Zum Über-Leben der kritischen Theorie in Mexiko

Zu Stefan Gandlers Buch „Frankfurter Fragmente. Essays zur kritischen Theorie“

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht müsste man diese „Frankfurter Fragmente“ eher als zeitgeschichtliche Dokumente lesen, als Überliefertes aus universitären Auseinandersetzungen. Stefan Gandler spricht in allen unter diesem Titel versammelten Essays auch über Vorgänge an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, als um das Erbe kritischer Theorie nicht nur gestritten wurde. Und es gibt nicht viele Erzählungen aus dieser Zeit, die davon berichten. Sicherlich gibt es mittlerweile wohl edierte Briefwechsel und Dokumentationen, aber die studentischen Stimmen sind darin marginal, der Nachhall aus den Seminaren und Vorlesungen ist nicht mehr zu vernehmen. Wir sprechen hier über einen Zeitraum, der sich von den frühen 1970er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre erstreckte. Wenn von Gandler explizit auf Historisches referiert wird, dann geht es um jene Jahre, als der Autor der Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses der Universität Frankfurt war. In seine um philosophische oder gesellschaftstheoretische Gegenstände kreisenden Essays sind autobiografische Erzählungen aus den späten 1980er-Jahren beigemischt. Sich auf diese Erzählungen zu konzentrieren verbietet sich, da man so die Rhetorik des Graben- oder Lagerkampfes nicht schwer genug nähme, sie bloß als Subjektives abhandelte.

Das Vorwort zur deutschen Ausgabe dieses Werks beginnt mit Pathos: „In jenem Frankfurt am Main konnten diese Fragmente nicht wirklich gedeihen, zu groß war die Gewalt und die Zahl der vorgeblich geläuterten Mitläufer und ihrer Intimi, zu schmal das Rückgrat und die Zahl derer, die sich dagegen stellten.“ Pathos ist stets zweideutig, überschreitet es Grenzen oder befestigt es sie? „Nur außerhalb Frankfurts, außerhalb der BRD, außerhalb Europas und letztlich außerhalb der selbsternannten Ersten Welt konnte das, was in Frankfurt festgefahren war, wieder unbeschwert gedacht, entwickelt, und allmählich zu Papier gebracht werden. Dieses ‚Außerhalb‘ konkretisierte sich nicht zufällig in Mexiko“. Und wer nun denkt, Gandler sagte dies mit einer feinen Selbstironie, der täuscht sich.

Entsinnen wir uns recht: Der Autor selbst, einstiger AStA-Vorsitzender der Universität Frankfurt, „Mitglied der studentischen Hochschulgruppe Linke Liste/Undogmatische Linke“, ging 1993 nach Mexiko und wurde dort vier Jahre später Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie. Gandler meidet in seinem Werk das Personalpronomen „ich“. Vielleicht ist dies dem Benjamin’schen Aphorismus geschuldet, dass seine Texte so gut seien, weil sie kein „ich“ in sich trügen. Meidet man das „Ich“ in seinen Texten, um diesem ‚Imperativ‘ treu zu sein, kann dies auch den Grund haben, dass man eine gewisse Unschärfe im Geschriebenen nicht richtig aushält. Bei Gandler ist man sich nicht sicher, wen dieses häufig gebrauchte „Wir“ alles umfasst: Ist es bloß Stefan Gandler, der sich damit meint, und in alter romanischer Tradition auch noch seine Leser? Manches Mal muss man dieses „Wir“ auch so lesen, dass es für die kritische Theorie überhaupt steht, wie sie aktuell vollzogen werden müsste. „Alle Texte, mit Ausnahme ‚Das Problem des Staates’, wurden verfasst, als wir uns bereits in Mexiko niedergelassen hatten, wo die ehemaligen Funktionäre des Nationalsozialismus und ihre Freunde keine Kontrolle über die öffentlichen Universitäten haben“. Das klingt so, als wäre dieses „wir“ ins Exil nach Mexiko geflüchtet, als hätte sich in Frankfurt, in den späten 1980er-Jahren, etwas ereignet, das mit der Exilierung des damaligen Instituts für Sozialforschung nicht nur zu vergleichen wäre, sondern damit auch gleichgesetzt wird: In jenem Autobiografischen geht es nicht nur um die Geschichtsschreibung Frankfurts, seiner Universität, „eine gewaltige Geschichtsfälschung“, sondern um die Kritik des Versuchs, „die Frankfurter Juden zum zweiten Mal zu enteignen und aus der Stadt, der Universität und dem Institut für Sozialforschung verschwinden zu lassen“. ‚Wir‘ werden noch auf jenen Abend eingehen, an dem Gandler dies festmacht, festgehalten werden kann allerdings schon einmal dies: Adorno und Horkheimer flohen vor der Kontrolle der deutschen Universitäten durch die Nationalsozialisten, nun sind es ehemalige Nationalsozialisten und ihre Intimi, die Ähnliches anstreben.

Mit diesen Zeilen wird ausgesagt, dass kritische Theorie nur in Mexiko weiterentwickelt werden konnte, weil dort die „ehemaligen Funktionäre des Nationalsozialismus und ihre Freunde“ keine Kontrolle über das Schreiben hätten: „Diese und ähnliche Erfahrungen waren der Grund dafür, die Frankfurter Fragmente einzupacken und diesen Ort zu verlassen, da es – trotz einer gewissen impliziten Präsenz der kritischen Theorie an der Universität Frankfurt – dort materiell unmöglich war, ihre bedeutendsten begrifflichen Beiträge weiterzuentwickeln. Erst 1993, mit der Ankunft in Mexiko (ein wunderschönes Land mit einer antifaschistischen Tradition und Persönlichkeiten wie Isidro Fabela) gelang es uns, das implizit in Frankfurt Begriffene wirklich produktiv umzusetzen.“

Gandlers Selbsterzählung weist Schwierigkeiten auf: Er behauptet zum einen, dass man kritische Theorie nur weiterentwickeln könne, wenn man zu diesem Zeitpunkt Frankfurt am Main verlassen hätte. In Frankfurt sei nämlich alles Denken „festgefahren“ gewesen, schlichtweg materiell „unmöglich“. Nun behauptet Gandler von diesem „Wir“, dass es erst in Mexiko dazu fähig gewesen wäre, dass „implizit in Frankfurt Begriffene wirklich produktiv umzusetzen“.

Wir lesen also von einer bestimmten Erfahrung: In Frankfurt war es bereits implizit begriffen worden, in Mexiko entfaltete sich nun das, was in Frankfurt unterdrückt wurde, aber irgendwie schon da war. Wurde nur etwas aufs Papier gebracht, was auch bedingt ist durch diese Frankfurter Festgefahrenheit? Bedingt ist durch die Gedanken an all die in Frankfurt Zurückgelassenen, die Gandler nicht bloß erwähnt, all die Professoren oder Mitarbeiter, diese „Reste des Denkens und der ursprünglich kritischen Theorie“ – beim Namen genannt: „Alfred Schmidt, Joachim Hirsch, Jürgen Ritsert und Heinz Steinert“. War es diesen Denkern nicht möglich, in Frankfurt weiter zu denken, wo es doch materiell unmöglich war und ehemalige Nationalsozialisten indirekt die geistige Produktion kontrollierten?

Das „Wir“ des Stefan Gandler weist Untiefen auf. Gandler kritisiert mit seinen Darlegungen implizit Denker, die für ihn zu so etwas wie der ‚ursprünglichen’ Theorie gehören, die für ihn sogar Lehrer waren. Sie gingen nicht nach Mexiko. Und dieser Ort ist genau der, von dem Stefan Gandler selbst schreibt. Ist dies die Selbstrechtfertigung eines Professors? Von jemand, der auszog, um kritische Theorie angemessen zu lehren und der sich dies nun im Vorwort seines Buches sagen muss?

Wirkt es nicht so, als wäre da etwas „in Frankfurt festgefahren“ worden? Diese unmissverständliche Bindung an einen Ort hat auch etwas ‚Festes‘, mag es auch das „wunderschöne Mexiko“ sein, dieses Land mit dieser „ganz besondere[n] Geschichte und spezifische[r] Alltagskultur, die es – mehr als irgendein anderes lateinamerikanisches (und wahrscheinlich amerikanisches) Land – von dem faschistischen Projekt der dreißiger und vierziger Jahre und von dem Projekt des autoritären Antikommunismus der fünfziger bis siebziger Jahre des zwanigsten Jahrhunderts fern hielten“. Wer hielt aber das Massenmorden der Kartelle, der Banden, der Militärverbände von diesem Land fern, das durch unglaubliche gewalttätige Konflikte bestimmt war und ist? Warum blendet Gandler in seinen Essays die gegenwärtigen Konflikte Mexikos vollkommen aus, auch wenn er diese „Frankfurter Fragmente“ zuerst einem mexikanischen Publikum dargeboten hat? Weil man doch nicht von diesem Frankfurt loskam? Gandler weiß um die Gefahr, die Mexiko droht.

Es könnte nämlich sein, dass die Frankfurter Festgefahrenheit längst schon Mexiko City und seine „autonomen Universitäten“ mitbetrifft, so dass seine „Fragmente“ als „Gegenpol“ funktionieren: Spricht doch der Autor von der „derzeitigen – auch in Mexiko – herrschenden philosophischen Mode[,] dieser theoretischen und gesellschaftlichen Schule den kritischen Stachel zu ziehen“.

Aber Gandler macht es sich mit seiner Konstruktion einer mexikanischen Heterotopie sehr einfach, wobei es doch eine äußerst diffizile Aufgabe ist, den Stachel der kritischen Theorie spitz zu halten. Gandlers Text ist auch die Heimsuchung durch eine Erinnerung an einen Abend in Frankfurt, denn der Verfasser der „Frankfurter Fragmente“ war einst wie viele andere Studenten dorthin „gelockt“ worden, durch den „Ruf der kritischen Theorie und die Hoffnung, etwas von ihrer begrifflichen Radikalität zu finden“. Und Radikales interessiert Gandler besonders, zumal es eine Theorie gewesen sei, die „radikaler als Marx selbst“ sei.

Wenn man nun Gandler genau liest, dann ist es ein merkwürdiger Ruf, der aus Frankfurt zu hören war. Denn er hat in diesen Jahren gelernt, dass der Begriff der Frankfurter Schule „das Begriffliche ins Geographische verwässert“. Wie hat man sich eine Verwässerung des Begrifflichen ins Geografische vorzustellen? Das Dichte und Feste des Begrifflichen wurde so aufgelöst, so verwässert, dass es auf einer Landkarte wieder sichtbar wird: dort Mexiko, hier Frankfurt am Main? Wenn Gandler etwas mit diesem Rest Frankfurt verknüpft, dann sind es die Abgründe einer Auseinandersetzung, die einen schlecht denken oder sogar schlecht sterben ließen.

Zwischen dieser „Hommage an Mexiko und insbesondere an Mexiko-Stadt, die Exilstadt des zwanzigsten Jahrhunderts, die, wenn sie nicht bereits existierte, erfunden werden müsste, um trotz allem heute noch denken und atmen zu können“, zwischen dieser Pathetik findet sich ein bezeichnender Absatz. Er irritiert, weil er an etwas erinnert. Diese erzählte Erinnerung ist schrecklich und sie wurde beinahe vergessen: „Einige gingen, andere gingen in sich, die Kompromissloseste sprang aus dem 13. Stock eines Frankfurter Hochhauses, Karl Kraus und seine literarische Analyse des autoritären Charakters im Kopf und im hinterlassenen Manuskript.“ Diese Person bleibt namenlos und steht so für jene, die trotz aller vermeintlichen Zivilisiertheit Frankfurt zu etwas Vergangenem in diesen Essays machen. Vielleicht mit einer subjektiven, aber anzuerkennenden Richtigkeit.

In Gandlers „Frankfurter Fragmenten“ geistert nicht nur die Vergangenheit umher; untote, grässliche Erinnerungen sind das. Es sind Erinnerungen an die Härten der Auseinandersetzungen an der Universität Frankfurt, die in den 1970er- und 1980er-Jahren darum ausgetragen wurden, was kritische Theorie gewesen sein wird: „Habermas und seine Anhänger hatten sich des philosophischen Instituts längst weitgehend bemächtigt [das müsste in den 80ern gewesen sein; Anmerkung des Autors], die von der kritischen Theorie inspirierten Dozenten an den Fachbereichen Gesellschaftswissenschaften, Germanistik, Geschichte und Jura hatten eine vollends defensive Haltung eingenommen und die rechtsgerichteten Universitätsangehörigen belegten von Tag zu Tag mehr Räume [wieder die Besetzung des Geographischen oder Räumlichen; Anmerkung des Autors]. Nur in den Vorlesungen von einigen Professoren […], in Seminaren von Gastdozenten oder Lehrbeauftragten stießen wir auf Reste des Denkens und der ursprünglich kritischen Theorie“. In der Dämmerung sollen doch die Eulen der Minerva zu ihren Flügen je und je wieder ansetzen.

Gandler indes nennt Namen. Diese Auseinandersetzungen leben in einer Schärfe wieder auf, wie sie wohl für die damaligen Gegner spürbar war, wie sie sie erlebt haben – dieses Handgemenge darum, was ‚ursprünglich‘ kritische Theorie genannt werden dürfe. Und für Gandler ist dies auch eine Entscheidung zwischen Reformismus und dem „Stachel“ der Kritik.

Gandlers Ortwechsel ist zudem daran spürbar, dass er die Defensive nicht sucht, keine an deutschen Universitäten vorsichtig oder leicht verdeckt vorgetragene Kritik pflegt, die sich vielleicht nur im Schlusssatz blicken lässt, um dann den restlichen Text merkwürdig zu illuminieren. Polemik ist eine Form der klaren Grenzziehungen, wo über Tod oder Leben, Gegner oder Freund, Feind oder Alliierter entschieden wird, wo in gewissem Sinne der Gegner „unter allem Niveau“ ist, wo sich das Parteiergreifen wie eine Naturnotwendigkeit ereignet, als Gewalt in den Text tritt.

Kritische Theorie sei durch „Kulturalisierung und Historisierung“ durch ihre Gegner „versenkt“ worden, „oftmals im Schafspelz der ‚aktualisierten Anhänger der kritische Theorie‘“ auftretend. Es sind also Gegner, die sich tarnen, die sich als jemand anderes ausgeben, der sie gar nicht sind. Gegner, die entlarvt werden müssen oder denen man deutlich eine Grenze ziehen muss, damit sie sich als solche oder als solche zu erkennen geben. Die entweder nach Mexiko geflohen sind oder in Frankfurt ausharrten: „Ach! Welch’ gesunde Polemik damals herrschte“, räsoniert noch Alain Badiou über dieses alte Europa. Aber was ist dies für eine Polemik, die von außerhalb, die aus Mexiko spricht, die sehr detailliert über Vorgänge an einer Universität im fernen Europa Mitte, Ende der 1980er-Jahre spricht? Wer sollte diese Figuren, diese Namen dort so kennen, wer sollte mit diesen kritischen Theoretikern etwas verbinden, die nur so tun, als ob sie solche wären? Wen sollte außerhalb Frankfurts eine solche Universitätsgeschichte interessieren?

Das Werk wurde vor einem Jahr auf Spanisch in Mexiko publiziert. Nur das Vorwort wurde der Ausgabe hinzugefügt. Es ist ein Band von 124 Seiten, der abendfüllend gelesen werden kann. Gandlers Text liest sich über weite Strecken wie eine Einführung in die kritische Theorie, die etwas vermittelt, was in Mexiko vermutlich nicht weniger unverständlich ist als in Frankfurt am Main heutzutage. Damit meine ich nicht Gandlers Text, sondern die Schwierigkeiten, die sich einstellen, wenn man Adorno oder Hegel einmal angemessen interpretieren will. Wohlwollend sparen wir aus der Rezension eine Beurteilung der Rekonstruktionen der Hegel’ schen Rechtsphilosophie von Gandler aus, die Hegel Naturalismus vorwirft. Hegel habe behauptet, wenn „die Geltung von Rechtsgesetzen“ im Widerstreit miteinander liege, dann werde ‚„man häufig zur Betrachtung der Natur aus der Willkür des Lebens zurückverwiesen und soll sich an derselben ein Muster nehmen‘“. Gandler zitiert zwar Hegel, aber weist etwas als „Kern“ dieser Rechtsphilosophie aus, was eine Polemik Hegels gegenüber bornierten Auffassungen des Rechts ist. Es hat schon würdigere Interpreten der Hegel’schen Rechtsphilosophie in der Tradition kritischer Theorie gegeben.

Gandlers Werk skizziert vielmehr die historische Entwicklung der kritischen Theorie, stellt Personalia dar, ohne ins Dröge des Statistischen oder Akademischen abzugleiten. Gandler kann, vermutlich weil die Erfahrung universitärer Auseinandersetzungen zu intensiv war, vieles nicht ohne Übertreibung sagen. In einer recht abgründigen Polemik gegen Helmut Dubiel („Historisierte Dialektik – Horkheimers und Adornos unredliche Erben“) stellt Gandler heraus, dass sich Dubiel in seiner Historiografie der kritischen Theorie „noch anderer möglicher Erben dieser Schule“ entledige: „Selbstredend käme es ihm nicht in den Sinn, an die beiden erwähnten Autoren zu denken: sie leben im Ausland und sind Juden. Die neue kritische Theorie möchte innerhalb der Gesellschaft sein, die nahezu alle Juden tötete und in der meist Überlebende es vorzogen, außerhalb dieser Gesellschaft zu bleiben.“

Es ist sicherlich moralisch richtig, nicht in ein Land zurückzukehren, in dem so viele geliebte Menschen ermordet wurden, unter Billigung einer schweigenden oder tatkräftigen Mehrheit dieses Landes. Aber Gandlers Argumentation ist überdreht: Wenn er behauptet, dass das Leben im Exil der Beweis sei, dass man die Shoa nicht affirmierte, wenn er behauptet, dass Habermas, Dubiel und Honneth sich in das Phantasma einer Volksgemeinschaft einfügten, der macht damit nicht seine Gegner lächerlich, sondern macht seine Anerkennung als vernünftig Urteilender vielleicht unmöglich.

Gandler nennt genau zwei Autoren, die das Erbe der Kritik des Antisemitismus fortführten und die noch wie Adorno oder Horkheimer schrieben: Raul Hilberg und Claude Lanzmann. Beide haben sicherlich Werke geschaffen, die als solche in der Praxis kritischer Theorie anzuerkennen sind. Gandler redet jedoch häufiger von dieser „einzigartigen Arbeitsgruppe“, diesen einzigartigen Kritikern oder dem einzigen Ort kritischer Theorie. Das Einzigartige wird in Gandlers Essays so heterogen, dass man gar nicht mehr weiß, wie einzigartig es noch sein könnte. Eine Strategie Gandlers ist dabei deutlich erkennbar: Eine dieser Einzigartigkeiten ist nur eine solche, wenn sie historisch nicht mehr als solche wirkt, wenn sie nicht länger durch lebendige Individuen verkörpert wird. Gandler hat dazu umfangreiche Messungen angestellt.

Gandlers eigentliches Thema müsste das Verhältnis von Geografie, Politik und Begrifflichem sein. Dies kritisiert er nämlich an der Arbeitsweise Dubiels: „Nebenbei sei bemerkt: Dubiel verwechselt diese geographische mit einer politischen Exteriorität: der Einfluss der kritischen Theorie, zum Beispiel von Herbert Marcuse und Franz Neumann, auf die Politik der Vereinigten Staaten während des Krieges und in den ersten Jahren danach, war viel größer als der heutige politische Einfluss von Dubiel und Honneth zusammen.“

Es muss eine interessante Formel sein, die die Addition von politischem Einfluss erlaubt, aber wir wollen die Messungen nicht unterbrechen: „Auch der politische und gesellschaftliche Einfluss von Horkheimer und Adorno in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland war viel größer als der von Habermas in seinem bisherigen Leben [wer weiß, was noch kommt!; Anmerkung des Autors], da ihre Theorie eine enorme Wirkung auf die 68er Studenten und Jugendlichen ausübte, mit relevanten – bis heute spürbaren – Folgen für die BRD. Diese Relevanz beruhte zu einem großen Teil genau darauf, dass sie weder während des Nationalsozialismus noch nach 1945 sich einer politischen Organisation zuwandten, was ihnen – wie sie sagten – erlaubte, sich intensiver der Emanzipation zuzuwenden, als es sich Dubiel und Habermas vorstellen können“ – als sie es sich zusammen vorstellen könnten! Und was ist es doch für eine Erkenntnis, dass Horkheimer und Adorno die Intensität ihrer Hinwendung zur Emanzipation an der Vorstellungskraft von Habermas oder Dubiel gemessen hätten.

Gandler kommt rasch darauf zu sprechen, weswegen diese ‚Messungen‘ erfolgen, denn eine wesentliche Größe wird von Dubiel in seiner Historiografie kritischer Theorie vollkommen übergangen: „Dubiel weiß sehr wohl um die Existenz dieser Position, die es in Frankfurt viele Jahre lang gab; zum Beispiel in der studentischen Hochschulgruppe Undogmatische Linke, hinter der lange Zeit die relative Mehrheit der Studenten stand, die sich an den Wahlen zur Verfassten Studentenschaft und den Hochschulorganen beteiligten, denn wir setzten uns mit ihm, Honneth und Habermas mehr als einmal öffentlich auseinander.“

Sicherlich hatte Dubiel seine Gründe, warum er nicht Gandler und seine Gruppe erwähnte. Das muss nicht unbedingt daran liegen, dass Gandlers Philosophieren unterbestimmt oder widersprüchlich war oder ist. Es könnte auch mit einem Abend zusammenhängen, der immer mal wieder in Gandlers Essays auftaucht. Ein Abend, den vielleicht Dubiel, aber noch nicht Gandler vergessen hat.

Es war der Abend der 75-Jahr-Feier der Universität Frankfurt. Gandler war zu diesem Zeitpunkt der AStA-Vorsitzende. Es war wohl in diesen Jahren gewesen, dass sich Personen wie der „Chef der deutschen Bank, Hermann Josef Abs, seines Zeichens der wichtigste Finanzberater Hitlers sowie einer der Aufsichtsratsmitglieder des Chemiekonzerns IG-Farben“, „schneidig zu den ‚wirklichen Erben der Gründer der Universität Frankfurt‘“ erklärten hätten. Die Paulskirche wurde mit einer Hundertschaft Polizei gesichert, um gewisse Studenten am Eintreten zu hindern. Dies hatte der damalige Präsident der Universität veranlasst, während er politisch genehmen Studenten die Teilnahme ermöglichte. Gandler wurde so gehindert, seine Rede zu halten, und selbst „die renommierteste konservative deutsche Tageszeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung“, kritisierte dies. „Die Vertreter der selbsternannten ‚zweiten Generation der kritischen Theorie‘, wie Habermas, oder der ‚dritten‘, wie Honneth und Dubiel, sahen keinen Anlass, gegen diesen Akt akademischer Zensur zu protestieren, der darauf abzielte, den Ausschluss des theoretischen und historischen Standpunkts der kritischen Theorie bei der 75-Jahr-Feier der Universität Frankfurt sicherzustellen.“ Man kann aber auch diese repressive Praxis des damaligen Universitätspräsidenten, mancher Professoren oder Studierender kritisieren, ohne dass man damit die Vertreibung des Instituts für Sozialforschung unter Horkheimer damit gleichsetzen muss.

Wenn Lenin sagt, dass die Wahrheit nur in der Praxis ist, dann schreibt Gandler getreu einer Parole. Diese Erzählung eines historischen Ereignisses wird Gandler zum Lackmustest, ob jemand sich nur selbst als Adept der kritischen Theorie bezeichnete oder ob er wirklich vom „theoretischen und historischen Standpunkt der kritischen Theorie“ spricht. Für Gandler war seine Rede zur 75-Jahr-Feier der Universität Frankfurt eine notwendige antifaschistische Aktion, deren Misslingen auch gleich das Schicksal Frankfurts als Ort kritischer Theorie besiegelte.

Man kann nicht nur von einem Verfall oder Sterben, einer Agonie kritischer Theorie nach Gandler sprechen: „Die kritische Theorie der Frankfurter Schule ist tot. Diese Tatsache anzuerkennen, ist die elementare Voraussetzung, um ihr einzigartiges Projekt zu gegebener Zeit wiederaufgreifen zu können.“ Das ist nur nicht paradox, wenn mit kritischer Theorie wirklich diese Institution in Frankfurt gemeint ist und das dort zu einer bestimmten Zeit lehrende Personal. Geht es also doch um dieses Frankfurt der 1960er- Jahre, das noch solche verlockenden Rufe aussenden konnte, dass selbst Gandler an dieses Institut kam? Vielleicht könnte man daraus lernen, dass Theorien nicht einfach sterben (denn Gandler dürfte in den 1970er-Jahren an die Frankfurter Universität gekommen sein), sondern wiederkehren können. Wie hätte denn sonst die Gruppe, die den AStA-Vorsitzenden verteidigte, das Einzigartige verteidigen können, was in Mexiko wieder aufgegriffen oder produktiv weiterentwickelt wurde, wenn es doch als Einzigartiges schon längst gestorben wäre?

Es ist daher keine „elementare Voraussetzung“, um etwas aufzugreifen, dass dieses etwas vorher gestorben sein muss. Die elementare Voraussetzung dazu, etwas aufzugreifen, ist gleichgültig gegenüber der Frage, ob dieses Etwas tot oder lebendig ist. Es wird lebendig werden, wenn wir es angemessen lesen und es wird dennoch in gewissem Sinne tot bleiben, wenn wir es nicht angemessen lesen, denn sonst erstirbt seine Lebendigkeit in unserer Dummheit.

Gandler macht es sich einfach mit seiner Todeserklärung kritischer Theorie: Er knüpft sie an den Tod Leo Löwenthals, als eben die letzte Stimme der „ursprünglich kritischen Theorie“ zu sprechen aufhörte. Das ist ein trauriges Ereignis, aber wo müsste dann dieses Sterben kritischer Theorie beginnen, wenn es bei Löwenthal zu einem Ende kam? Das ist nicht nur ein merkwürdiges Sprechen über lebendige Individuen, die wirklich einzigartig sind, sondern auch über eine Theorie, die zu sehr unterschiedlichen Zwecken gebraucht werden kann.

Gandler kann nicht wirklich begrifflich darstellen, was diese einzigartige kritische Theorie ist, weil er nicht die Kritiken angreift, die die ‚Ursprünglichkeit‘ kritischer Theorie kritisieren. Es mag zutreffend sein, dass die Kritiken von Habermas oder Dubiel an Adornos Werk nicht überzeugend sind. Sie aber als Totes anzusprechen, als völlig Anderes gegenüber der ‚echten’ kritischen Theorie – dies ist die schlechte Komik eines Leichenschmauses. Wo sich Gandler an einer expliziten Kritik an Habermas versucht, da wird es ulkig: Habermas habe die kritische Theorie historisiert und kulturalisiert, obwohl es Gandler als wesentlichen Zug der echten Kritischen Theorie unterstreicht, dass sie die „stark kulturalisierten, in die okzidentale Kultur integrierten Formen der alltäglichen Denk-, Sprach- und Handlungsweisen“ untersuche. Hätte Habermas anderes über sein Werk behauptet?

Wenn kritische Theorie dies tut, warum untersucht dann Gandler nicht einmal diese stark kulturalisierten Interpretationen von Habermas ob ihrer Angemessenheit? Gandler wirft Habermas allerhand vor, spricht von ihm als von einem Verräter oder Lumpen, aber am Werk des Autors selbst weist er dies nicht begrifflich aus. Oder man hätte sich mit der interessanten Frage beschäftigen können, wie sich die okzidentale Kultur von derjenigen Mexikos unterscheidet? Vielleicht hat sogar derjenige einen Standortvorteil, der nicht in dieser alteuropäischen Kultur arbeitet? Der dort Untersuchungen anstellt? Bei Gandler finden sich Indizien, dass seine Kritik des Ethno- oder Eurozentrismus einen Rückfall hinter die Universalität der Vernunft darstellt.

Der ‚echten’ kritischen Theorie seien diese Fragmente verpflichtet, ihr Ziel sei es, „ihre absolute Erbarmungslosigkeit bei der Kritik der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Tendenzen der Gesellschaftsform, in der wir nochleben, wieder sichtbar zu machen.“

Polemik ist in manchen Situationen die zu vollziehende Form: Ich treffe den Gegner in einer Schärfe, die etwas Gewalttätiges hat, die erschüttert, ja geradezu die Aufforderung zum Handgemenge ist. Ich nehme den Gegner in seiner Stärke, um Kraft seiner Setzungen sein Gedankengebäude zu verschieben, so dass es verrückt wird.

Polemik kann aber auch so gebraucht werden, dass der Gegner zum Verrückten erklärt wird, zum Verräter oder Feind, dass der Gegner erbarmungslos verfolgt wird. Dann ist sie keine Aufforderung zum Handgemenge, sondern wird in ihrer ganzen Verächtlichkeit zu einer Figur der Selbstverachtung: Man hat den Gegner an seiner schwächsten Stelle getroffen. Er wird dies nicht zur Kenntnis nehmen, weil seine Aussagen nicht wirklich kritisiert wurden, sondern er müsste nur sagen, dass der Polemiker ihn falsch verstanden hätte. Er könnte dann seine Interpretation seiner Aussagen darlegen und man verstünde die Polemik als bloße Übertreibung, nicht als philosophische Darstellung, sondern als literarisches Zeugnis, als ein Bekenntnis, was unvernünftig nicht nur angesichts der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse ist.

Als Jürgen Habermas 1971 die Frankfurter Universität verließ, sprach er davon, dass „es für eine Reihe von Studenten und Mitarbeitern hilfreich (und für mich eine Erleichterung) sein [dürfte], wenn eine ambivalent besetzte Projektionsfigur dem Frankfurter Gesichtsfeld entschwindet“. Vielleicht mag es an dieser Ambivalenz der Projektion liegen, dass so viele Arbeiten, die von diesen Studenten oder Mitarbeitern verfasst wurden, einfach das Entgegengesetzte über Adorno behaupten, was Habermas in seinen Kritiken entfaltete. Diese Arbeiten nehmen Habermas nicht an seinen stärksten Stellen, sondern behaupten seine Kritik als historisch erledigt, ohne zu bemerken, dass sie selbst schon angezählt wirken.

Wenn Gandler davon spricht, dass der erkenntniskritische Clou der Theorie Adornos und Horkheimers darin bestünde, dass „die Vernunft […] der nicht rationalen Fähigkeiten des Menschen selbst [bedarf]“, dann könnte man wissen, dass Habermas dies als Indiz dafür gebrauchen würde, dass die Normativität der Vernunft bei solchen Adorniten nicht vernünftig ausgewiesen oder bestimmt ist. Ich glaube nicht, dass Habermas Adornos Werk so selbst kritisieren kann, aber dies ist eine andere Geschichte.

Es müssen daher keine „Frankfurter Fragmente“ geschrieben werden, um diesen Grablegungen kritischer Theorie zu entraten. Man könnte vielleicht damit anfangen, die Habermas’schen, Dubiel’schen oder Honneth’schen Kritiken einmal ernstzunehmen, um sie immanent zu kritisieren – diesen beinahe schönen Felsen des Sisyphos.

Aber vielleicht ist mein Urteil auch nur dadurch getrübt, weil ich Roberto Bolanos Amuleto oder 2666 im Kopf habe, wenn ich an Mexiko denke. Ich könnte mich in meiner Kritik auf Stefan Gandlers Methode selbst berufen: „Etwa parallel zur erstmaligen Beschäftigung mit Hegels Staatsphilosophie (Frühsommer 1987) wurde vom unabhängigen Kinoverein Pupille – der damals das alte Frankfurter Universitätskino Camerabenutzte – anlässlich des ‚Historikerstreits‘ über die Bewertung des Nationalsozialismus eine Film- und Vortragswoche zu dieser Thematik veranstaltet […]. Der zentrale Beitrag dieses Filmzyklus’ war Claude Lanzmanns Shoah. Die Auseinandersetzung mit diesem Abschnitt deutscher Geschichte, intensiviert in der Zeit nach der Projektion dieses einzigartigen filmischen Werkes, erschwerte in starkem Maße die neutrale Lektüre der Hegelschen Staatsphilosophie.“

Können wir in Zweifel ziehen, dass gewisse Projektionen, genauer: Filmreihen in Programmkinos nicht auch unsere Lektüren erschwerten, vielleicht sogar so bestimmten, dass wir nicht länger in unseren Lektüren neutral waren? Und waren es nicht auch Kränkungen aus Seminaren, die uns sogar in gewissen Lektüren überzeugten? „In einem Seminar in der Frankfurter Universität blieb der Versuch des Autors erfolglos, die Schwierigkeiten philosophisch zu diskutieren, die er zu Beginn seiner Hegel-Lektüre hatte, als er spontan einige scheinbare Parallelen zwischen Hegels Staatsphilosophie und der nationalsozialistischen Doktrin wahrzunehmen glaubte.“

Wie sehr ist auch unsere universitäre Alltäglichkeit durch solche Erfolglosigkeit geprägt, wie häufig glaubten wir „spontan […] scheinbare Parallelen […] wahrzunehmen“ zu Beginn unserer „Hegel-Lektüre[n]“! Und wie erschütternd konnte dann die Kritik des Professors sein. Wir wollen uns gar nicht ausmalen, wie erschütternd eine solche Kritik wohl gewesen ist, als der „anerkannte Philosoph Alfred Schmidt, der damals den Lehrstuhl für Sozialphilosophie innehatte, den einige Jahre vor ihm Max Horkheimer noch bekleidete“, diese spontane Äußerung über Parallelen im Werk von Hegel und dem Nationalsozialismus als „‚ehrenswerten moralischen Impuls‘“ erledigte. Das ist schmerzhaft, ohne Frage (Stefan Gandler hat sich stets um eine Würdigung des Schmidt’schen Werkes bemüht, auch in Mexiko).

Aber darüber einen Essay schreiben? Das können Professoren tun. Und wenn sie in Mexiko leben? Gandler behauptet, dass der „Schwerpunkt der Analyse“ kritischer Theorie „auf d[en] dunkelsten Aspekte[n] der gegenwärtigen Gesellschaft“ liege. Ich hatte daher gehofft, bei aller Kritik des Eurozentrismus, dass es weniger um Frankfurt, als vielmehr um Mexiko gehen würde. Nicht, weil ich subtropische Temperaturen dem Taunus vorzöge, oder lieber meine Wahrnehmung in der Karibik ‚verwässerte‘, als mich in Frankfurts Umgebung festzufahren. Eher darum, weil solche Gesellschaften tatsächlich selten Gegenstand kritischer Theorie sind, weil sie tatsächlich, wird sie in Deutschland geschrieben, auch auf die Erzählung ihrer eigenen Geschichte fokussiert ist. Dieses Problem wird man aber auch nicht dadurch los, dass man in die weite Welt zieht, um endlich in einem Land mit antifaschistischer Tradition zu denken. Das kann man alles machen, nur sollte man sich dem vergewissern, dass sich diese Selbstexilierung eben als Arbeit am Begriff vollzieht und nicht als Positionierung im Büchergraben.

Gandlers „Frankfurter Fragmente“ wirken so, als entstammten sie einer Zeit, die vergangen ist. Gandlers Behauptung, dass in den aktuellen Arbeiten zur kritischen Theorie nicht mehr von Antisemitismus die Rede sei, mögen vielleicht für die 1980er- oder die frühen 1990er-Jahre gelten – seine Polemik fände gewiss viele Verbündete in den Mittelbauen mancher kleinen Universität, vielleicht sogar noch in der in Frankfurt am Main. Nur wenn man kritische Theorie vollziehen will, dann sollte man nicht den „letzten Winkel Mexikos“ zu dem Ort verklären (bei allem Interesse für die neozapatistische Bewegung), an dem besser zu philosophieren sei. Oder man könnte auch sagen: Die Auseinandersetzungen an der Universität Frankfurt können auch lakandonische Urwälder für die Vernunft sein. Manch einer kehrte aus ihnen nie wieder.

Titelbild

Stefan Gandler: Frankfurter Fragmente. Essays zur kritischen Theorie.
Übersetzt aus dem Spanischen von Stefan Gandler und Dorothea Hemmerling.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
124 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783631634004

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