Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg

Hinweise auf unbekannte Texte und Zusammenhänge zu einem umstrittenen Thema

Von Hartmut VinçonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hartmut Vinçon

Als die europäischen Großmächte nach dem Mordattentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gattin Sophie binnen weniger Wochen einen Krieg um die Vormachtstellung in Europa entfesselten, sahen zu Beginn der imperialen Auseinandersetzung viele Intellektuelle aller am Krieg beteiligten Nationen sich aufgerufen und berufen, mit Kriegsworten patriotisch Position zu beziehen. So auch Frank Wedekind! Er war – vermittelt durch Joachim Friedenthal, den Korrespondenten des Berliner Tageblatts – von der Direktion der Münchner Kammerspiele eingeladen, im Theater den „einleitenden Vortrag“an dem für den 18.9.1914 angesetzten „Patriotischen Abend“ zu halten. Seine Rede wurde in der Münchner Presse vorangekündigt. Die Ansprache bestehe, wie die Münchner Neuesten Nachrichten schrieben, aus zwei Teilen: Vom deutschen Vaterlandsstolz und Deutschland bringt die Freiheit. Seit den verschärften Zensurbestimmungen nach Beginn des Krieges mussten auch Vorträge, bevor sie gehalten werden durften, den Zensurbehörden zur Prüfung und Genehmigung vorgelegt werden. Das Berliner Tageblatt veröffentlichte die Rede unter dem Titel Deutschland bringt die Freiheit (27.9.1914).[1]  

Bevor den Krieg rechtfertigende deutsche Wissenschaftler und Schriftsteller sich zu Wort meldeten, hatten des Kaisers Losungsworte längst die Vorlage für einen gewaltigen Propagandafeldzug geliefert, arrangiert über die Reichskanzlei unter Kanzler von Bethmann-Hollweg. Propagandistisch sollte wirkungsvoll erreicht und gesichert werden, dass eine Mehrheit des deutschen Volkes kriegsbegeistert Gefolgschaft leistete. Die im Reichstag vertretenen Parteien erteilten dem Kaiser und der Regierung die Legitimation, den Krieg zu führen. Das Volk wurde nicht gefragt.

Wedekind nahm viele der von seinen Schriftstellerkollegen aufgegriffenen propagandistischen Kriegsworte in seinen Vortrag auf: beispielsweise die Phrase, Deutschland sei der Krieg aufgezwungen worden, oder die Berühmung der treuen Waffenbrüderschaft zwischen den Volksklassen. Teils baute er die inflationär kursierenden Worte des Krieges zitativ in seine Rede ein, teils formulierte er, teils wertete er sie um. Dank ihrer Aufnahme in seinen anspielungsreichen Text entstand ein Geflecht, das den Charakter einer rhetorischen Inszenierung besitzt. Das erklärt den verklausulierten, enigmatischen Vortrag seiner Rede. Ihre Ambivalenzen stellten dem Zuhörer und Leser anheim, die dem Text eingewobenen Mehrdeutigkeiten zu vereindeutigen.

Die Mehrheit der sich öffentlich zu Wort meldenden Wissenschaftler und Schriftsteller unterstützten im ersten Kriegsjahr die chauvinistische Propaganda des Staates. Ihr lässt sich Wedekinds Vortrag nicht zuordnen. Wedekind hat im Übrigen, obwohl das immer wieder behauptet wird, nie einen der damals kursierenden ‚patriotischen‘ Aufrufe unterschrieben.

Wedekinds Textkonstruktion mag dem Schutz vor Zensur geschuldet sein. Politisch wäre es wünschenswert gewesen, er hätte eindeutig zu seinem Publikum in den „Kammerspielen“ gesprochen. Politisch, nicht moralisch betrachtet, ist seine Rede kritisierbar. Zu Beginn des Krieges hoffte er auf einen „Siegfrieden“, nicht auf einen „Verständigungsfrieden“. Wedekind wünschte ihn sich für Deutschland, während er zugleich wusste, dass von einem hoch aufgerüsteten Nationalstaat jedweder Prägung keine Friedenspolitik zu erwarten war. Die Hoffnung auf einen Siegfrieden entpuppte sich für ihn 1915 bald als eine politische Illusion, während die sozialdemokratische Parteiführung noch bis ins Jahr 1917 blind an diesem Ziel festhielt.

