgrund seiner beruflichen Biografie aus erster Hand und hat über die Darstellung des Sehnsuchtlandes in der deutschen Literatur geforscht und geschrieben.

Was wundert es, dass Georg Zimmer, Dissertant und Möchtegernliterat – „er wußte, daß die ,Edition Ausweg‘ eine Sackgasse war“ –, in „Tristanakkord“ (2000) auf einem Landgut in Sizilien herausfinden will, was eben dieser sei. In „Der irdische Amor“ (2002) ist es der Student der Kunstgeschichte, Albert, der eine italienische Kellnerin kennenlernt und ihr liebestrunken in ein tristes italienisches Bergarbeiterdorf folgt. Daran schließt die 2012 im Mare Verlag erschienene Geschichte an, die jetzt bei Suhrkamp als Taschenbuch zu erhalten ist. Der Protagonist erinnert an Georg Zimmer, recherchiert er doch auch „über den Tristanakkord in der MGG“ und schreibt ebenso eine Doktorarbeit. Sein Thema: Wolfgang Koeppens Sardinienbild. Er erzählt als Ich-Erzähler „Eine Liebesgeschichte“. Christina lernt er in einer italienischen Bar in der Schöneberger Hauptstraße in Berlin kennen, in der nichts an das Sehnsuchtsland erinnert. Es hängt kein Neapel-Plakat an der Wand, auch kein „Bild mit der Mannschaft von Lazio Roma oder der ACF Fiorentina“. Es ist seine Italiensehnsucht, die den Dissertanten dazu bringt, „plötzlich wie niemals zuvor angelockt von der mit den italienischen Nationalfarben beklebten Glasfront und dem gleißend hellen Lichtschein, der aus der Oberlichte der Eingangstür fiel“ das Lokal zu betreten und „beinahe schon im Hinausgehen“ der aus dem südsardischen Sant’Antioco stammende Kellnerin „Ti voglio bene. Molto bene“ zuzurufen. Die beiden Übersetzungsmöglichkeiten „Ich habe dich gern. Sehr gern“ und „Ich liebe dich. Sehr sogar“ deuten wie die ambivalente Beschreibung des Ortes auf das, was in dieser Liebesgeschichte abgehandelt wird. Es geht um die Anziehungskraft des Fremden und der eigenen Sehnsucht und wie beide fragwürdig werden können. Daneben geht es freilich auch um Literatur und (Film-)Kunst.

„Mein Sardinien“ enthält am Schluss ein Literaturverzeichnis und Karten. Aber freilich ist die Geschichte kein Sachbuch. Der Ton ist witzig-ironisch, meist heiter und manchmal etwas melancholisch. Typisch Treichel halt. Der Ich-Erzähler folgt Christina in ihre sardische Heimat. Auf der Überfahrt auf die Insel hat die Lektüre Ernst Jüngers den Angsttraum ausgelöst, „auf dem Weg in meine Heimat zu kentern und abzusaufen oder aber dorthin zurückzukehren“. Die meisten Rezensenten lesen die Liebesgeschichte als ein Stück Treichel-Biografie. Womit der Ausgang des Traumes klar wäre. Allerdings zeigt der Zusammenhang mit den oben erwähnten Werken, dass „Mein Sardinien“ auch Teil einer fiktionalen Trilogie ist. Was den Ausgang der im Traum aufgekommenen Befürchtung gänzlich offen lässt. Wenigen Autoren gelingt ein so locker-leichtes Spiel mit autobiografischen Versatzstücken.

Titelbild

Hans-Ulrich Treichel: Mein Sardinien. Eine Liebesgeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
224 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783518464960

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