Raum für radikale Innovation

Marcus Graf hat die erste Geschichte der Istanbul-Biennale geschrieben

Von Ingo ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingo Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Neue Ideen und wahre Überraschungen“. Was die Kritikerin Helena Kontova 1997 in der amerikanischen Zeitschrift „Flash Art“ über die 5. Istanbul-Biennale schrieb, war schon bemerkenswert. Schließlich war das Kunstevent damals gerade einmal zehn Jahre alt, zählte aber nach Meinung vieler Kritiker und Kritikerinnen schon zu den führenden Biennalen der Welt – gleich nach denen von Venedig und Sao Paulo. Viele in der Kunstszene fragen sich noch heute, wie es dazu eigentlich kommen konnte.

Die Doktorarbeit, die der Istanbuler Kulturwissenschaftler Marcus Graf vor kurzem über die Biennale abgeschlossen hat, ist eher eine kulturgeschichtliche als kulturtheoretische Arbeit. Es geht dem 1974 geborenen Autor, der seit langem als Professor und Kurator in Istanbul lebt, eher um die historische Herausbildung und Genese der Biennale als um die Beantwortung genereller Fragen der Biennalen-Forschung. Er bettet die Geschichte der Istanbuler Variante des erfolgreichen Kunstformats in die des europäischen und türkischen Kunst- und Ausstellungswesens ein. So kann Graf, der 2001-2009 auch als Leiter der Besucherführerabteilung der Istanbul-Biennale arbeitete, zugleich die besonderen Entwicklungsbedingungen des zeitgenössischen türkischen Kunstsystems deutlich machen, für die er eine Art latecomer-Effekt konstatiert.

Zwar brach die „Tanzimat“-Reformperiode zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Bilderverbot des Islam. Die Kunstöffentlichkeit blieb jedoch, wie Graf darlegt, auf den Serail des Sultans beschränkt. Während in Europa, besonders in Paris, die ersten öffentlichen Kunstausstellungen, mit den Salons der Académie Royale de Peinture et de Sculpture schon ab 1737 arrangiert werden, wird in der Türkei erst über hundert Jahre später, ab 1845, im Serail Sultan Abdülmecits zum ersten Mal eine Kunstausstellung eröffnet: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wird der österreichische Landschaftsmaler Oreker gezeigt.

Zivilgesellschaftliche Initiativen wie in Deutschland die Kunstvereine oder Künstlervereinigungen bildeten sich am Bosporus erst spät. Großausstellungen wie die Biennalen in Venedig 1895 oder Paris 1889 blieben im Osmanischen Reich deshalb ebenso ohne Pendant wie in der späteren Republik Türkei. Der Exodus der Griechen und Armenier nach der Republikgründung 1923 aus dem bis dahin multikulturellen Istanbul schwächte die ohnehin nicht übermäßig ausgebildete Kunstszene erheblich. Kein Wunder also, dass die erste wichtige Ausstellung moderner Kunst in Istanbul im Grunde erst 1987 mit der in diesem Jahr gegründeten Biennale stattfand.

Im Hauptteil seines Werks lässt Graf zwölf der bislang 13 Biennalen chronologisch Revue passieren. Die standardisierte Form aus Zahlen, Daten und Personaltableaus, die akribischen Presseanalysen und Interviews mit 42 Künstlern, Kuratoren und Direktoren der Biennale lesen sich stellenweise etwas zäh. Und um die – im Untertitel annoncierte – „Wirkung“ der Biennale zu bestimmen, hätte Graf vielleicht auch externe politische und soziale Akteure und internationale Experten befragen sollen. Und zwar, um herauszufinden, welche Wirkung die, sich dezidiert politisch gebende Biennale im politischen und gesellschaftlichen Raum erzielte.

1992 wird die Künstlerin Hale Tenger wegen eines auf der Biennale gezeigten Werkes angezeigt, das das patriotische Emblem der türkischen Flagge kritisch aufs Korn nimmt. Der chinesische Kurator Hou Hanrou sieht sich 2007 einem intellektuellen Kesseltreiben der türkischen Kunsthistorikerinnenszene kemalistischer Richtung ausgesetzt. Er hatte in seiner 10. Biennale der Idee der „autoritären“ Gesellschaftsmodernisierung des Staatsgründers Atatürk anhand künstlerischer Werke das Modell einer „Modernisierung von unten“ entgegengestellt. Und 2005 wird der türkische Künstler Halil Altindere vor den Kadi gezerrt. Er hatte in einer „Free Kick“ übertitelten Unterabteilung der 9. Istanbul-Biennale 35 junge türkische KünstlerInnen ausgestellt, die sich kritisch und plakativ neuralgische Fragen der türkischen Gegenwart aufgriffen. Doch trotz dieser starken Fokussierung Grafs auf die Institution Biennale lässt sich in seiner Studie gut nachvollziehen, wie aus der traditionellen eine innovative Kunstausstellung wird: Eine, die Modellcharakter bekommt und die immer stärkere Aufmerksamkeit der internationalen Kunstöffentlichkeit auf sich zieht. Anhand des reichen Bildmaterials lässt sich in Grafs backsteinschwerem Wälzer auch nachträglich gut nachvollziehen, wie die Ausstellungen tatsächlich aussahen – sowohl im Hinblick auf die Ausstellungsorte als auch im Hinblick auf die gezeigten Werke.

In den Jahren 1987 und 1989 wurde unter der Kuratorin Beral Madra, der Doyenne der türkischen Kunst- und Kuratorenszene, noch „Zeitgenössische Kunst in traditionellen Räumen“ präsentiert, die Künstler kamen überwiegend aus der Türkei. 1992 und 2005 verlässt die Biennale unter dem jungen, kritischen Kurator Vasif Kortun die historischen Ausstellungsorte wie die Hagia Sophia oder die Zisterne im Stadtteil Sultanahmet. Sie bezieht Quartiere an neuralgischen Orten der modernen Metropole gegenüber des Goldenen Horns und schafft die, der Biennale- „Urmutter“ Venedig abgeschauten, Nationalschauen ab.

2001, unter dem unmittelbaren Eindruck des September-Attentats in New York, reflektiert sie unter dem von der japanischen Kuratorin Yuko Hasegawa erdachten Motto „Egofugal“ erstmals eine globale Vision – der Suche nach Handlungsweisen jenseits des Egoismus, die zu einer besseren Welt führen sollen. 2003 stellt der amerikanische Kurator Dan Cameron seine Biennale unter das bezeichnende Motto: „Poetical Justice – Poetische Gerechtigkeit“.

Insbesondere die von den Kuratoren Charles Esche vom niederländischen Van Abbe-Museum und dem türkischen Kurator Vasif Kortun geleitete 9. Istanbul-Biennale 2005 begründet für Graf den Ruf der Istanbul-Biennale als Plattform für die Relativierung des Eurozentrismus und als Labor für zeitgenössische Formen künstlerisch inspirierter Kritik. Ihr Titel lautete einfach nur „Istanbul“. Das Ziel der Biennale war eine Ausstellung für und über Istanbul, eine kritische Analyse der Metropole jenseits aller, immer wieder bemühten Klischees als der Brücke zwischen zwei Erdteilen und Kulturen und jenseits von jedem Neo-Orientalismus.

2009 platzierte ein junges Kuratorinnenkollektiv namens „WHW“ aus Zagreb unter dem Bertolt Brecht entlehnten Motto „Denn wovon lebt der Mensch“ ein aufsehenerregendes Plädoyer für eine radikale Kapitalismuskritik. Im Laufe der Jahre werden in Istanbul immer mehr außereuropäische Künstler gezeigt als anderswo, die Besucherzahlen steigen von 10.000 auf über 100.000, das Interesse der ausländischen Presse steigt. Kam Beral Madra zu Beginn der Biennale noch mit einem Etat von 400.000 Dollar aus, liegt er heute bei rund 2 Millionen Euro.

Mit jeder Ausgabe wird die Biennale nicht nur zu einem „Wendepunkt“ im türkischen Ausstellungswesen und zum „Beschleuniger der türkischen Kunstszene“. Graf vergleicht sie auch zu Recht mit der Kasseler Documenta: Beide sollten den Austausch und Dialog mit der europäischen Moderne pflegen, im Laufe der Jahre entfernten sie sich jedoch von diesen Vorgaben zugunsten allgemeiner Fragestellungen. Das Istanbuler Beispiel steht prototypisch für den Formwandel vom lokalen Kunstevent zum universalen Labor für Urbanitäts- und Gesellschaftsreflexion und -kritik, das oft genug heftige Konflikte provozierte. Sie löst sich aus ihrem lokalen Kontext, stellt die Verbindung zum internationalen Kunstgeschehen her. Und sie wirkt als Magnet und Fokus der linksliberalen Intelligenz, die sich auf diesem zivilgesellschaftlichen Brückenkopf mit der liberalen Bourgeoisie trifft, die an dieser spezifischen Form von Öffentlichkeit interessiert ist. Unbedingt zuzustimmen ist auch Grafs Bilanz, dass die Biennale von Istanbul erfolgreich zu einer Dezentralisierung des bislang sehr auf den Kernbereich Europas konzentrierten Biennale-Wesens beitrug.

Gerade diese Erfolgsgeschichte birgt für Graf die Gefahr, dass die Biennale „zu einer beliebigen unter vielen anderen“ wird. Die Dialektik von lokalem Bezug und globaler Reflexion, die ihm als Identität vorschwebt, ist inzwischen freilich auch längst Standard vieler der weltweit gut 200 Biennalen. Die Istanbuler darauf festzulegen hieße, das Prinzip zu neutralisieren, das sie so erfolgreich gemacht hat – radikale Innovation, im politischen wie im formalen Sinne.

Titelbild

Marcus Graf: Istanbul Biennale. Geschichte, Position, Wirkung.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2013.
624 Seiten, 54,80 EUR.
ISBN-13: 9783865991683

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