Reden oder Schweigen? Wedekinds enigmatische Rede führte dazu, dass sich in ihr die zeitgenössischen Kommentatoren selbst bespiegelten. So ist es nicht erstaunlich, dass die Meinungen über die Rede und ihre Veröffentlichung weit auseinander klafften. Die Münchner Presse urteilte, der Redner habe „in seinen sachlich einleitenden Worten viel Beachtenswertes, besonders über den deutschen Vaterlandsstolz“ gesagt.[2] Liberal gesonnene Freunde Wedekinds wie zum Beispiel Joachim Friedenthal waren der Auffassung, die Widersprüche, die „scheinbar sich aus jenem Aufsatz ergeben“, seien keine für jene, die Wedekind kannten. Sie würden sich vielmehr aus seinem „heimlich belächelten Zwang zur […] öffentlichen Repräsentation“ ergeben und besonders aus seiner „alten Freude, die ewig gehaßte und damals mehr als je hassenswerte Zensur irrezuführen und, unter satanischem Feixen, zu bluffen“. Er war, so Friedenthal, „von Anfang an ein Kriegsgegner“[3]. Artur Kutscher äußerte später, einen „festen politischen Standpunkt“ nehme Wedekind jetzt so wenig wie früher ein“. Seine Münchner Rede habe „sich keineswegs mit seiner Überzeugung“ gedeckt.[4] Der gleichfalls mit Wedekind befreundete Kurt Martens meinte Jahre später, Wedekind habe in München „überraschend imperialistische Töne“ angeschlagen.[5] Konservative Zeitgenossen waren dagegen erstaunt über Wedekinds patriotische Ansichten in dieser schweren Zeit und über seine geistige und sittliche Wandlung, durch die er sich als stolzen deutschen Patrioten zu erkennen gebe. Reaktionäre Journalisten  bezichtigten ihn als Opportunisten der puren politischen Heuchelei. Auch in der Wedekind-Forschung ist Wedekinds Haltung zum Ersten Weltkrieg bis heute umstritten geblieben.[6]

Als der Krieg begann, enthielten sich nur einige wenige deutsche Schriftsteller patriotischer Reden. Das Diktum von Karl Kraus: „Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr Eintritt in den Journalismus“, hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Reden oder Schweigen?

Wedekind hat nicht geschwiegen, aber wenig bekannt ist, dass er bereits am 4.8.1914 begann, sich durch eine umfangreiche Quellenlektüre auf die Niederschrift eines Bismarck-Dramas vorzubereiten. Erste Lektüre Wedekinds war Wilhelm Liebknechts mehrfach wieder aufgelegte Broschüre Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden (1893). Es entsteht das erste Dokumentarstück in der deutschen Literatur, auf das hier nur knapp eingegangen werden kann. Die Niederschrift des Stückes setzte im Februar 1915 ein. Der Autor schloss sie im November mit der Korrektur der letzten Druckfahnen ab. Es handelt sich um ein Dokumentarstück auch deshalb, weil der Text des Werkes sich über weite Strecken aus Zitaten aus den von Wedekind benutzten Quellen zusammensetzt, hauptsächlich aus Schriften über und von Bismarck – wie bereits Wedekinds Zeitgenossen rasch feststellten. Der Autor konnte voraussetzen, dass seine Zitatmontage wahrgenommen wurde. Das historische Ereignis, der Deutsch-Deutsche Krieg (1866), war wie die zitierten Textpassagen – aus damals weit verbreiteten Lektüren stammend – noch frisch im kulturellen Gedächtnis präsent. Die zeitgenössische Theaterkritik erkannte sofort, dass die in den Dramentext eingefügten dokumentarischen Texte sich sehr deutlich von nichtdokumentarischen Passagen abgrenzen ließen. Diese Abgrenzung macht deutlich, dass Wedekind es sich nicht zur Aufgabe machte, dem ‚Original‘ so nah wie möglich zu kommen. Die „Bilder des Dramas sind plakative Hinweise, überschrieben mit historischen Daten. Verwiesen wird auf ein historisches Einst und ein gegenwärtiges Jetzt. Es ist erst dieser dokumentarische Gestus, der Wedekinds Drama, damals noch mit dem Begriff „Historisches Schauspiel gekennzeichnet, zum Dokumentarstück werden lässt. Es lässt sich weder als ein historisches Gemälde noch als ein Erinnerungsdrama auffassen, das ein vergangenes Ereignis beschreiben, feiern oder kritisch beleuchten will. Wedekind rückt sein Bismarck-Drama in einen aktuellen Diskussions-Kontext, den des Ersten Weltkriegs. Die historische Konstellation ist jetzt völlig verändert. Einst wurde ein sogenannter Bruderkrieg geführt, jetzt sind die einst verfeindeten Mächte Bündnispartner. Das Stück ist keineswegs, wie der Titel versprechen könnte, entworfen, um dem Leben Bismarcks zum 100. Geburtstag im Jahr 1915 ein Denkmal zu setzen. Vielmehr bildet „die leitende Idee“, wie schon ein zeitgenössischer Kritiker zutreffend bemerkte, „das Problem der politischen Diplomatie“.[7] Wedekinds Anliegen war es, auf den Zusammenhang von Diplomatie und Krieg aufmerksam zu machen.

