Reise an das Ende der Sprache

Philippe Murays Céline-Theorie ist auf Deutsch erschienen

Von Sebastian ThedeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Thede

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine kritische Auseinandersetzung mit Louis-Ferdinand Céline kommt früher oder später auf die Frage zurück, wie sie jenen abgründigen Werk- und Lebensabschnitt einzuordnen gedenkt, von dem sein Schaffen nicht nur überschattet, sondern brenzlig durchdrungen scheint. Der während der letzten Atemzüge des 19. Jahrhunderts im Pariser Speckgürtel zur Welt gekommene Louis-Ferdinand Destouches – den Namen Céline wird er sich später von seiner Großmutter borgen – erlangte vor allem mit der stilistischen Verve seines fraglos bekanntesten Romans Reise bis ans Ende der Nacht aus dem Jahre 1932 schriftstellerische Berühmtheit. Im selben Maße sorgte dieser Céline mit einer scheußlichen Reihe antisemitischer Hetzschriften für seinen berüchtigten Ruf als Nazipropagandist. Die Ausmaße dessen belegen seine Haftstrafe als Kollaborateur, die er nach dem Krieg in Dänemark antrat, und das Todesurteil, welches in Frankreich über ihn verhängt und später wieder aufgehoben wurde. Die bis heute prägnante Rolle, die er für die literarische Identität des vergangenen Jahrhunderts spielt und die sich von subkultureller Verehrung nunmehr bis in die Hörsäle und Feuilletons erstreckt, ist kaum ohne diese frappierende Reputation zu bewerten.

Künstlerisches Avancement mit einem politisch anrüchigen Charakter dahinter ist keineswegs ungewöhnlich. Doch die Fallhöhe vom ätzenden Humanismus der Reise und der Brillanz dieser ihrerseits exotischen Lektüreerfahrung bis hinunter zur Vehemenz der Schmähschriften Célines aus den dreißiger und vierziger Jahre lässt ein beispielloses Extrem erkennen. Céline, so scheint es, stellt mit dieser Aura einmal mehr die Fragen nach der Autonomie der Kunst im Verhältnis zur Psychologie des Schaffenden. Die poetisch spektakulären Romane verdienen Interpretationen, Analysen und selbstredend ihnen zuträglich wilde Lektüren auch unabhängig von einer Hinzuziehung werkfremder Kontexte. Doch sich dieses Verdienst mit einer provisorischen Trennung zwischen Literaturerneuerer und Pamphletisten erwerben zu wollen, ist mindestens inkonsequent, wenn nicht verwerflich. In einem umgekehrten Szenario lässt indes die Bestimmung einer essentiellen Gleichförmigkeit von allen Auswüchsen des Schaffens Célines seine Texte wiederum in einem neuen, nunmehr miteinander überblendeten Licht erscheinen.

Eine pünktlich zum zwanzigsten Todestag bereits 1981 erschienene Abhandlung des französischen Schriftstellers Philippe Muray bewältigt unter der schlichten Überschrift Céline das Dilemma genau auf diese Weise: gar nicht. Gerade weil er keinen „in Einzelportionen tranchierten Céline“ mehr zulässt, ermöglicht Muray einen ausgerechnet global legitimierten Zugriff auf die Autonomie der einzelnen Texte. Die bequem aufgeteilte Dividende zwischen dem Romancier, der das Töpfchen des Künstlers erhält, und dem Rassen- und Propagandaautor, der sich mit dem Kröpfchen des Monströsen begnügt, wieder zusammenführen und damit „zwei Formen des Vergessens zu vermeiden“ – nämlich das Fallenlassen der Struktur hinter den politisch eklatanten Inhalten sowie des Inhalts in der literarisch eklatanten Struktur – wird zum bemerkenswerten Ausgangspunkt einer in Einklang vorgenommenen Näherung an die Person, die Skandale und nicht zuletzt die Texte Célines.

Muray webt dazu einen in erster Linie abstrakten argumentativen Faden, der das Stichwort vom Ende umgarnt. Die ausführlich zitierten künstlerischen wie auch infamen politischen Veröffentlichungen Célines, denen außerdem Briefauszüge und Interviews beigegeben sind, demonstrieren Grenzbrüche eines Schreibens, das so eklatant wie intrikat auf den Ruin der Sprache und ihre produktive Erneuerung setzt. Was in der Literatur die vokalistische Erweiterung des Romans ist, mutiert inhärent zu einer Utopie, die den Tod fixiert – den Tod der Sprache und des Denkens jüdisch-christlicher Tradition. Dieses Extrem erforscht Muray sorgsam mit bemerkenswerten Exkursen, etwa wenn er einen Knotenpunkt der genannten Verbindungen in der nichterfolgten hochfranzösischen Einheitsübersetzung der Bibel erblickt: „Für die französische Sprache ist der Sinn Latein geblieben, sie hat keinerlei Möglichkeiten, damit zu spielen. Insofern muss man die stilistische Erfindung Célines vor dem Hintergrund der Schwierigkeit betrachten, Erfinder zu sein innerhalb eines Sinns, der in einer toten Sprache verharrt“. Eine halbe Seite später bewahrt sich Muray das Fragezeichen für eine brisante Schlussfolgerung auf: „Stammt dieser, sein Antisemitismus womöglich aus einer durch die fehlende Bibelübersetzung verursachten Lücke bei der Entstehung des Französischen?“

Die sprachkritische Aufbereitung fügt sich in die modernistische und avantgardistische Problemgeschichte, für die Céline mit dem gesamten Register der ideologischen, ästhetischen und wissenshistorischen Ereignisdrexelei des frühen zwanzigsten Jahrhunderts symptomatisch einsteht. Der Autor der Reise wie auch der Bagatelles pour un massacre (1937) wird in all seinen Diskursen zum Selbstbeleg dieser Periode. Man kann das auch so verstehen: Zur Radikalität der Kunst- und Literaturerneuerung, die bei Céline eine Klimax der permanenten Spracherneuerung bedeutet, gehört genauso der verbrecherische Verrat an Leben und Sprache in der hetzerischen Diffamierungsparole. Die in diesen Ausmaßen angekurbelte Sprach- und Subjektkrise im Wirken Célines ließe noch den antibürgerlichen Aktionismus des Dada und der Surrealisten weit hinter sich; das revolutionäre Moment der Kunst metastasiert unkontrolliert über seine Grenzen hinweg.

Murays Unterfangen ist hoch anzurechnen, dass sein Plädoyer für eine schrankenlose Lektüre Célines immer politisch-moralisch reflektiert bleibt, ja geradezu auf die unablässige Politisierung seines Verständnisses zu setzen hat. Er vollbringt das Kunststück, Céline so komplett wie möglich zu denken, ihn dabei als literarisches Phänomen weiterhin ernst zu nehmen, ohne sein Schaffen von den Unsäglichkeiten künstlich befreit zu haben.

Der äußere Anschein des Buches darf dabei nicht missverstanden werden. Es ist entgegen eines ersten Eindrucks weder eine Biografie Célines noch eine Panoramaanalyse seiner Werke, sondern eine ausführliche essayistische Theorie. Damit konzipiert der 2006 verstorbene, in Frankreich namhafte Muray seine Studie als Text aus eigenem Recht, mit eigenem Anspruch an Stil, Methode, gar Ästhetik. Er bleibt derweil dort am besten, wo er streitlustig erläutert, nicht aber, wo er Céline in einem Anfall von Indizienüberlastung bis zum Bersten der Seite und ihrer in Kursivierungen, Anführungszeichen und mangelnden Absätzen zerfleischten Typografie collagiert. In den argumentativ flüssigeren Passagen gibt es ohne Einbußen der profilgenauen Stimme Murays schließlich einiges zu lernen. Sie erweist sich mit einem poststrukturalistisch geschulten Text- und Kontextkanon, der von der Psychoanalyse Lacanianischer Provenienz über Dostojewskij, Heidegger, Artaud und Kafka reicht, stets den darstellerischen Fallstricken des Unbewussten der Sprache gewachsen. Umfangreiche Verweise auf zahlreiche, aber nie überbordende Ansatzpunkte des westlichen Denkens, die etwa längs einer imposant zurückgelegten Wegstrecke bis zur Gnosis und zurück überzeugend bleiben, erweitern den Interpretationshorizont. Daneben erfahren wir letztendlich auch einiges aus dem Privat- und Berufsalltag des Pariser Arztes Céline, ohne jemals voyeuristisch zu werden. Muray bettet seine Informationen löblich in den theoretischen und narrativen Hintergrund ein, etwa wenn es um die familiäre Signifikanz der vielen, bisweilen weiblichen Namen Célines geht, oder das Verhältnis zum Verleger Gaston Gallimard vor dem Hintergrund französischer Kulturpolitik der Nachkriegszeit beleuchtet wird.

Vor allem aber entfaltet sich die unheimliche Heterogenität und Bandbreite von Célines Arbeit in ihrer unhintergehbaren Kohärenz. Dieser Einblick in ein Werk, aus dem hierzulande lediglich die Reise größere Bekanntheit erlangt hat, entschädigt für einen latenten Redundanzverdacht in der angebrachten, aber ermüdenden Zitationslust des Autors, der selbst Célines Stil nicht wirklich doppelt, dafür auch nicht mit Objektivation und Nüchternheit kontrastiert. Dadurch wird der Leserin und dem Leser bisweilen eine Konzentration und Geduld abverlangt, die es auch für die Lektüre der Primärtexte aufzuwenden gilt. Man sollte ohnehin Céline zumindest einmal genauer angeschaut haben, bevor man zu Murays Buch greift.

Aufgrund der mit Muray auf Augenhöhe agierenden Übersetzung von Nicola Denis bleibt der Essay stets originell. Ihr kenntnisreiches Nachwort, das der deutschen Ausgabe spendiert wurde, erweitert ihn zudem um wertvolle Informationen, Lektüreansätze und einen kurzen Einblick in ihre Werkstatt. In dieser Aufstellung wird der Band all jenen zu Gute kommen, die aufgrund tieferer Fragen, welche sie an Céline und sein Schaffen noch zu richten gedenken, das Ende der Nacht vor Dunkelheit nicht erkennen können. Also allen seinen Lesern.

Titelbild

Philippe Muray: Céline.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
264 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215595

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