Schwarzer Winter

Ein erzählerisch ruppiger, stilistisch und atmosphärisch starker Neo-Noir-Thriller aus China: „Feuerwerk am hellichten Tag“

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Die urban-industrialisierte Provinz im Norden Chinas besitzt weder den Nimbus einer Wirtschaftsmacht noch asiatisches Exotik-Flair. Sie ist einfach nur trist, öde, grau. Sehr viel anders sieht auch das Leben von Zhang Zili (Liao Fan) nicht aus, eines Alkoholikers mit schwerem Trauma. 1999 wurde der einstige Kommissar bei der Verhaftung eines mutmaßlichen Serienkillers angeschossen, zwei Polizisten starben. Daraufhin quittierte er den Dienst. Inzwischen schlägt er sich als Wachmann durch. Doch dann wird Zhang durch einen ehemaligen Kollegen auf einen Fall aufmerksam gemacht, der dem vor fünf Jahren eigenartigerweise gleicht. Damals wurden auf Kohlehalden in der gesamten Umgebung menschliche Leichenteile gefunden. Eines der Opfer war der Ehemann von Wu Zhizhen (Gwei Lun-Mei), Angestellte einer Wäscherei. Nun sind zwei neue Leichen aufgetaucht, beide wiederum in Verbindung mit Wu stehend. Zhang, der seinen eigenen Weg verloren hat, begibt sich stattdessen auf die Spur von Wu. Ihr Schicksal wird bald seines, die Aufdeckung ihrer Geheimnisse soll seine fehlende Lebensorientierung ersetzen. Tatsächlich nähern sich die beiden Verlorenen an. Doch in einer Welt, in der die Lebenden von den Sünden der (vermeintlich) Toten gejagt werden, sind Vertrauen, Wahrheit, Unschuld eine Illusion. Wie eine Silvesterrakete, von der bei Tage nichts weiter als Rauch zu sehen ist.

In gesellschaftlichen Hinterhöfen

Regisseur und Drehbuchautor Diao Yinan hat ein düsteres Arthouse-Genrewerk geschaffen, das in der Tradition des amerikanischen wie französischen Film noir steht. „Feuerwerk am hellichten Tage“ ist ohne die großen Vorbilder nicht denkbar, dekonstruiert die Genreversatzstücke gleichzeitig bis hin zum cineastischen und philosophischen Nihilismus. Narrativ hat sich die Ellipse anstelle der Explikation gesetzt, optisch eine strenge ’Raumpoetik’ anstelle von Raummagie. Jener mal beinahe unwirklich und entrückt, dann wieder grotesk und bizarr erscheinende Noir-Kosmos aus glanzlosen Industrieanlagen, heruntergekommenen Hinterhöfen, schäbigen Garküchen und kläglichen Tanzhallen besitzt keinerlei Shabby-Charme, sondern atmet pures Rotten-Flair. Armseligkeit statt Melancholie, Einsamkeit statt Romantik.

Auch die Figuren aus der Arbeiterklasse, in ihrem Charakter nur grob umrissen und wenig kommunikativ, sind wie Schatten von Noir-Persönlichkeiten: ein abgehalfterter, einzelgängerischer Held, der nicht einmal zum Anti-Helden taugt; eine Femme Fatale, die als somnambule Femme Fragile durch Passivität herausfordert; ein Mörder, der eigentlich längst gestorben ist; Polizisten, die ebenso anonym wirken wie der Staatsapparat, für den sie arbeiten. Ethische oder emotionale Verbindlichkeiten scheint es nicht zu geben, nur amoralische Haltungen und asoziale Handlungen. Diese korrodierte Gesellschaft wird allein durch das System zusammengehalten, das in seiner Abstraktion wiederum keinerlei Identifikation bietet. So betrachtet ist der Film mehr als eine Sozialstudie des heutigen Chinas fern der Metropolen, nämlich das Portrait unserer Gegenwart – zerfasert, zersplittert, zerrissen.

Im sinnentleerten Zeitenlauf

Großartig setzt die lakonische Dramaturgie solche Auflösung um. „Feuerwerk am hellichten Tag“ ist voller Leerstellen, die einzelnen Sequenzen reihen sich gleich den Protagonisten fast schon desinteressiert aneinander und offenbaren nur unter Zwang ihre (kriminellen) Zusammenhänge. Der Sinn hinter den Verbrechen wird erst gar nicht gesucht. Den gibt es vielleicht ebensowenig wie den Sinn des Daseins, das in einem Kreis ewigen Einerleis stecken geblieben scheint. Hierfür findet der Film ein sensationelles, symbolisches Bild, das einen der besten Zeitsprung-Match-Cuts der letzten Jahre darstellt: Ein Auto fährt im Sommer in einen Tunnel und kommt fünf Jahre später als Motorrad im Winter wieder heraus. Das alles ist aus subjektivem Blickwinkel dargestellt, sodaß der Zuschauer vorerst nur die Wetteränderung, aber nicht den Zeitenwechsel wahrnimmt. Zudem dreht der unsichtbare Motorradfahrer noch eine Schleife, bevor er am Straßenrand bei einem Betrunkenen anhält. Life is a loop.