Noch weniger bekannt ist Wedekinds Gedicht Diplomaten, dessen Niederschrift im August 1916 vollendet war. Veröffentlicht wurde es nicht. Es ist leicht nachvollziehbar, warum dies nicht möglich war. Das Gedicht lautet:



            Heut verschonen
            Die Kanonen
Die Leichen in der Gruft nicht mehr.
Jawohl, die Zeit ist schwer!
Sag an, wie nennen sich
Die Herrn, die uns das taten?
             Diplomaten!
Schwaches Herz und kühne Stirn,
Großes Maul und kleines Hirn
Wie ein Nadelöhr so eng
Der Gesichtskreis – Schnederedeng!


            Tut sich friedlich
             Wer wo gütlich,
Schrein sie die Kriegserklärung schon
Ihm zu durchs Telephon.
Die Völker stürzen sich
Dann in die Bajonette
            Um die Wette.
Hinten wird mit Tod bedroht
Was nicht stracks von vorne tot,
Daß, was irgend übrig bleibt,
Kurzer Hand sich selbst entleibt.


            Alle Serben
            Müssen sterben!
So hats zu ihrem Sündensold
Der liebe Gott gewollt.
Wir haun sie, ohne daß
Uns England übermanne.
            In die Pfanne!
Ganz besonders zu verhaun
Sind die bösen Serbenfraun.
König Peter im Gedräng
Kriecht zu Kreuze – Schnederedeng!


            Dieser Feldzug
            Ist kein Schnellzug.
So singt man heut zum Unterschied
Ein längst bekanntes Lied.
Wie lang umdröhnt uns noch
Der Lärm der Kriegsfanfare?
            Dreißig Jahre!
Menschen giebts dann nirgends mehr
Überall nur Militär!
Ach wie schön ists in der Welt
Wo man hinspuckt sitzt ein Held.


            Was wir konnten
            An vier Fronten
Das hat, seit sich die Erde sonnt
Kein Heldenvolk gekonnt.
Der Feind verblutet sich
Wir haben unterdessen
            Nichts zu fressen.
Seit wir auf den Knopf gedrückt
Ist der Erdball ganz verrückt
Und am Ende stopft ihn Krupp
In die dicke Bertha – Schwupp!


            Welch ein Frieden
            Uns beschieden
Steht leider nicht in Gottes Hand
Es steht bei Engelland.
Die Linke schließt ihn ab
Wir fingen mit der Rechten
            An zu fechten.
Auf zur Friedenskonferenz
Auf zum Sieg des Parlaments
Ganz Europa wird neutral
Alles andre ist egal.


            Aus den Sternen
            Kannst du lernen,
Weswegen hoch am Firmament
Nicht auch noch Krieg entbrennt
Am Himmel wahren sie
In wechselvollem Reigen
            Heilges Schweigen.
Noch kein Ohr hat je gehört,
Daß ein Stern den Frieden stört
Und sobald nur einer schwatzt
Saust er abwärts und zerplatzt.[8]

Die hier vorgetragene ‚These‘, dass der Erste Weltkrieg durch die Diplomatie ausgelöst wurde, ist nicht neu. Auch war die Diplomatie der europäischen imperialen Staaten nicht einzig ausschlaggebend für die Entstehung des Großen Krieges. Das ist bekannt. Politische Propaganda, chauvinistischer Nationalismus und Militarismus trugen gleichermaßen dazu bei. Das ist heute Konsens unter Historikern. Damals war es riskant, es laut zu sagen. Im Gedicht Diplomaten werden diese Gründe für die Entstehung des Ersten Weltkrieges genannt. In den Strophen drei und fünf – die fünfte wurde ganz zum Schluss in das Gedicht eingebaut – wird auch deutlich gemacht, welches „Heldenvolk“, wie es heißt, „auf den Knopf“ drückte. Die politische Entscheidung, dass es Krieg gibt, wurde in Berlin durch Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Reichsregierung getroffen. An einen Siegfrieden, den Deutschland diktierte, war 1916 nicht mehr zu denken: sechste Strophe. Die Aussicht auf einen Frieden in Europa stand aber, so in der siebten Strophe formuliert, 1916 noch in den Sternen.

Wedekind war politisch interessiert und gut informiert. Zu seinen engeren Bekannten zählte Maximilian Harden, Gründer der einflussreichen politischen Zeitschrift Die Zukunft und einer der bestinformierten Journalisten, dessen Informationsweite bis zu Kreisen der Berliner Hofkamarilla reichte. Wedekind war, was heute kaum bekannt ist, seit Oktober 1915 Mitglied der Deutschen Gesellschaft 1914. Ihrem „Klub“ beizutreten hatte ihn der mit ihm befreundete Großindustrielle und Politiker Walter Rathenau ermuntert. Wedekind konnte dort am 15.5.1916, vom Vorsitzenden der Gesellschaft Wilhelm Heinrich Solf (Staatssekretär des Reichskolonialamts) dazu aufgefordert, seinen Bismarck vorlesen. Die Deutsche Gesellschaft, von ihren Gründungsmitgliedern bewusst als eine überparteiliche Vereinigung im November 1914 ins Leben gerufen, zählte über 900 Mitglieder: Industrielle, Bankiers, Politiker, Gewerkschafter, Journalisten und Schriftsteller. Robert Bosch zum Beispiel unterstützte den Klub finanziell. Zielsetzung war, auch den politischen Gegnern der Regierungspolitik eine Plattform zur direkten Begegnung anzubieten, um zur Zeit des Burgfriedens und während der Fortdauer des Krieges die Repräsentanten gegensätzlicher gesellschaftlicher Interessen an einen Tisch zu bringen.[9]

So gut wie nicht bekannt sind Wedekinds Politische Disticha, die im Sommer 1917 entstanden. Nochmals thematisiert Wedekind die die Menschen jener Zeit bewegenden Fragen: ‚Frieden‘ und ‚Wer wird siegen‘? Die Distichen Wedekinds geben darauf keine definitive Antwort. Antworten werden nur erwogen. Wer die Disticha hätte lesen können – auch sie waren nicht publizierbar – wäre herausgefordert gewesen, sich selbst auf eine Antwort zu besinnen. Offene Fragen – offene Antworten! Skepsis spricht aus diesen Versen:

POLITISCHE DISTICHA
Viele verloren Gedächtnis und Sprache, so dringt es aus allen
Landen, in denen der Krieg schon seine Schauer entrollt.
Sind das nicht himmlische Zeichen? – Die Menschheit, die diesen Krieg führt,
Ist des Gedächtnisses nicht, ist auch der Sprache nicht wert.

Menschliche Schwäche, nicht himmlische Zeichen sinds. Ihrem Gedächtnis
Hat noch die Menschheit nie so Gewaltiges erkämpft.
Und die Sprache der Feldpostbriefe, klingt nicht golden
Gegen das donnernde Blech, das aus den Zuckungen dröhnt?

Nikola Nikolajewitsch, wird je die Welt Deine Züge,
Die du höhnisch verziehst, zu verabscheuen müd,
Der Du Millionenmord und Millionenelend verschuldet,
Ein Wort liefert Dir Dein Bildnis: Galgengesicht!

Ein vollständiges Verzeichnis der Ortschaften, die in dem Kriege
Ganz oder teilweis zerstört, giebt es bis heute noch nicht.
Dringend herrscht ein Bedürfnis danach, denn viele schon zogen
In die Heimat zurück und sie gelangten in’s Nichts.„Keine Anmaßung!“ sagte das Teleskop zur Haubitze
„Sind wir auch ähnlich gebaut, ist unsre Rüstung auch gleich,
Nimmermehr wünscht ich deshalb mit dir verwechselt zu werden,
Wie es im Aufruf der Intellektuellen geschah.“

Feudalismus und Demokratie! Solange die Welt steht,
Kämpfte das Gegnerpaar keinen so blutigen Kampf.
Wer wird siegen? Keiner von Beiden! Selbst wenn der Geist Bismarcks
Jubelnd den Sieg erringt, ist er Besiegter zugleich.

Welches Volk bleibt Sieger in dem gewaltigen Ringen?
Bleibt es das Deutsche, dann wird schließlich Amerika selbst
Feudalistisch beherrscht und erhält fünf Dutzend Monarchen. –
Pytia lächelt verschmitzt, schüttelt verneinend ihr Haupt:
Deutschland siegt und trotzdem wälzt sich der Erdball nicht rückwärts
Denn mit dem Deutschen Volk siegt auch das Jüdische Volk.[10]

Um eine Perspektive auf ein neues friedliches Europa war es schlecht bestellt. Das war die Botschaft des Ersten Weltkriegs für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die europäische Welt war aus den Fugen und ging in die Brüche.

Entwurf blieb Wedekinds Versuch zu einem Gedicht, an dem er im November 1916 arbeitete. Es gelang ihm nicht, es zu Ende zu schreiben. Es trägt den Arbeitstitel Wumba-Tanz. Die Kürzel Wumba steht für das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, das anlässlich der Durchsetzung des Hindenburgprogramms am 30.9.1916 geschaffen wurde. Ziel des Hindenburgprogramms war, die deutsche Wirtschaft zu militarisieren, d.h. die deutsche Wirtschaft zu einer totalen Kriegswirtschaft umzuorganisieren. Durch das Programm sollte für die Materialschlachten an der West- und Ostfront unter anderem die Munitionsproduktion verdoppelt, die Geschütz- und Maschinengewehrproduktion verdreifacht und dafür das „Menschenmaterial“ an der Kriegs- wie an der Heimatfront mobilisiert werden. Noch einmal wird mit einem Vers-Splitter an die Rolle der Diplomatie erinnert:

Im Narrentanze tanz hervor
Das ganze Diplomatenchor.

In einem anderen Bruchstück heißt es:

Frischauf zum blutigen Schiebertanz
Mit Kunstverstand und Eleganz
Tanzt Vaterland mit Vaterland
Die Mordwehr durch den Leib gerannt

In einem weiteren Fragment:

Im Mondenlicht und Sonnenglanz
Wälzt sich der Völkerwahnsinnstanz
Vom Land ins Meer – wer hat gepufft?
Ein Panzerschiff tanzt in die Luft
Krupp feuerte auf Krupp –

Wie seine ausländische Konkurrenz hatte die Waffenschmiede, das Unternehmen Krupp, vor dem Krieg mit Rüstungsgütern nicht nur den Inlandsmarkt sondern auch das Ausland bedient. „Es tanzt“, notiert sich Wedekind, „das Menschenmaterial“. Das Wort „Kriegspsychose“ hatte Konjunktur; eine wahnwitzige, angstbesetzte Kriegsbegeisterung ergriff die Menschen in Europa. Sie kommentierte Wedekind, an die Deutschen adressiert, mit:

Was Rache nicht und Haß nicht tut
Das tut der deutsche Todesmut
Noch nie erlebte Sterbewut.

Die Kirchen der kriegführenden europäischen Nationen segneten die Waffen, den Krieg, die toten Helden, die Kriegsopfer:

Im Eiertanz, tiefdekolletiert
Wird Gottes Allmacht vorgeführt
Sie tanzt zugleich bei Freund und Feind
Zertritt bei keiner Siegesfeier
Die Eier[11]

Als der Krieg zu Ende war, gehörten zu den Überlebenden Tausende und Abertausende traumatisierter Soldaten, Männer, Frauen und Kinder.

Nicht nur in seinem Bismarck, sondern in allen Werken, die Wedekind nach 1914 schrieb, ist die Zeitgeschichte des Großen Krieges präsent, auch in den thematisch hochinteressanten dramatischen Fragmenten Taugenichts und Niggerjud. Zu ihrer geplanten Ausführung 1916 notierte er sich: „Feudalismus, Patriotismus, Militarismus in ihren Zusammenhängen. Volksfeindhetze. Parodie auf den Rassenhaß. Parodie auf die Judenfrage und die sentimentale Judenfrage. Offiziersspionage und Wettrüstungen. Das Ganze Stück ein Angriff auf die bestehenden Verhältnisse und Überzeugungen.“[12]

Ende 1915 begann Wedekind, seine Verlags- und Literatursatire Óaha, in welcher das opportunistische Geschäfts- und Erfolgsmodell einer modernen illustrierten Zeitschrift angeprangert wird, zu überarbeiten, um seine „Satire der Satire“ unter dem Namen Till Eulenspiegel 1916 neu herauszubringen. Im neuen vierten Akt des Stückes reagiert die Redaktion der Zeitschrift auf den Ausbruch des Krieges mit kritikloser Bejahung der imperialistischen Kriegspolitik Deutschlands. In der Redaktion wird die Losung ausgegeben, die Kriegsereignisse gehörig auszubeuten. Gestern noch, wie man vorgab, Gegner des deutschen Militarismus, mutiert der Eulenspiegel zum propagandistischen Sprachrohr einer chauvinistischen Nationalpolitik.

Im Oktober 1916 verfasste Wedekind folgendes – unveröffentlicht gebliebenes – Gedicht:

Todesgewaltig rollen die Räder der Zeit
Über abstürzende Trümmer der Endlichkeit
Über Menschenwerke dahin, über Berge von Leichen.
Kein Bollwerk hebt sich das den Pfad verschließt
Kein Retterarm greift in die rasenden Speichen
Der nicht zerkwetscht, zerrissen den Frevel büßt.
Wer sind die Pferde, wer der Postillion,
Der bei des Feuerschlunds dröhnendem Ton
Durch Ströme von Menschenblut frohlockend und munter
Das schäumende Gespann in ehernen Zügeln führt?
Hui, seine Peitsche saust und jählings galoppiert
Ein halb Jahrtausend über die Welt hinunter. [13]

Zur selben Zeit begann er an einem neuen großen Drama zu arbeiten. Es ist das letzte, das er noch vollenden konnte. Es heißt Herakles. Dramatisches Gedicht in drei Akten. Die endgültige Idee zu diesem Werk kam ihm beim Lesen von Maximilian Hardens Aufsatz Theater im Krieg in der Zukunft (19.2.1916). Erwogen wird Herakles als „Drama der Kriegspsychose des heimgekehrten Kämpfers“.[14] Herakles agiert als ein Faustulus, der immer dienend und strebend sich bemüht. Er ist eine Kampfmaschine, halb dem Wahnsinn verfallen, tötet und tötet und zieht eine riesige Blutspur hinter sich her.

Während er am Herakles schrieb, verfasste Wedekind außerdem den Einakter Überfürchtenichts.[15]Er gab ihm zunächst den Arbeitstitel Oben oder unten, ein Bilderräthsel. Das Dramolett setzt sich aus drei Balladen zusammen. Die beiden ersten Balladen erzählen von Macht und Liebe in partnerschaftlicher Koexistenz: Wer liegt oben, wer liegt unten? Die zweite Ballade erzählt von einer Kriegerfrau. Sie schläft, während ihr Mann an der Front kämpft, mit einem todwunden Soldaten und bekommt von ihm ein Kind. Was im individuellen Zusammenleben sich ereignet, wiederholt sich im gesellschaftlichen auf internationaler Bühne in der dritten Ballade. Obwohl sie zunächst politische und militärische Gegner sind, verbünden sich schließlich der russische Zar Peter I. und der preußische König Friedrich I. Zur Besiegelung des – historisch verbürgten – Bündnisses schließen der kunstsinnige Peter I. und Friedrich Wilhelm I. – in Wirklichkeit wie im Überfürchtenichts – ein Tauschgeschäft ab. Politische Koexistenz wird erreicht durch Kunst und Kommerz: Für 55 sog. Lange Kerls schenkt ihm der wenig an Kunstschätzen interessierte Preußenkönig das für das Berliner Stadtschloss eingerichtete Bernsteinzimmer. Hier das (Rätsel-)Bild – dort seine Betrachter! Dieser theatrale Gestus delegiert die Lösung des Rätsels an die Zuschauer. Was werden sie in den sich spiegelnden Bildern sehen? Wie werden sie antworten? Wofür werden sie sich entscheiden: für „Krieg!“ oder für „Frieden!“?

Das unterhaltsame Rätsel kann und will nicht über unwirtliche Zeiten hinwegtäuschen. Mit seinen in Szene gesetzten Bildern entwirft Wedekind für die Bühne, welche die Welt bedeutet, ein dramatisches Panorama des Weltkriegsgeschehens, des Großen Krieges, der sich draußen auf den äußeren und inneren Schlachtfeldern barbarisch abspielte.

Anmerkungen:

[1] Kritische Studienausgabe der Werke Frank Wedekinds, hrsg. v. Elke Austermühl, Rolf Kieser und Hartmut Vinçon. Darmstadt 2013, Band 5/II, S. 525ff. (= STA).

[2] STA 5/III, S. 519.

[3] Friedenthal, Joachim. Nachwort. Frank Wedekind. Gesammelte Werke. Bd. 9. München 1921, S. 467.

[4] Kutscher, Artur. Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke. München 1931, Bd. 3, S. 183.

[5] Martens, Kurt. Schonungslose Lebenschronik. Wien 1924, Teil 2, S. 145. Die Äußerung habe sich – angeblich – auf kritische Stimmen in Zürich versammelter deutscher Schriftsteller bezogen, die Wedekind wegen seines Münchner Vortrags „zornig zur Rede gestellt hätten“. Tatsächlich hielt sich Wedekind vom 4.-19.10.1914 in Zürich auf. Ein Münchner Treffen mit Martens und Thomas Mann notierte sich Wedekind in seinem Tagebuch am 24.10.1914. Frank Wedekind. Tagebücher 1889-1918. 2013. Vollständige online-Edition. frankwedekind-gesellschaft.de. , herausgegeben von der Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind an der Hochschule Darmstadt. 2013. http://frankwedekind-gesellschaft.de/index.php/id-1904-bis-1918.html.

[6] Ziehe dazu heran vor allem die jüngeren Beiträge von John Hibberd: Frank Wedekind and the First World War. The Modern Language Review 82, 1987, S. 127, Uwe Schneider: Krieg. Kultur. Kunst und Kitsch. Positionen Frank Wedekinds zum Ersten Weltkrieg, in: Schneider et al. (Hrsg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg 2000, S. 82 und Ariane Martin: Ein Drahtseilakt. Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg. Frank Wedekind. Text und Kritik. Gastredaktion Ruth Florack. München 1996, H. 131/132, S. 157. Jetzt auch: Hartmut Vinçon: Kriegsworte. Revista de Estudos Alemães (REAL), online-Ausgabe August 2014. http://real.letras.ulisboa.pt/textos.page.

[7] STA 8, S. 847.

[8] STA 1/I, S. 706ff.

[9] Vgl. dazu Sösemann, Bernd: Politische Kommunikation im „Reichsbelagerungszustand“. München 1987, S. 630-649.

[10] STA 1/I, S. 717.

[11] Wumba-Tanz: Alle Zitate in STA 5/III, S. 1055-1058.

[12] STA 7/I, S. 590, 594, 599, 624 u. 633.

[13] STA 1/I, S. 709.

[14] An Maximilian Harden. München, 24.2.1916. Gesammelte Briefe, hrsg. v. Fritz Strich. München 1924, Bd. 2, S. 329.

[15] STA 8, S. 301ff.