Die Splitter des Universums

Die letzten Theorie-Anfänge oder Wolfgang Isers großes Fragment „Emergenz“

Von Sebastian SchönbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schönbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die „Imagination“ ist tot, diagnostiziert Beckett: nichts ist mehr, alles ist vorbei, „it’s finished“, wie es im ersten Satz vom Endgame heißt, bevor das Stück trotzdem oder gerade auf der Basis dieses scheinbaren Endes beginnt. Der Diagnose des Todes der Imagination folgt jedoch der Appell „Imagine!“ auf dem Fuße: Stell dir vor! „Imagination Dead Imagine“. Der Widerruf alles Seienden, das Resümee des Todes jeder Vorstellungskraft, der Nullpunkt jeder Kreativität, erscheint hier als Bedingung von Schöpfung, die schließlich wieder anhebt. Aus dem Beckett-Zitat – das zugleich den Titel seines fragmentarisch anmutenden Stücks Prosa bezeichnet – lassen sich nicht zufällig jene Theorieansätze entfalten, die Wolfgang Iser wiederum in einem späten Theoriefragment auf den Begriff Emergenz gebracht hat. Iser, der selbst ein großer Beckett-Leser war, hat jenes Emergenz-Manuskript zuletzt im Oktober 2006 bearbeitet, das jüngst zusammen mit „verstreut publizierten Aufsätzen“ zum Emergenz-Thema im – wie sollte es anders sein – Verlag Konstanz University Press erschienen ist. Dieser Erscheinungsort verwundert wenig. Dies mag daher rühren, dass Iser zusammen mit Hans Robert Jauß die junge Universität Konstanz zur nationalen, europäischen und transatlantischen Vorzeige-Universität der jungen Bundesrepublik gemacht hat, zu einer Universität, die trotz ihres jungen Alters zum Modell wurde, etwa für die erst 1991 wieder gegründete Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

Nahezu zeitgleich mit der Gründung der Reformuniversität Konstanz wurde die Konstanzer Schule zum Stichwort, das bis hinein in aktuelle kulturwissenschaftliche Theorie-Anstrengungen fortwirkt. In selbem Maße wie kein kulturwissenschaftliches Wörterbuch ohne die mit Iser verbundenen Schlagwörter „Konstanzer Schule“, „Rezeptionsästhetik“ oder „literarische Anthropologie“ mehr auskommt, so kommt keine geisteswissenschaftliche Bibliothek – so scheint es – ohne die Bände der von Iser mit begründeten Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“ oder ohne Isers große Werke (von denen ich hier nur einige wenige nennen kann) wie Der implizite Leser (1972) oder Akt des Lesens (1976) aus.

Dass Wolfgang Iser sein letztes großes Projekt nicht würde zu einem Ende bringen können und dass jedes Ende („Imagine“) nur der Beginn eines neuen Anfangs sein würde, soll ihm – so Aleida Assmann im Nachwort – durchaus bewusst gewesen sein. Mehr noch: die Charakteristika der Unabschließbarkeit oder der potentiellen Unendlichkeit scheinen im Wesen der Emergenz selbst zu liegen. So bemerkt Assmann: „Vielleicht dürfen wir die Entfaltung von Wolfgang Isers Werk selbst als einen Prozeß der Emergenz begreifen, als eine innere Dynamik, die dem Gesetz der fortgesetzten Überschreitung des Vorangegangenen folgt.“

So bleiben die von Iser explizierten Theoreme der Leerstelle oder sein anthropologisches Interesse an den Techniken des Fingierens auch in dem vorliegenden letzten Projekt virulent, ohne dass sie einfach auf sie zurückführbar wären. Im Emergenz-Projekt wird zu Beginn nach dem Ursprung, dem Mythos, dem Nichts oder der Ziffer Null gefragt, die allesamt von Iser als interessebezogene Setzungen begriffen werden, aus denen etwas hervorgeht, die selbst jedoch noch keine Weisen von Emergenz bezeichnen. Iser geht es einleitend – indem er die Wendung „den Anfang töten“ von Botho Strauß aufgreift – um einen „Raum für Emergenz“, der aus der Umkehrung von Ursprung und Anfang resultiert. Die Einsicht in die Beginnlosigkeit treibt ein Gespür für die Gemachtheit jeder Anfangs-Setzung hervor und identifiziert in jedem dieser gemachten Anfänge das Interesse, das drohende Chaos des Universums zu bannen.

Dieser Einsatzpunkt wird besonders zugespitzt in der Analyse des Mythos als „rückwärtige Projektion“, die Iser an der Arbeit am Mythos von Hans Blumenberg ausrichtet. Der hochgradig anthropomorphe Mythos liege nur in einer Vielzahl von Varianten vor, er ist „immer schon Arbeit am Mythos“. Jeder Mythos werde so als Metamorphose lesbar, deren Interesse – so Iser – darin zu bestehen scheint, dass er den Schrecken der Unerklärbarkeit jeden Anfangs erzählbar macht. Der von den Mythen bearbeitete, entzogene Grund gehe wiederum niemals in der jeweiligen Variante des Mythos’ auf, sodass sich deren Fortschreibung perpetuiert, und sich so an ihm bereits „Züge von Emergenz“ zeigen würden.

Wenn jedoch – wie Iser mehrfach betont – diese Anfangs-Setzungen zunächst noch keine „Modi von Emergenz“ bezeichnen, was meint dann eigentlich Emergenz? Emergenz ist ein Fremdwort, dessen eigentliche Bedeutung verloren gegangen ist. Es bezeichnet den Vorgang des Erscheinens von etwas, das es bisher nicht gab, das nicht einfach auf voneinander separierbare Komponenten zurückführbar ist und dessen Antrieb im Unklaren bleibt, was bereits eines der Kernprobleme von Emergenz bezeichnet. Weiterhin gäbe es Emergenz niemals an sich, sondern immer nur „im Verbund mit etwas anderem“, sodass es Iser nur um „verschiedene Modalitäten des Hervorbringens“ in Bezug auf einen Bereich, in dem das Hervorgebrachte zur Erscheinung kommt, gehen kann.

Diese Bereiche benennt Iser etwa mit „Evolution, Kultur und Literatur“, behandelt sie jedoch nicht unabhängig voneinander, sondern bezieht sie vielmehr aufeinander und bringt sie zueinander in Stellung. In diesem Sinne firmiert Emergenz in zunehmenden Maße als universeller Prozess, der sich nicht allein auf die Sphäre der Geistes- oder Literaturwissenschaften erstreckt, sondern zudem auf die Naturwissenschaften, auf die sich Iser explizit stützt, indem er etwa „Rückkoppelungsschleifen“ als Modus von Emergenz aus der Kybernetik Norbert Wieners herleitet oder die „generativen Einschnitte“ in der Evolution der Gattung Mensch untersucht und sich hierbei, neben anderen, am Biologen Ernst Mayr orientiert.

Damit arbeitet Iser auch an einer Verschmelzung binärer Oppositionen wie Kultur und Natur und deren zuständigen Wissenschaften; an einem neuen Denken jenseits dieser Oppositionen, das sich an die jüngste Wissenschaftsphilosophie (etwa von Isabelle Stengers, Bruno Latour oder Philippe Descola) oder an älteren prozessontologischen Ansätzen wie dem von Alfred North Whitehead anschließen ließe. Trotz dieser Ausweitung des Phänomens Emergenz, das sich sowohl auf die Sphären der Natur, der Kultur und der Literatur erstreckt, schreibt Iser letzterer eine besondere Rolle zu. Die Literatur ermögliche es – und dies zeigt Iser an dem diachronen Verlauf dessen, was Aristoteles Mimesis nannte – angefangen von deren Gegenstandsbezug bis hin zu den phantasmatischen Auswüchsen (post-)moderner Literatur das Funktionieren von Emergenz lesbar zu machen oder zur Anschauung zu bringen. Dies gelte vor allem für literarische oder künstlerische Werke, die weniger auf in der Lebensweltlichkeit befindliche Gegenstände verweisen, als vielmehr auf die Sphäre des Imaginären. Der Fokus auf die phantasmatischen Gestalten ermöglicht es Iser, das Funktionieren dieser antimimetisch organisierten Sphäre des Imaginären auf die Kraft der Emergenz hin durchsichtig zu machen: „Im Phantasma kommt die Emergenz gleichsam zur Anschauung.“

Dies – so scheint es – ist darauf zurückzuführen, dass emergente Phänomene, die sich nicht aus den vorhandenen Vorgaben ableiten lassen, aus den „Wechselwirkungen komplexer Zusammenhänge“ entstehen, wie sie die Quantenmechanik und die kognitive Psychologie zum Thema haben. Literarische Gestalten sind jedoch dazu in der Lage, die von Iser angeführten „Wechselwirkungen“ nicht zu synthetisieren, sondern sie in ihrer Komplexität zu belassen. Für diese Beobachtung ist der eingangs angeführte Beckett-Titel paradigmatisch. Bei Beckett wird durch die Verneinung jeder Imagination („Imagination dead“) die Imagination selbst („imagine!“) in ihrer Fähigkeit des Hervorbringens von neuem ohne Rückgriff auf die „großen Erzählungen“ (die Lyotard und Beckett verabschieden) lesbar gemacht.

Isers Lektüre arbeitet die Emergenz-Qualität von Becketts Text „Ping“ heraus, in dem alle Verben verschwunden sind, sodass die Nullstelle des Diskurses, der sich selbst genügt, zum Vorschein kommt. Da die Beckett’schen Texte wie das Universum weder Anfang noch Ende kennen, „zersplittert [die] Darstellbarkeit zu diskontinuierlicher Fragmentarisierung“. Isers letztes Manuskript (dessen Erscheinen die Leser auchder editorischen Arbeit von Alexander Schmitz zu verdanken haben) zusammen mit seinen Texten zur Emergenz versammelt die Splitter des Universums wie die Zitate Becketts und vieler anderer und fügt sie neu zu einem unabgeschlossenen und unabschließbaren, funkelnden Ganzen zusammen.

Titelbild

Wolfgang Iser: Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays.
Herausgegeben von Alexander Schmitz.
Konstanz University Press, Paderborn 2013.
320 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530434

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch