August Wilhelm Schlegels Vorlesungen

Analoge und digitale Edition

Von Stefan KnödlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Knödler

I. August Wilhelm Schlegels Vorlesungen …

Ob August Wilhelm Schlegel als Hochschullehrer wohl positiv evaluiert worden wäre? Das Ergebnis dürfte, soviel wir wissen, einigermaßen gemischt ausgefallen sein. Zumindest über seine Vorlesungen gehen die Meinungen auseinander. So notierte das „Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Kritik“ anlässlich des Beginns von Schlegels „Vorlesungen über Theorie und Geschichte der bildenden Künste“, die er in der Berliner Singakademie im Frühjahr 1827 gehalten hat:

Was den Inhalt dieser ersten Vorlesung betrifft, so dürfte schwerlich ein Anderer bei solcher Gelegenheit so die glückliche Mitte zwischen Gelehrsamkeit und Spekulation auf der einen Seite, und der bloßen Conversation auf der andern zu halten wissen, als Herr von Schlegel, weshalb gewiß auch den Anwesenden nichts Dunkles und Unklares selbst da, wo er von Kant und Plato sprach, geblieben ist. Was aber die Form betrifft, so bedarf es keiner weiteren Erinnerung, da er hierin von jeher und in jeder Weise, in dem kleinsten Sonett, wie in der größten akademischen Abhandlung Meister und Muster war.

Andere zeigten sich weniger begeistert, etwa Karl August Varnhagen von Ense:

Er spricht frei, ohne Heft, und in ganz guter, anmuthiger Rede, aber was er sagt, ist veraltet, flach, gering; selbst die Damen meinen, sie lernten bei ihm nichts. Seine persönlichen Eitelkeiten, Einbildungen, Prunkäußerungen u. s. w. fallen jedermann auf, werden belächelt und belacht, und nicht immer schonend. Doch hat man ihn im Ganzen gern, und thut ihm viele Ehre an.

Solchen Aussagen könnte man vor allem beim ‚späten’ Schlegel zahlreiche ganz ähnliche zur Seite stellen. (‚Spät’ ist Schlegel, obwohl er dann noch 41 Jahre lang leben wird, bereits nach seinem Weggang aus Berlin im Jahr 1804, in dem er mit Madame de Staël als Hauslehrer ihrer Kinder in die Schweiz geht.) Die berühmt-berüchtigten – und nachhaltig rufschädigenden – Invektiven Heinrich Heines gegen seinen ehemaligen Lehrer im zweiten Buch der „Romantischen Schule“ (1833–1836), wo Schlegel als „Dilettant“, als eitler Geck, der „sich selber beständig im Spiegel“ sieht, als Opportunist, als weibisch und geistlos erscheint, sind keine Einzelfälle. Zwei Dinge werden Schlegel dabei stets vorgeworfen: Er sage nichts Neues und wiederhole im Grunde das, was er zur Zeit des „Athenäums“ und der Berliner Vorlesungen bereits gesagt habe, und seine Eitelkeit mache ihn zu einer lächerlichen Figur.

Dennoch zog der gute Ruf, den er sich durch seine Übertragungen (Shakespeare, Calderón, Dante, Petrarca etc.), Aufsätze, Gedichte sowie durch seine unerschrockenen Angriffe gegen die literarischen Gegner erworben hatte, viele Zuhörer in seine öffentlichen und akademischen Vorlesungen. Aus ihnen lässt sich eine beeindruckende Liste berühmter Namen destillieren – neben den bereits Genannten: Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Friedrich Heinrich von der Hagen, die Prinzen August und Louis Ferdinand von Preußen, Friedrich von Gentz, Schadow, Schelling, Schleiermacher, Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich, Sismondi, Bettina von Arnim, Hegel, Schinkel, Zelter, Karl Marx, Hoffmann von Fallersleben, Maximilian von Goethe, Christian Lassen oder Karl Simrock.

Ob und wie weit Schlegels Vorlesungen bei seinen Hörern Spuren hinterlassen haben, wird man nicht pauschal feststellen können, deutliche Einflüsse lassen sich etwa bei denjenigen unter seinen Studenten finden, die ihm als Dichter nachgefolgt sind, wie etwa der heute vergessene Johann Baptist Rousseau (1802–1867), oder eben Heinrich Heine, der seinem Lehrer Sonette widmete und ihn seinen metrischen Lehrmeister nennt; oder aber bei denjenigen, die Schlegel in den Disziplinen nachfolgten, in denen er die Vorlesungen hielt: Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) etwa, der sich von Schlegels Berliner Vorlesungen zu seiner Ausgabe des „Nibelungenlieds“ anregen ließ, Karl Simrock (1802–1876), der sich ebenfalls der mittelalterlichen deutschen Dichtung widmete, oder Christian Lassen (1800–1876), der als Bonner Professor die von Schlegel begründete akademische Indologie weiterführte.

August Wilhelm Schlegels Vorlesungstätigkeit nimmt einen Zeitraum von beinahe 50 Jahren ein – von den ersten Vorlesungen als außerordentlicher Professor in Jena im Wintersemester 1798/99 bis zur letzten Vorlesung als Bonner Professor, „Über neueste Europäische Geschichte von den letzten Jahrzehenden bis zum allgemeinen Frieden“ im Sommer 1843 und im Winter 1843/44. Die Vorlesung ist eine von Schlegels wichtigsten und wirkungsmächtigsten Äußerungsformen. Vielfach lassen sich darin Verbindungen zu seinen Aufsätzen, Rezensionen und Polemiken finden. So stellen etwa seine Berliner „Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst“ (1801–1804) eine Fortsetzung des von Schlegel gemeinsam mit seinem Bruder Friedrich herausgegebenen (und zum großen Teil auch bestrittenen) „Athenäum“ (1798–1800) dar; hier wie dort stehen Pathos und Polemik, Gelehrsamkeit und Spekulation eng beieinander. Und auch die Wiener Vorlesungen „Ueber dramatische Kunst und Litteratur“ von 1808 stellen im Kontext sowohl der patriotischen Bemühungen der Brüder Schlegel und anderer Romantiker als auch des antinapoleonischen Engagements der Madame de Staël und ihres Kreises ein eigenständiges (literatur-)politisches Statement dar.

Seine ersten Vorlesungen als frischgebackener außerordentlicher Professor in Jena hielt Schlegel im Winter 1798/99 über „Ästhetik“ und die „Geschichte der deutschen Poesie“. Die erste dieser Vorlesungen ist 1911 erstmals unter dem Titel „Philosophische Kunstlehre“ gedruckt worden, die andere ist ebenso wie die Vorlesungen der folgenden Semester („Über das zweckmäßige Studium des Alterthums“ im Sommer 1799 und „Geschichte der griechischen und römischen Literatur“ im Winter 1799/1800) verloren. Bei der großen Konkurrenz in Jena – Schelling, Fichte und der überaus beliebte Christian Gottfried Schütz – war Schlegel, dessen Name trotz seiner Veröffentlichungen in Schillers „Horen“ und der Mitherausgeberschaft des „Athenäums“ mit dem seiner Jenaer Kollegen noch nicht vergleichbar war, kein großer Erfolg beschieden: Friedrich Carl von Savigny berichtet in seiner „Sächsischen Studienreise 1799/1800“, dass Schlegels Zuhörerzahl zwischen fünf und zwölf lag.

Etwas entmutigt verließ Schlegel daher Jena nach drei Semestern und zog schließlich nach Berlin, wo er im Winter 1801/02 die „Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst“ begann, die er in den beiden darauffolgenden Wintern fortsetzte, dazu kamen im Sommer 1803 die „Vorlesungen über Encyklopädie“. Schlegels Berliner Vorlesungen, die er vor einem geladenen Publikum an verschiedenen Orten hielt, fallen auf den Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Romantikern und den Berliner Spätaufklärern um den alten Nicolai, Merkel und Kotzebue – jener berüchtigten „ästhetischen Prügeley“, deren Nachwirkungen noch weit ins 19. Jahrhundert hinein zu spüren sind. Zahlreiche Seitenhiebe auf seine Gegner vor Ort lassen sich auch in Schlegels Berliner Vorlesungen finden. Die bei einem vergleichsweise hohen Eintrittsgeld (2 Friedrichsd’or pro Vorlesung) stattlichen Zuhörerzahlen (zwischen 50 und 80) sprechen indes für sich und zeigen zudem: Berlin war reif für eine Universität.

Was Schlegels Publikum, das sich größtenteils aus den Besuchern der verschiedenen Salons der Stadt speiste, zu hören bekam, beschränkte sich nicht auf die Ordnung und Systematisierung der Ideen der Frühromantik und der Literatur von Antike, Mittelalter und Gegenwart sowie auf deren Vermittlung und Popularisierung – dies ist ja wohl gemeint, wenn Rudolf Haym von Schlegel als dem „Apostel der Romantik“ spricht. Es ist schon vielfach darauf hingewiesen worden, dass die Berliner Vorlesungen in zahlreichen Punkten über den frühromantischen Ideenhorizont hinausgehen; Hayms Behauptung, Schlegel sei „sein eigener Lehrmeister […] nur in den metrischen Dingen“ gewesen, ist mittlerweile widerlegt worden. So hat René Wellek im ersten Band seiner monumentalen „Geschichte der Literaturkritik“ ausführlich die Hellsichtigkeit und Klarheit von Schlegels Urteilen als Literaturhistoriker und -kritiker sowie seine Verdienste bei der Erforschung von bis dahin unbekannten Texten hervorgehoben. Ebenfalls sind zu nennen: Schlegels Theorie des Sonetts, die Neubeurteilung der griechischen Dramatiker, die folgenreiche Aufwertung des „Nibelungenlieds“ als deutsches Nationalepos oder Schlegels Theorie der Sprache. Auch die polemischen Passagen gegen antike wie zeitgenössische Dichter müssen wie seine Polemiken im „Athenäum“ und anderenorts zu Schlegels originären Leistungen gezählt werden.

Schlegel selbst hat nur einzelne Abschnitte seiner Berliner Vorlesungen in Zeitschriften verstreut veröffentlicht. Ein Großteil des ersten Kursus, der Kunstlehre, ist in Schellings Vorlesungen „Philosophie der Kunst“, zum Teil wörtlich, eingegangen. Schlegel hat Schelling sein Manuskript geliehen, dieser hat davon „dankbaren Gebrauch“ gemacht, „so weit es mein individuelles Assimilationsvermögen verstattet“. Mit einem hübschen Argument hat Schelling auch vorgesorgt, dass Schlegel ihn nicht des Plagiats bezichtigte: „Auch erwarte ich, daß Sie mir nicht Ideen, die ich auch durch mich selber haben kann […] in dieser Berechnung in Anschlag bringen.“

Schlegels Berliner Jahre waren eine ungeheuer produktive Zeit, neben den vier Vorlesungsreihen entstanden die Calderón-Übertragungen und die „Blumensträuße italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie“, dazu das Schauspiel „Ion“ und zahlreiche Theater- und Kunstkritiken für die „Zeitschrift für die elegante Welt“. Nachdem Schlegel Mitglied der Entourage von Madame de Staël geworden war, stockte seine Arbeit zunächst und es entstanden nur kleinere Texte, an Vorlesungen irgendwelcher Art war im kleinen Coppet am Genfer See nicht zu denken. Erst als Schlegel sich im Winter und Frühjahr 1808 in Wien aufhielt, wo Madame de Staël Materialien für ihr Deutschlandbuch sammeln wollte, bot sich erneut eine Gelegenheit, Vorlesungen zu halten und damit einen Teil der Berliner Vorlesungen, der ihm besonders am Herzen lag, noch einmal überarbeitet und stark erweitert vorzutragen: Die dramatische Literatur, die er in Berlin noch in zwei getrennten Teilen – die antike im zweiten, die moderne (romantische) im dritten – dargestellt hatte. Der Kaiser persönlich hatte die Vorlesungen gestattet, die ein gesellschaftliches Ereignis wurden: rund 200 Vertreter des österreichischen Adels sowie Wiener Intellektuelle wie die Dichter Lorenz Leopold Haschka, Heinrich Joseph von Collin oder Caroline Pichler, wohnten den Vorlesungen bei.

Noch einmal wiederholte Schlegel zentrale Themen seiner Berliner Vorlesungen, die Neubestimmungen der griechischen Tragödie (und damit die Abwertung des Euripides), die Abwertung der klassischen französischen Tragödie – beides hatte er bereits in der 1807 auf Französisch erschienenen „Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide“ polemisch vorbereitet – sowie die Aufwertung der ‚romantischen’ Tragödie vor allem Shakespeares und Calderóns (die den größten Raum einnimmt), die er mit einem Ausblick auf ein zukünftiges nationales deutsches Theater abschloss. Diese Wiener Vorlesungen sind die einzigen, die Schlegel zu Lebzeiten selbst veröffentlicht hat, sie erschienen, vor allem im dritten Band erheblich erweitert, zwischen 1809 und 1811 in drei Bänden in Heidelberg. Schlegel selbst hat für ihre Übersetzung ins Französische gesorgt – eine Arbeit, die zunächst Helmina von Chézy und Adelbert von Chamisso gemeinsam unternehmen sollten, die dann jedoch von Madame de Staëls Cousine Albertine Necker-de Saussure ausgeführt wurde. In der französischen Übersetzung trat das Werk („Cours de littérature dramatique“, 3 Bde., Paris 1814) dann seinen Siegeszug durch ganz Europa an, beeinflusste Victor Hugo und Stendhal ebenso wie Coleridge, Hazlitt, Poe oder Manzoni. Zu Recht weist Schlegel darauf hin, dass seine Vorlesungen auf das „litterarische Europa […] von Cadiz bis Edinburg, Stockholm und Sct. Petersburg“ und auch „[j]enseits des atlantischen Meeres“ gewirkt hätten.

Schlegel blieb bei Madame de Staël bis zu ihrem Tod im Juli 1817, beschäftigte sich dann, ihrem Testament entsprechend, mit der Ordnung ihres Nachlasses und der Herausgabe der nachgelassenen „Considérations sur les principaux événements de la révolution françoise“ (3 Bde., Paris 1818). 1818 wurde er als Professor für Literatur und Kunstgeschichte an die neugegründete Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn berufen. In den folgenden 26 Jahren hielt er dort jedes Semester zunächst zwei Vorlesungen und eine Übung, später eine Vorlesung und eine Übung ab. Die Übungen hatten zum Beispiel die deutsche Verskunst, Besprechungen ausgewählter Elegien des Properz, Einführungen in das Sanskrit oder die Lektüre einer altindischen Dichtung zum Gegenstand. Schlegels Bonner Vorlesungen umfassen ebenfalls ein breites Themenspektrum: Kunst, antike und jüngere europäische Geschichte, deutsche, europäische und altindische Literatur- und Sprachgeschichte, das „Nibelungenlied“, deutsche Metrik, Properz, Herodot, Homer und das akademische Studium. Auch die „Vorlesungen über Theorie und Geschichte der bildenden Künste“, die Schlegel zwischen Mai und Juli 1827 in der Berliner Singakademie hielt, gehören in diesen Zusammenhang. Einige dieser Vorlesungen trug Schlegel auch in lateinischer Sprache vor – so über Properz’ Elegien, über „Quaestiones homericas“ (die Marx hörte) und „Antiquitates etruscae“. Bei seinen Studenten war er beliebt, was die Zahl seiner Hörer belegt, in manchen Semestern sind es fast 300.

Der häufig geäußerte Vorwurf, Schlegel sage im Grunde nichts Neues und wiederhole nur seine Thesen und Argumente aus der Zeit der Frühromantik, kann, sieht man sich seine Bonner Vorlesungen genauer an, so nicht stehenbleiben. Zwar hat er – was besonders an den Berliner Vorlesungen von 1827 deutlich wird – seinen philosophischen (bzw. ästhetischen) Kenntnisstand seit 1804 kaum erweitert. Winckelmann, Hemsterhuis oder Kant sind dort wie hier seine Referenzpunkte, auch seine Argumentation stammt zum größten Teil noch aus der Zeit um 1800. Allerdings kann man ihm nicht vorwerfen, dass er als Gelehrter nicht auf dem neuesten Stand war – die Neuerscheinungen auf den Gebieten der Altertumsforschung, Kunst-, Sprach- und Literaturgeschichte kannte er durchaus und setzte sich mit ihnen auch in seinen Vorlesungen auseinander. Auch sollte man bedenken, dass der Hauptgegenstand seiner Forschung in diesen späteren Jahren, die Sprache und Literatur des Sanskrit, vom damaligen Publikum (wie auch von der germanistischen Forschung) aus verständlichen Gründen unbeachtet bleiben musste.

II. – analog …

August Wilhelm Schlegels Vorlesungen erscheinen seit 1989 gesammelt in der von Ernst Behler und Frank Jolles begründeten „Kritischen Ausgabe der Vorlesungen“ (KAV). Der erste Band mit den Jenaer und dem ersten Teil der Berliner Vorlesungen erschien im Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Behler und Jolles konnten die auf sechs Bände angelegte Ausgabe nicht fertigstellen, Behler verstarb 1997, Jolles im Frühjahr diesen Jahres. Immerhin erschien 2006 noch der von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt herausgegebene Band III mit den erstmals veröffentlichten „Vorlesungen über Encyklopädie“, der bereits gedruckte Textteil von Band II wurde 2007, nachdem Georg Braungart die Herausgabe der Ausgabe übernommen hatte, ohne Kommentar als Band II/1 herausgebracht. Seither ist die Arbeit an der Ausgabe wieder aufgenommen worden, in Tübingen entstehen die noch fehlenden Bände: der Kommentarband zu den Jenaer und Berliner Vorlesungen II/2 ist fertig und erscheint demnächst; die folgenden drei Bände mit den Wiener (Band IV, hrsg. von Stefan Knödler) und Bonner Vorlesungen (Band V und VI, hrsg. von Sabine Gruber und Edith Höltenschmidt) sind, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, im Entstehen. Die abgeschlossene Ausgabe wird als erstes Modul einer geplanten Ausgabe der sämtlichen Werke Schlegels begriffen, deren Edition sich an die der Vorlesungen anschließen soll.

Die „Kritische Ausgabe der Vorlesungen“ ist nach den Orten geordnet, an denen die Vorlesungen gehalten wurden – es ergibt sich daraus zugleich eine chronologische Ordnung, aus der einzig die Berliner Vorlesungen von 1827 herausfallen, die zeitlich in die Bonner Jahre gehören. Die Überlieferungsgeschichten der einzelnen Komplexe könnten unterschiedlicher nicht sein, jeder stellt seine eigenen Herausforderungen an den Herausgeber:

1. Die Jenaer Vorlesungen über Ästhetik wurden erstmals 1911 mit dem Titel „Aug. Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre mit erläuternden Bemerkungen von Karl Christian Friedrich Krause“ von August Wünsche herausgegeben. Die Ausgabe basiert auf einer Mitschrift von Georg Anton Friedrich Ast (1778–1841), der in Jena seit 1798 zunächst Theologie, dann auch Philologie und Philosophie studierte und später Professor für klassische Philologie an der Universität in Landshut war; sein „System der Kunstlehre oder Lehr- und Handbuch der Aesthetik zu Vorlesungen und zum Privatgebrauche entworfen“ (Leipzig 1805) übernimmt Schlegels Gliederung weitgehend und folgt ihm bis in einzelne Beispiele und Formulierungen hinein. Das Asts Mitschrift enthaltende Heft gelangte, so ist es Wünsches Vorwort zu entnehmen, in die Hände von Asts Kommilitonen Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832), der seit 1797 in Jena Philosophie und Mathematik studierte (Krauses Mitschrift von Fichtes „Wissenschaftslehre nova methodo“ aus demselben Semester 1798/99 wie die Schlegel-Mitschrift wurde erst 1980 in Krauses Dresdner Nachlass entdeckt und ediert). Krause versah Asts Mitschrift von Schlegels Vorlesung nicht nur mit einer Vielzahl von Korrekturen und „Entfehlerungen“, er fertigte auch eine „saubere Abschrift“ an, die er wiederum, zumindest im ersten Teil, mit Anmerkungen versah: im Haupttext in Klammern, darunter in Anmerkungen, die zunächst mit Zahlen, dann mit Kleinbuchstaben versehen sind. Sowohl die von Krause bearbeitete Mitschrift Asts als auch Krauses Abschrift sind verloren, Krauses Anteil ist daher nicht mehr eindeutig von der eigentlichen Mitschrift zu trennen. So dürfte die Einteilung in Paragraphen von Krause stammen, auch die bibliographischen Angaben, die oft fehlerhaft sind und beim Druck offenbar nicht erneut überprüft wurden, dürften von ihm herrühren.

2. Von den Berliner Vorlesungen (KAV I–III) haben sich in Schlegels Nachlass, der sich in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) befindet, die Handschriften erhalten. Sie sind in acht Bänden gebunden, außerdem exisitiert für die ersten beiden Zyklen eine Kopie von anderer Hand. Schlegel beschrieb stets nur eine, die rechte (bzw. linke) Hälfte der Blätter und hatte so genug Platz, um Anmerkungen, Ergänzungen und bibliographische Verweise anzubringen. Insgesamt ist die Handschrift sehr sauber, Schlegel hat die Vorlesungen fast vollständig ausformuliert, es gibt nur wenige Korrekturen und noch weniger Einfügungen am Rand. Allerdings ist Schlegels Handschrift unvollständig. Das gilt zum einen für die Passagen, die Schlegel einzeln veröffentlicht hat und dafür die entsprechenden Seiten aus dem Manuskript heraus direkt zum Drucker gegeben hat, das gilt auch für die Abschnitte, die Schlegel für seine Wiener Vorlesungen verwendet hat. Für die ersten beiden Teile lassen sich diese Verluste weitgehend anhand der (allerdings nicht immer sorgfältig angefertigten Kopie) ersetzen. Andere Abschnitte seiner Vorlesungen dürfte Schlegel allerdings auch nach Notizen gehalten haben, die er nicht, wie sonst, noch einmal ausgearbeitet hat. Bei den Notizen im dritten Teil, für den keine Kopie erhalten ist, ist die Lage besonders schwierig, da sich hier nicht immer entscheiden lässt, ob eine weitere Ausarbeitung vorhanden war und wenn ja, ob sie verloren ist. Dies gilt zumindest für den Schluss der Vorlesung, die mit den Passagen über Boccaccio und die Novelle abbricht, Notizen Schlegels führen die Literaturgeschichte über die Nachfolger des Boccaccios, die italienischen Ritterepen, die spanische und englische Poesie über die „unpoetische Epoche bey allen Nationen Europa’s“ dann bis zur deutschen Literatur zu Ende. Es ist kaum wahrscheinlich, dass Schlegel seine Vorlesungen anhand dieser knappen Notate beendet hat; über Shakespeare, dem er in den Wiener Vorlesungen immerhin 240 Druckseiten widmet, heißt es hier nur: „Shakspeare. Misverständnisse über ihn. Allgemeine Aufstellung des richtigeren.“

Die Berliner Vorlesungen (mit Ausnahme der über „Encyklopädie“) wurden erstmals von Jakob Minor veröffentlicht (3 Bde., Heilbronn 1884). Der Herausgeber von Schlegels „Sämmtlichen Werken“ (16 Bde., Leipzig 1846–1848), Eduard Böcking, hatte, so zumindest lässt es sich einigen Notizen in Schlegels Manuskripten entnehmen, vor, mit Hilfe von Karl Simrock zumindest einige Teile daraus zu publizieren, dann aber davon abgesehen. Minors Ausgabe ist lobenswert, philologisch sauber und sorgfältig. Er hat Schlegels Nachlass vor dem Zweiten Weltkrieg gesehen, in dem die Bestände der Dresdner Bibliothek aus einer Mischung aus Lösch- und Elbwasser im Keller des Japanischen Palais während des Bombeninfernos über Dresden gelegen haben. Die Manuskripte der Berliner Vorlesungen haben dabei noch Glück gehabt, sie sind nur fleckig und der Text ist nur an einigen Stellen unlesbar geworden, andere Teile von Schlegels Nachlass hat es schlimmer getroffen, einige sind so schwer geschädigt, dass sie, obwohl sie materiell noch vorhanden sind, doch als verloren gelten müssen, weil die Tinte auf dem Papier verschwunden ist. Ernst Behler folgt Minor bei seiner Texteinrichtung weitgehend, einige Passagen aus Schlegels Manuskript fügt er zusätzlich ein, dazu im Anhang die verschiedenen „Drucklegungen“ aus den Vorlesungen (aber leider nicht alle) sowie die Berliner Vorlesungen von 1827, die in die Bonner Zeit fallen. Der Kommentarband II/2 wird einige bisher ungedruckt gebliebene Notizen nachliefern, dazu Materialien aus dem Umfeld, etwa „Bemerkungen in A. W. Schlegels Vorlesungen zu Berlin 1802“ von Rahel Varnhagen, die erstmals vollständig ediert werden, ebenso einige Bemerkungen Johann Peter Eckermanns zu Schlegels Berliner Vorlesungen von 1827. Den Hauptteil des Bandes nimmt der Sachkommentar der Berliner Vorlesungen ein, die sehr erläuterungsbedürftig sind, weil sie reich an Zitaten, Anspielungen und Verweisen sind, besonders dicht gedrängt in den nur aus Notizen bestehenden Passagen.

3. Schlegels in Wien gehaltene Vorlesungen „Ueber dramatische Kunst und Litteratur“ scheinen, da sie in einem von Schlegel autorisierten, zudem vergleichsweise ordentlichen Druck vorliegen, textkritisch zunächst kein Problem zu sein. Allerdings gibt es darüber hinaus weitere Textzeugen, die in den Apparat integriert werden müssen: die Druckvorlage für die ersten sechs Vorlesungen, davon die ersten drei von Schlegels Hand, die zweite Auflage (Heidelberg 1817), die jedoch nur kleinere Korrekturen enthält, schließlich Schlegels Vorarbeiten zu einer dritten Auflage, die er vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen konnte. Diese bestehen aus einem durchschossenen Exemplar des ersten Bandes (in der zweiten Auflage) mit Korrekturen sowie einzelnen Streichungen und Ergänzungen. Dazu kommt ein umfängliches Konvolut an Arbeiten für einen Anhang zu der siebten Vorlesung (nach der Zählung der ersten Auflage), an dem Schlegel in seinen letzten Lebensjahren noch arbeitete. Die lange Abhandlung „Ueber die scenische Anordnung der griechischen Schauspiele“ ist nie fertig geworden, sie liegt in einer (fragmentarischen) Abschrift mit Schlegels Korrekturen vor, dazu kommen zahlreiche Vorarbeiten, Notizen und Exzerpte. Insgesamt sind die Wiener Vorlesungen weniger kommentarintensiv als die Berliner Vorlesungen, da sie Schlegel ohne seine Bibliothek erarbeiten musste, sich nur gelegentlich Bücher von seinen Wiener Bekannten leihen konnte. Sie sind essayistischer und weniger gelehrt gehalten, Schlegel zitiert meist frei und der größte Teil des Texts besteht aus der Besprechung von Form und Inhalt einzelner Dramen.

4. Von Schlegels Bonner Vorlesungen sind nur einige in Schlegels Hand erhalten und dies ausschließlich aus seinen frühen Jahren als Professor. Das liegt daran, dass er später die meisten seiner Vorlesungen wiederholt hat; außerdem hat er sich zweifellos mit der Zeit eine größere Routine erworben, sodass er seine Vorlesungen frei halten konnte, es mögen aber auch Manuskripte verloren gegangen sein. Nur ein Teil von Schlegels Bonner Vorlesungen ist bisher bekannt geworden: „Geschichte der Deutschen Sprache und Poesie“, gehalten erstmals 1818/19, veröffentlicht 1913 von Josef Körner; „Vorlesungen über das akademische Studium“, gehalten erstmals 1819/20, veröffentlicht 1971 von Frank Jolles; „Antiquitates Etruscae“, gehalten erstmals 1822/23, veröffentlicht von Eduard Böcking in den lateinischen „Opuscula“ von 1848; „Über die neuere Geschichte der deutschen Litteratur“ in der Mitschrift von George Toynbee, veröffentlicht als „A. W. Schlegel’s Lectures on German Literature from Gottsched to Goethe given at the University of Bonn” von 1833, veröffentlicht in Bisset Hawkins: „Germany […]“, London 1838, S. 78–146. In Schlegels Handschrift haben sich im Dresdner Nachlass zudem folgende bisher unveröffentlichte Vorlesungen erhalten: „Theorie und Geschichte der bildenden Künste“, erstmals gehalten im Sommersemester 1819; „Geschichte der Griechen und Römer“, gehalten im Wintersemester 1822/23; „Einleitung in die alte Weltgeschichte“, erstmals gehalten im Sommersemester 1823/24. Dieser Reihe lässt sich aus den zahlreichen erhaltenen Mitschriften eine von Schlegels Hand nicht überlieferte Vorlesung hinzufügen: die Vorlesung über das „Lied der Nibelungen“ (Sommersemester 1820) in der Mitschrift Karl Simrocks und zweier seiner Kommilitonen.

Die vollständige Edition und Kommentierung sämtlicher Bonner Vorlesungen – sowohl nach Schlegels Manuskripten als auch nach den erhaltenen Mitschriften seiner Zuhörer – in den Bänden V und VI der KAV stellen die zukünftige Erforschung des ‚späten’ Schlegel auf eine neue Grundlage. In den Bonner Vorlesungen verarbeitete Schlegel die Ergebnisse seiner Forschungen zur Etymologie, zur vorrömischen Geschichte, zur Literatur, Sprache und Kunst des europäischen Mittelalters, die er während seiner Jahre mit Madame de Staël betrieben hatte; gleichzeitig lassen sich die Bonner Vorlesungen sowohl als eine Fortführung der frühromantischen Ideen lesen – die „Fragmente“ und „Notizen“ im „Athenäum“ haben auch hier noch ihre Spuren hinterlassen –, aber auch als eine Auseinandersetzung mit den gelehrten Diskursen seiner Zeit.

III. … und digital

Die derzeit entstehende kritische Edition der Vorlesungen August Wilhelm Schlegels beinhaltet eine digitale Komponente, wie sie auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihren Richtlinien vorsieht, um in Deutschland und weltweit die Ergebnisse der geförderten Arbeit nachhaltig zugänglich zu machen. Diese digitale Komponente wird in enger Kooperation mit dem Trierer Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften erarbeitet, das auch andere vergleichbare Projekte unterstützt, etwa die digitale historisch-kritische Edition der Werke Arthur Schnitzlers (Bergische Universität Wuppertal), die Nachlasserschließung, textgenetische Untersuchung, Digitalisierung und Edition der Materialien von Wolfgang Koeppens „Jugend“ (Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald), den Abschluss der Kritischen Friedrich Schlegel-Ausgabe (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und die Digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels (Philipps-Universität Marburg, SLUB Dresden). Die verschiedenen Kooperationspartner können von den sich dabei ergebenden Synergieeffekten profitieren, indem etwa Redaktionssysteme zur Textaufbereitung und Kommentierung übernommen bzw. angepasst werden können. Das in Trier entwickelte, stetig erweiterte und ausgebaute internetgestützte „Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem“ (FuD) stellt ein Arbeits-, Publikations- und Informationssystem dar, mit dem der gesamte Arbeitsprozess von der Inventarisierung und Erfassung der Daten über ihre Erschließung und Analyse bis hin zur redaktionellen Bearbeitung, Publikation und Archivierung der Forschungsergebnisse unterstützt wird.

Für die Arbeit an Schlegels Vorlesungen bedeutet das konkret, dass die Bände I–II zunächst retrodigitalisiert werden müssen, während die Bände IV–VI born digital entstehen. Mit FuD können bei der Texterfassung bzw. Transkription der Handschriften und der vorhandenen Drucke bereits Personen, Orte, Sachen, Werke und Quellen ausgezeichnet werden, um sie am Ende in Registern geordnet anzeigen zu können. Auch ein textkritischer Apparat und Sachkommentarlemmata können durch Markierung der entsprechenden Stellen (wobei Mehrfachauszeichnungen möglich sind) leicht angelegt werden; auch diese können wiederum indexiert werden oder mit Verweisen auf Parallelstellen im selben Text oder in den anderen Vorlesungen versehen werden.

Das Ziel ist es, die Resultate mit entsprechender Frist (moving wall) nach der Buchveröffentlichung auf einem Schlegel gewidmeten Internet-Portal zu präsentieren, das auch die digitale Briefedition Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels enthalten wird (erste Ergebnisse davon werden hier präsentiert). Der Vergleich der Handschrift mit der Transkription wird dabei durch Nebeneinanderstellung leicht möglich sein, die einzelnen Indexeinträge sowie die Sachkommentarlemmata können durch mouse over aufgerufen werden, durch das Aufrufen der textkritischen Lemmata können frühere bzw. spätere Textfassungen angezeigt werden. Nicht nur die einzelnen Texte, sondern auch alle Apparate und Anhänge und die ganze Ausgabe (bzw. die ganze Online-Präsentation) können bequem durchsucht werden.

Die Darstellungsmöglichkeiten der digitalen Komponente sind sicherlich ein großer Vorzug gegenüber dem Buch (es sei nicht verschwiegen, dass es auch Nachteile gibt). Dass es darüber hinaus auch klare Vorteile für die konkrete Arbeit, etwa bei der Textkritik, gibt, sei abschließend an einem Beispiel illustriert: den Randnoten in Schlegels Manuskripten der Bonner Vorlesungen.

Schlegel hielt zahlreiche seiner Vorlesungen mehrmals auf der Grundlage des Textes, den er für das erste Mal angefertigt hatte. Da er sich jeweils nur Stichworte notiert hatte, war die Länge seines Vortrags variabel, je nachdem wie ausführlich er seine Notate mündlich ausführte. Um sich in seinem Manuskript weiterhin zurechtzufinden, notierte er dabei neben den ursprünglichen deutschen Überschriften für die einzelnen Vorlesungen eines Semesters (z.B. „Erste Vorlesung“) auch eine (bzw. mehrere) lateinische Überschriften (z.B. „Praelectio I“). Da Schlegel seine Blätter stets nur halbseitig beschriftete, hatte er auf der freigebliebenen Seite genügend Platz, um die verschiedenen Überschriften einzufügen. Er nutzte diesen Platz aber vor allem, um Ergänzungen oder bibliographische Hinweise zu notieren. Aus diesen Randnoten ergeben sich für den Herausgeber zwei Probleme: die Datierung der Randnoten und ihr Ort im Text. Eine Datierung der einzelnen Randnotizen ist in der Regel nicht möglich, allenfalls lassen sich nach Tinte und Schrift solche, die Schlegel wahrscheinlich noch während des Verfassens des Textes geschrieben hat, von anderen, andersartigen und wohl späteren unterscheiden. Ob diese jedoch noch vor dem ersten Vortrag oder vor, bei oder nach weiteren Vorträgen hinzugefügt wurden, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen.

Schlegel hat einen Teil seiner Randnoten auf verschiedene Weisen bezeichnet: mit Einfügungszeichen ╒ oder mit Fußnotenzeichen *). Beide Male lässt sich die Randnote als Ergänzung zum Haupttext bzw. als Fußnote dazu meist eindeutig zuordnen, allerdings verwendet Schlegel die Einfügungszeichen nicht konsequent, wobei sich auch die Frage ergibt, wie er denn die Fußnoten in der Vorlesung wiedergegeben hat. Die meisten Randnoten sind jedoch gar nicht näher bezeichnet. Einige davon lassen sich einem Ort zuordnen: In seiner Vorlesung „Einleitung in die allgemeine Weltgeschichte“ (Mscr. Dresd. e. 90, XXVIII) heißt es über Diodors Unterscheidung in eine ältere und eine neuere Zeit: „Aber er macht d. Trojanischen Krieg z. Scheidepunkte. Dadurch hat er d. Neueren ungemein irre geführt.“ Am Rand befindet sich auf der Höhe des zweiten Satzes folgende Note: „Diodor wurde selbst irre geführt durch d. Mythographen, u dann durch d. späteren gelehrten Chronographen.“ Eine Bemerkung, die sich ohne weiteres in den Haupttext einbauen lässt – wenn denn gewährleistet wäre, dass Sie auch zeitlich in den Haupttext gehört. Der Großteil dieser Noten lässt sich jedoch nicht eindeutig einer Textstelle zuordnen.

In derselben Vorlesung findet sich etwa folgender Absatz: „D. Sage hat aber auch e. historische Gültigkeit. Priesterliche Sendungen frommer u gesetzlicher Völker aus verwilderten Horden. Auf diesem Wege ist oft d. Civilisation mit getheilt worden. Überlieferungen d. Americaner.“ Ungefähr in der Mitte des Absatzes am Rand steht folgende Note: „Fabel v. Prometheus. Erhabne Schilderung b. Aeschylus v. d. Versunkenheit u d. Elende d. Mschen. Prometheus bringt ihnen d. Feuer u lehrt sie Grundlagen aller Kst aber sogleich geschieht dies nach d. Siege d. jüngeren Götter über d. Titanen. Also nach einer großen Naturkatastrophe. Also vereinbar mit einem früheren goldnen Zeitalter.“ Der inhaltliche Zusammenhang zwischen Haupttext und Note ist offensichtlich, dennoch kann man der Note keinen Ort im Haupttext zuweisen. Setzte man sie an die Stelle, auf deren Höhe sie steht (also nach „Horden.“, vor „Auf diesem Wege“), risse man den Zusammenhang zwischen den beiden Sätzen auseinander. Auch an die anderen möglichen Stellen passen sie inhaltlich nicht richtig. Der Herausgeber kann es sich nun einerseits leicht machen: Orientiert er sich an der frühesten Fassung eines von ihm herausgegebenen Textes, wird er alle Randnoten in den Apparat verfrachten (wo sie dann für den Großteil der Leser verloren sind), solange er nicht nachweisen kann, dass die Noten nicht beim Verfassen des Textes (oder vielleicht noch in zeitlicher Nachbarschaft des Haltens der Vorlesung) hinzugefügt wurden; orientiert er sich an der letzten Fassung (letzte Hand), wird er sie alle aufnehmen müssen und nimmt in Kauf, dass es sich um einen Text handelt, den es so vielleicht nie gegeben hat, etwa weil man nicht wissen kann, ob und wie Schlegel selbst die Noten in seine Vorlesung aufgenommen hat. So wie er auf dem Papier steht, stellt der Text von Schlegels späten Vorlesungen einen Denk- und Arbeitsprozess dar, der sich auf die beiden skizzierten Weisen nicht wiedergeben lässt. Will man Schlegels Handschrift nicht verschwenderisch eins zu eins im Druck abbilden – also mit der leeren Seitenhälfte für die Noten –, liefert FuD die beste Möglichkeit einer Darstellung, indem sich hier der Text der Randnoten an der jeweiligen Stelle beliebig an- und ausblenden lässt. Der Leser kann dann selbst entscheiden, welchen Status er der jeweiligen Notiz zuschreiben will.

Es mag sich nicht jeder mit Online-Editionen anfreunden wollen, zumal das Problem der dauerhaften Verfügbarkeit und Erhaltung der Daten noch immer nicht umfassend gelöst ist. Eine parallele Buch- und Online-Edition bietet jedoch sowohl für den Herausgeber als auch für den Leser (bzw. den „User“) zahlreiche Vorteile. Dass von den Schlegel-Editionen und anderen, vergleichbaren Unternehmungen auch die Forschung profitieren wird, braucht wohl nicht eigens hinzugefügt werden.