Betont schmuck- und emotionslos, gewissermaßen ’künstlerisch ungeschliffen’ inszeniert Diao Yinan das Geschehen. Wie die seltene, dann überdeutliche Off-Screen-Musik lodert es gelegentlich impulsiv auf und entlädt sich in unerwarteten Gewalteruptionen. Doch schon die anfängliche, blutige Schießerei wirkt derart brüsk und absurd beiläufig, daß sich Schock oder Mitleid gar nicht erst einstellen. Diese labyrinthische, rauhe Story hat wie die industrielle Provinzstadt, in der sie spielt, kein empfindsames Herz.

Und wenn, schlägt es nur in ihren Protagonisten. Freilich sehr, sehr leise. Selbst Zhang, alleiniger Fixpunkt der Narration, ist ausgesprochen unsympathisch in seiner Unbeholfenheit, die sich durch physische Plumpheit und den groben Umgang mit Frauen ausdrückt. Selten ist ein Noir-(No)-Hero so oft hingefallen wie er. Und selten hat sich der Zuschauer so wenig mit dessen Aufstehen identifiziert. Daß man dennoch an dieser Figur hängenbleibt, ist das Verdienst von Liao Fan, der für seine Darstellung den Silbernen Bären erhielt. Aller Lebenslast zum Trotz leistet er Widerstand – linkisch, unzivilisiert und alkoholisiert zwar, aber kontinuierlich. Obwohl er zuletzt nicht einmal mehr ein Ziel vor Augen hat. Das besitzt auf eine traurige Weise irgendwie Größe. 

In emotionalen Abgründen

Auf der diesjährigen Berlinale, wo der Film den Goldenen Bären gewann, wurde „Feuerwerk am hellichten Tag“ unter dem englischen Titel „Black Coal, Thin Ice“ gezeigt. Der klingt etwas plakativ und entspricht überhaupt nicht dem chinesischen Original (dem kommt der deutsche Verleihtitel nahe), greift dafür zwei markante Elemente des Films auf. Die Schwärze der Kohlehalden im Sommer 1999, als die Mordserie begann, korrespondiert mit dem Weiß des Winters 2004, wenn es zu neuen Bluttaten kommt. Überhaupt spielt das eisige, bis in Häuser und Bahnabteile vordringende Winterwetter eine entscheidende Rolle. Die Stadtbewohner, dick eingemummelt in unförmige Jacken oder riesige Schals, kämpfen gegen die allumfassende Kälte des Klimas – und die der Mitmenschen. Doch vergebens; ihr Atem kondensiert, ihre Gefühle erstarren. Nur wenn sie auf den Eisbahnen zu Wiener Walzern ihre Runden drehen, scheinen sie kurzzeitig aus dem Gefrierzustand aufzuwachen.

Als würde sie sich gegen solche Starre auflehnen, arbeitet die grandiose Kamera von Dong Jinsong mit extremen Farbakzenten. Aufdringliches Rot und ein ungesundes Grün/Gelb durchziehen die Nacht, mal als irritierende Illumination, mal als Neon-Reklame. Doch das ist nicht das metropolitane Neon, sondern ein provinzielles, die Trostlosigkeit betonendes. Die Farbe bringt kein Licht in die grauen Mauern und Seelen, sie warnt nur vor deren Abgründen. Neben überlegt komponierten Weitwinkel-Einstellungen wird der Blick auch immer wieder auf Details geworfen, etwa eine zerdrückte Coladose im Schnee, doch schon gleitet er wieder fort; er hat nichts Wichtiges gefunden. Intensiv und beiläufig zugleich, eigentlich wie das Leben selbst, wirken die ruhigen Bilder, und es ist nur folgerichtig, wenn der Film am Ende mitten in einer banalen Szene abbricht. Warum soll noch mehr gezeigt werden, wenn sich die Tristesse längst wieder breitgemacht hat? Das letzte bißchen surreale Schönheit, ein Feuerwerk am hellichten Tag, ist bereits verloschen.

„Feuerwerk am hellichten Tag“ (China 2014)
Regie: Diao Yinan
Darsteller: Liao Fan, Gwei Lun-Mei, Wang Xuebing, Wang Jingchun
ab 24.7.2014 im Kino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz