Von der Logik zur Logistik des Widerstands

Zu Judith Butlers und Athena Athanasious „Die Macht der Enteigneten“

Von Antje GéraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Géra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist wohl ein Gemeinplatz, dass in Zeiten, in denen sich die Krisenhaftigkeit der Ökonomie auch als gesellschaftliche Krise zeigt, etwas mehr und etwas lauter darüber nachgedacht wird, ob es denn nicht möglich sei, das nun alles ganz – oder wenigstens ein bisschen – anders zu machen. Es ist ebenso wohl ein Gemeinplatz, dass zwischen diesem „Alles“, „Ganz“ und „ein Bisschen“ Welten liegen; und dass es – trotz all der Buchtitel, die uns appellierend zurufen: „Empört-Euch!“, „Erhebt-Euch!“, „Wehrt-Euch!“ und „Organisiert-Euch!“ – nicht Sache der Theorie allein sein kann, darüber zu befinden, wie das nun mit der gesellschaftlichen Veränderung anzugehen sei.

Theorie, ist sie kritische Praxis des Nachdenkens, hat sich stets im Handgemenge wirklicher Auseinandersetzungen zu bewähren. Eine schöne Versinnbildlichung dessen gaben die im Zuge der Proteste gegen die „Sparmaßnahmen“ im Bildungsbereich sich international formierenden „book blocs“, in denen Demonstrantinnen überlebensgroße Buchtitel als Schilder und Schilde vor sich her trugen. Nicht nur Marx hätte sich über jenes fotografische Bild eines Londoner Polizisten ins Fäustchen gelacht, der mit einem Knüppel auf das Buchcover von Jacques Derridas Marx’ Gespenster einschlägt. Es ist mittlerweile ikonisch geworden. In einem sehr buchstäblichen Handgemenge zeigt sich hier das Marx’sche Gespenst in doppeltem Sinne: Weil es als wirksam aufgefasst wird, wird ihm gewaltsam begegnet, und in einem singulären Gewaltakt zeigt sich jene strukturelle Gewalt, die wider ein Marx’sches Erbe des eingreifenden Reflektierens gesellschaftlicher Entwicklung auf dem Erhalt des Bestehenden beharrt.

Doch auch Derrida dürfte an dieser Situation seinen Gefallen gefunden haben: Ist sie doch geradezu eine Aufführung dessen, worum es ihm mit seinen Gespenster-Reflexionen zu tun war, nämlich wie wir die Traditionalität und Aktualität eines Marx’schen Erbes zu begreifen haben. Denn um sein „book bloc“-Cover auf zwei Beinen gruppiert sich das vielfältige Ensemble eines weiten Spektrums literarischer, philosophischer, ästhetischer Werke, an deren Auswahl die Auseinandersetzungen um eine angemessene Konzeption von Widerstand und Widerständigkeit ablesbar sind. Sinnfällig ist, dass diese Auswahl keineswegs dem Kanon einer Revolutionstheorie entspricht, auf die sich eine klassische Arbeiterbewegung noch berufen konnte. Auch finden sich in ihr keine expliziten Abhandlungen darüber, was denn nun eigentlich Widerstand sei (geschweige denn handlungsweisende Straßenpostillen) – noch lässt sich diese Zusammenstellung ein für allemal systematisieren oder begrenzen. Jederzeit könnte ihr ein neues Buch zulaufen, um seinen Beitrag zu leisten in und zu einer Auseinandersetzung darum, wie wir nun im Angesicht von gesellschaftlichem Wandel und Krisenerscheinungen gemeinsam auf ein Neues darüber nachdenken, was „Widerstand“ bedeuten könnte.

Noch lebende Philosophinnen haben den Vorteil, sich mitsamt ihren Büchern selbst ins Handgemenge begeben zu können, um den Aktivistinnen begriffliche Schützenhilfe zu leisten. Die aktuellen Widerstandsformen scheinen dabei gerade Denkerinnen mit sogenanntem „poststrukturalistischen“ Hintergrund feuchte Augen zu bescheren. Vor dem Hintergrund der griechischen Proteste gegen die austeritätspolitischen Sparmaßnahmen, inspiriert von den Aufständen des Arabischen Frühlings ruft Costas Douzinas in seiner jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen Publikation Philosophie und Widerstand in der Krise das „Zeitalter des Widerstands“ aus, die an der Athener Panteion Universität lehrende Athena Athanasiou veröffentlicht 2012 einen Sammelband zu Krise als Ausnahmezustand. Kritik und Widerstand und bildet eine Denkkooperative mit Judith Butler, um dieses „Zeitalter“ in einer „Topologie eines auf radikalen Wandel zielenden Handelns zu kartographieren“.

Dispossession: The Performative in the Political ist eines der Ergebnisse dieser Zusammenarbeit, dessen zeitgleicher Verbreitung im deutsch- und französischsprachigen Raum sich der Diaphanes Verlag angenommen hat. Thomas Atzerts deutsche Übertragung trägt den Titel Die Macht der Enteigneten. In dieser Subjektivierung kommt er um einiges kämpferischer daher, als ob es darum ginge, hierzulande das Niveau einer Kampfmoral zu heben, über deren kümmerliche Verfasstheit sich nicht erst Marx sarkastisch ausließ, als er anmerkte, die deutschen Zustände seien „unter aller Kritik“. Was aber unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen in eine Reflexion von Kritik und eine kritische Reflexion von Widerstand begrifflich zu investieren ist, dies zu entfalten haben sich Athanasiou und Butler vorgenommen.

Das ist alles andere als ein bescheidener Anspruch, auch wenn das dialogische Format des Gesprächsbandes eher auf die Intention eines vorsichtigen Andenkens des Problemfeldes zu verweisen scheint. Die große Stärke des Buches ist der unermüdliche Aufweis, dass unter diesem Anspruch eine Reflexion von „Widerstand“ nicht zu haben ist. Diese Stärke, oder anders formuliert: der Gewinn dieser Lektüre zeigt sich der Leserin jedoch vor allem, wenn sie sich an die aufgeworfenen Fragen hält – und auch den Antworten einen fragenden und problemanzeigenden Charakter zugesteht. Ohnehin werden hier keine Antworten auf die Frage „Was ist Widerstand?“ in der Form „Widerstand ist…“ gegeben. Vielmehr wird über den Weg einer Erörterung der vielschichtigen Bedeutungsmomente des Begriffes „Enteignung“ aufgefächert, wie Widerstand als eine Form kritischen politischen Handelns so zu reflektieren ist, dass sich eine Perspektive auf die Momente zur Bestimmung von Widerständigkeit unterscheidet von solchen Modellierungen widerständiger Subjektivität, politischer Handlungsmacht und Zielen des Widerstandes, denen Altlasten liberaler und neoliberaler Konzeptualisierungen anhaften.

Das Gravitationszentrum dieser Betrachtungen in die vielfältigen Facetten des Begriffes „Enteignung“ zu legen, hat zunächst aufschließende Kraft, da dies sowohl den Anschluss an aktuelle Debatten um Zielsetzungen kritisch-politischen Handelns ermöglicht, als auch deren kritische Rückbindung an das historische Gewordensein bestimmter Auffassungen politischen Handelns. So begleitet die aktuellen Auseinandersetzungen um Prekarisierung und Privatisierung ein Wiederaufleben der Debatten um „Commons“, also um Gemeineigentum und gesellschaftliche Güter. Hier ist es durchaus gängig, den in den momentanen polit-ökonomischen Entwicklungen sich vollziehenden Enteignungsprozessen mit Forderungen nach (Wieder-)Aneignung zu begegnen. Diese Forderungen nach Aneignung von Mitteln einer selbstbestimmten Lebensführung, gesellschaftlicher Güter in Form materialer Ressourcen und in Form von Bildung und Zeit, Aneignung all dessen zum Zweck der Sicherung eigener und gesamtgesellschaftlicher Handlungsspielräume lassen sich mit etwas Abstraktionsvermögen als Bestrebungen gemäß der Rechte auf Leben, Eigentum und Freiheit ausweisen, wie sie schon zu Beginn eines Denkens von Widerstand in politischen Konzeptionen der Neuzeit formuliert wurden.

Aber was unterscheidet nun diese Bezugspunkte rezenter Aneignungsforderungen von einer Tradition liberaler Normen des Politischen, die sich scheinbar analog durch die „konstitutive Verbindung zwischen Leben, Eigentum und Freiheit“ auszeichnen? Der Unterschied, so könnte man Athanasiou und Butler paraphrasieren, muss darin liegen, dass die Momente des Lebens und der Freiheit nicht dem Moment des Eigentums subsumiert werden – in Formulierung Athanasious: dass das Sein „nicht durch Haben definiert“ werde. Eine politische Praxis, die sich als kritische und widerständige versteht, muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie sich kritisch gegenüber einer „liberalen Logik des Eigentums“ in Position bringt oder diese auch noch in ihren Aufhebungsbestrebungen derselben reproduziert.

Hierzu müssen wir, so die Autorinnen, „radikal die Bedingungen infrage stellen, die in unserer Gegenwart das Politische bestimmen“. Wenn sie herausstellen, dass das Politische von Eigentumsverhältnissen und vom Ökonomischen bestimmt ist, bezieht sich das explizit sowohl auf die Defizite (neo-)liberaler und linker Ideologien, und, wie es scheint: maßgeblich auf Ideologien (Gedankenformen, im Sprachspiel der Autorinnen: „das politische Imaginäre“, Diskursformen). Es bezieht sich nicht auf die Darlegung, inwiefern dieser ideologische Primat des Ökonomischen über das Politische im Zusammenhang mit den die Bedingungen kapitalistischer (Re-)Produktion gestaltenden materialen Praxen stehen. Diese nicht nur methodische, sondern auch theoriepolitische Entscheidung kann sich als Hindernis erweisen für eine Lektüre, die den Ausführungen Butlers und Athanasious eine begrifflich-systematische Ausrichtung geben möchte. Es sind „Machtformen“, „Logiken“ und „normative Kräfte“, die „das Politische“, „das Menschliche“, „Möglichkeitsbedingungen des Lebens und […] Menschseins“ „entziehen“, „arrangieren“, „konstituieren“, „produzieren“.

Um solche Formulierungsketten nicht einem Idealismus und Konstruktivismus zuzuschlagen, bedürfte es einer Reflexion der vermittelnden Momente dessen, wie und wodurch diese Machtformen, Logiken, normative Kräfte auf das Politische wirken. Auch müsste thematisiert werden, wie und innerhalb welcher Verhältnismomente sie ebenso wie das Politische als vermittelnde und mediale wirken. Nur dann könnte ausgewiesen werden, inwiefern Butlers Aussage nicht trivial ist, dass „koloniale signierte, rassisierte und sexualisierte Formen der Macht, wie sie den Ökonomien des Eigentums (und des Eigentlichen), den Subjekten und Orten eingeschrieben sind, […] inkommensurable Onto-Epistemologien von Menschlichkeiten und Unmenschlichkeiten, von Besitz und Enteignung, Lebensperspektiven und Perspektivlosigkeit [produzieren]“. Unterlässt man hier eine Reflexion der Vermitteltheit von Macht und Eigentum, von Inklusions- und Exklusionsdynamiken als materiale wie materielle und verlässt man nicht das von den Autorinnen präferierte Darstellungsprinzip der ungewichtenden, aufzählenden Aneinanderreihung, so lässt sich kaum explizieren, inwiefern Butler hier nicht lediglich formuliert, dass Ideologien Ideologien produzieren.

Wenn Butler konstatiert, dass es „Eigentumsbeziehungen“ sind, die auch noch in unseren kritischen Bestrebungen „unsere moralischen Vorstellungen des Personseins, von Selbstzugehörigkeit, Handlungsmacht und Identität strukturieren und kontrollieren“, dann wäre doch hilfreich zu verstehen, warum und wodurch das so ist. Für ein Verständnis dessen ist es keineswegs hinreichend, anzuerkennen, dass „die Begriffe und Epistemologien, auf die wir zurückgreifen, um die gegenwärtige Ordnung der Dinge zu dekonstruieren, notwendigerweise nicht außerhalb dieser Ordnung“ stehen, sondern in diese „eingelassen“ sind.

Eine Klärung, was es nun mit diesem „Notwendigerweise“ auf sich hat, wäre der Weg, den eine Kritik der politischen Ökonomie nähme, um die Problemlage des Verhältnisses von kapitalistischer Produktionsweise, „Eigentumsbeziehungen“, Enteignung, Ideologie und kritischer Reflexion zu erörtern. Das theoretische Missverständnis der Autorinnen, in ihrer Kritik ökonomistischer Traditionen einer Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie politische Ökonomie überhaupt mit ökonomistischer Politik gleichzusetzen, macht ihnen diesen Weg nicht gangbar. Wenn die Antwort auf die wichtige Frage, „wie wir der neoliberalen Logik und Logistik Widerstand entgegensetzen und sie bekämpfen [können], ohne unsere Politik ökonomistisch zu verkürzen“ darin besteht, „in der zeitgenössischen Politik gerade […] nicht-ökonomistische und unökonomische Perspektiven zu entwerfen und anzubieten“, fällt sie zwar zunächst im Kontext einer Kritik an Positionen, die ausblenden, dass „an der Ökonomie nichts rein ökonomisch“ ist. Sie verbleibt dann aber selbst in der Ausblendung dessen, was am „Nicht-Ökonomischen“ ökonomisch ist.

In großzügiger Deutung könnten wir jedoch sagen, es sei durchaus ein spannender Zug Butlers und Athanasious, gerade das Problematische einer ökonomiezentrierten und eigentumslogischen Konzeption des Politischen über eine Erörterung von „Enteignung“ sichtbar zu machen, die sich nicht auf materiale und ökonomische Zusammenhänge beschränkt, um so eine Kritik an (einem Denken von) Eigentumsverhältnissen nicht ökonomistisch zu vollziehen. Mittels einer Darlegung einer „politischen, ethischen und affektiven Ökonomie der Enteignung“ können so Aspekte dargestellt werden, die Prozessen von „Enteignung“ auch positive und produktive Effekte zugestehen, um die Einseitigkeit einer Perspektive aufzuheben, die lediglich ihre verunmöglichenden Tendenzen betont.

Der Clou ihrer „Theorie politischer Performativität, die Enteignung“ in vielfältigen Ausgestaltungen „Rechnung trüge“ könnte darin liegen, Verschiebungen vorzunehmen an bestimmten (traditionellen, „maskulinistischen“) Auffassungen dessen, was ein widerständiges Subjekt sei, wie ein politisch-widerständiger Vollzug und Kollektivität widerständigen Handelns zu modellieren seien. Statt von „Vorstellungen eines einheitlichen“ und „souveränen“ Subjekts sollten wir von einem „enteigneten Subjekt ausgehen, das die differenzierten sozialen Bindungen affirmiert, die es konstituieren und denen es verpflichtet ist“; ein „Subjekt“, das seines „Selbst kraft der Begegnung mit Alterität“ enteignet werden kann. Dieses Moment von „Enteignung“ verstehen Butler und Athanasiou dispositional – sie nutzen es, um auf prozessuale Aspekte des Politischen zu verweisen: Es kann als Ermöglichungsgrund politisch-widerständiger Vollzüge reflektiert werden, wenn wir „Enteignet-Werden“ im Zusammenhang mit einer „Empfänglichkeit“ betrachten, die uns für Erfahrungen eines Anderen „öffnet“.

Die Autorinnen knüpfen hier – wenngleich eher referentiell denn in systematischer Weiterführung – an Überlegungen Emanuel Levinas’ und Jacques Derridas an, wie wir Vollzüge ausgehend von einem sich in ein Verhältnis zum Anderen Setzen erst angemessen als widerständige thematisieren können. Es wäre durchaus lohnend, im Ausgang des hier von den Autorinnen lediglich Angedachten die Anschlussfähigkeit dieser Überlegungen zu einer Kritik vergemeinschaftender und identitärer Politiken auszuweisen und systematisch zu erörtern, inwiefern diese Dimension von „Enteignung als heteronome Bedingung für Autonomie“ geeignet sein könnte, die Verwiesenheit von Urteilen über die Angemessenheit von Widerständen auf Reflexionen zu Freiheit und Emanzipation begrifflich nachzuvollziehen. Auch die Skizzierungen, wie im Ausgang eines Denkens von „Empfänglichkeit“ der Begriff der „Responsibilisierung“ gegen eine „liberale Anerkennungslogik“ und „Verantwortlichkeitslogik“ stark gemacht werden müsste, versprechen interessante Anknüpfungspunkte für eine Kritik an unterkomplex modellierten Anerkennungstheoremen.

An dieses „subjektkonstituierende“ und „handlungsermöglichende“ Moment von „Enteignung“ ist nach Butler und Athanasiou eine „zweite Bedeutung von Enteignung […] gebunden“: Enteignung im Sinne von „Zwang und Entzug“, von „Prozessen und Ideologien, die Personen etwas nehmen“. Das Verhältnis dieser beiden Momente von Enteignung fasst Butler folgendermaßen: „Nur weil wir schon Enteignete sind, können wir enteignet werden. Unsere Abhängigkeit voneinander begründet unsere Verwundbarkeit durch gesellschaftliche Formen des Entzugs.“ Hat das nicht einen unangenehmen Odeur einer schlechten Lesart von Arnold Gehlens Mängelwesen-These? Bedürfte es, um von dem Moment einer Enteignung durch „Alterität“ zur These einer „Abhängigkeit voneinander“ zu kommen und ein „Immer-schon-enteignet-Sein“ zu konstatieren, nicht weiterer Überlegungen als jene eines „grundsätzlichen Prekärseins allen menschlichen Lebens“? Glücklicherweise ist das einer der seltenen Momente, in denen Athanasiou den Strudel der von ihr erzeugten Wiederholungsschleifen verlässt und ihr Aussagen Butlers unbehaglich werden. Sie besteht darauf, dass es in ihrer „Intervention um den Versuch“ ginge, „das „Immer-schon-enteignet-Sein“ zu denaturalisieren und zu repolitisieren, um politische Verantwortlichkeit für gesellschaftliche Formen des Entzugs und der Enteignung zu benennen.“

Bedauerlicherweise sind solche Formulierungen und Argumentationsformen aber keine Ausnahme, sondern ausnehmende Besonderheit der Erörterungen Butlers und Athanasious. Ähnlich Scheinendes wird von ihnen als kategorial Gleiches behandelt, verschiedene Grade von Abstraktion werden miteinander verschliffen und Verhältnisse nicht in Reflexionen der Verhältnisbestimmungen dargeboten, sondern als aufzählendes Nebeneinander der Verhältnismomente. Für Leserinnen, die Freude an Begriffs-Sudokus (Christoph Hubig) haben, ist das womöglich unproblematisch. Für ein Verstehen und Begreifen aber erfordert das erhebliche, in eine rekonstruierende Lektüre zu investierende Anstrengungen und für ein Aufnehmen dieser Anstrengungen die Ausblendung des Zweifels, ob jene Mängel vielleicht nicht nur didaktischer Natur sind, sondern sich einer grundsätzlich zu problematisierenden Form dieses Philosophierens verdanken.

Eine weitere Anstrengung, die von der Leserin zu erbringen wäre, ist die Fortführung der unter Abstraktion vollzogenen Reflexionen der Autorinnen, damit der Gehalt derselben eben gerade nicht im schlecht Abstrakten verbleibt. Um den Gewinn der Überlegungen zu einem nicht ökonomistisch verstandenen, aber „radikal kritisch“ ausgerichteten Politischen einzuholen, müsste die Abstraktion der ökonomischen Dimensionen von „Enteignung“ und „Eigentum“ in Butlers und Athanasious Reflexion der „politischen, ethischen und affektiven“ Dimensionen aufgehoben werden. Es wäre darzulegen, wie sie zueinander im Verhältnis stehen, wie in alltäglichen, auch in materialen gesellschaftlichen Vollzügen eigentumslogische Verhältnisse wirken, produziert werden, sich (re-)produzieren und welche Rolle hierbei etwa der Rechtsform Eigentum zukommt. Hierzu müsste jedoch terminologisch differenziert werden zwischen Besitz, Eigentum, Privateigentum, Eigentümlichkeit, Eigentlichkeit, Eigenschaft und Haben, deren kategoriale Verschiedenheit im Wortgebrauch der Autorinnen verschliffen wird, weil es sich ja in allen Fällen irgendwie um etwas zu handeln scheint, das in „eigentumslogischen“ Relationen steht.

Man könnte allerdings auch einwendend fragen, welcher Grad an begrifflicher, terminologischer, reflexiver Systematik dem Format eines Gesprächsbandes abzuverlangen ist. Auf den ersten Blick erscheint dieses Format als eine kluge Wahl, verspricht es doch eine dialogische, auch widerstreitende Auseinandersetzung und eine größere Zugänglichkeit für jene, die sich nicht unnötig am Sprachduktus akademischer Schriftlichkeit aufreiben wollen oder einmal ohne umfängliche Vorkenntnisse etwas in das Denken Butlers und Athanasious hineinblinzeln mögen. Wer aber erwartet, hier werde nun endlich einmal etwas auch ohne das Gerüst eines voraussetzungsreichen, „poststrukturalistischer“ Theoriebildung entlehnten Vokabulars auf den Punkt gebracht, dürfte enttäuscht werden. Auch zur Einführung in diese Theorie(n) taugt es nur Leserinnen, die selbsttätig jene komplexen Sachverhalte einzuholen wissen, auf die mithilfe von Begrifflichkeiten wie „Performativität“, „Intelligibilität“, „Materialisierung“ referiert wird.

Was hier geboten wird, ist alles andere als ein lockerer Plausch zur Teestunde, aber auch kein mit hochgekrempelten Ärmeln ausgetragenes Streitgespräch – leider. Den didaktischen Gewinn einer Konfrontation unterschiedlicher Sichtweisen, Herangehensweisen oder verschiedener Fragen an einen Gegenstand haben Butler und Athanasiou verschenkt. Dies mag daran liegen, dass sie ihr Denken an ähnlichen theoretischen Ansätzen aus dem Umfeld feministischer, psychoanalytischer, postkolonialer Theorien geschult haben, an Autorinnen, deren gemeinsame Perspektive sie selbst als „poststrukturalistische Subjektkritik“ umreißen. Es mag aber auch daran liegen, dass Athanasiou Butler nicht nur sehr gründlich gelesen, sondern, so scheint es, obendrein nahezu umfassend affirmiert hat, so dass ihre Fragen im Gespräch nicht auf ein Hinterfragen zielen, sondern zumeist eher die Funktion rhetorischen Fragens haben, um Butler die Bälle zur Darlegung genau dessen zuzuspielen, was ohnehin mit den jeweiligen Fragen schon ausgeführt wurde.

So bleibt Butler oftmals nur noch die Position der Kommentatorin, in der ihr in schönen Momenten des „Dialoges“ etwas unwohl wird. „Wer war die Person, die solche Positionen vertrat?“, wendet sie einmal ein, nachdem Athanasiou umfänglich und getreu Butlers Thesen aus Körper von Gewicht referiert hat. Liegt das Erscheinen dieser Publikation doch nahezu zwanzig Jahre zurück, und gab es doch seither zahlreiche Auseinandersetzungen mit deren Kernthesen, so dass Butler nicht umhin kann, hier Verschiebungen ihrer eigenen damaligen Position wenigstens anzudeuten. Wenn Butler sich von dem Bild ihres eigenen Denkens irritiert zeigt, das sich in Athanasious „Butlerismen“ spiegelt, zeitigt Athanasious Vorgehen unfreiwillig doch ganz produktive Effekte, die der Leserin eine performative Aufführung dessen geben, was hier theoretisch-begrifflich mit der Abkehr von Zuschreibungsprozessen einer eigentumslogisch (fest-)gefassten Identität vollzogen werden soll.

Wer auf der Suche nach schnellen, programmatischen Antworten ist, dürfte von den Erörterungen der Autorinnen gewiss enttäuscht werden. So erging es nach dem englischsprachigen Erscheinen von Dispossession nicht wenigen Leserinnen: Man hätte sich konkrete Analysen aktueller Kämpfe erhofft, das Ganze sei doch viel zu abstrakt, irgendwie wisse man nach der Lektüre immer noch nicht so richtig, was es denn jetzt mit dieser „Enteignung“ auf sich habe und wie nun dagegen widerständig vorgegangen werden könnte. Wenn sich hier eine Erwartungshaltung artikuliert, die Adorno in ihrem Begehren nach unmittelbarer Praxis als praktizistisch charakterisierte, ist diese Enttäuschung den Stärken, nicht den Schwächen der Publikation zuzuschlagen. In einem gewissen Sinne lässt sich im Anspruch von Butlers und Athanasious Ausführungen ein Nachklingen vernehmen von Adornos Apell an die „Kraft des Widerstands, die im Gedanken selbst steckt“, sofern er nicht sofort für Zwecke zugerüstet werde.

Leider aber auch nur „in einem gewissen Sinne“. Denn selbst wenn es den Leserinnen zu empfehlen sein mag, das von Butler und Athanasiou Verhandelte für weiterführende Reflexionen offenzuhalten, so gibt es doch zahlreiche Gedankengänge, die von ihren Darlegungen selbst derartig apodiktisch und einseitig verschlossen werden, dass sich eine gewisse Großzügigkeit der Lektüre der Gefahr eines Abhandenkommens kritischen Mitdenkens aussetzte – was politische Konsequenzen zeitigte. Denn es ist keineswegs so, dass nicht versucht würde, hier zahlreiche Beispiele für widerständiges Handeln doch irgendwie mitzugeben. Nur werden diese Beispiele nicht argumentiert, sondern zumeist durch einen Sprung vom schlecht Abstrakten ins Konkretistische vollzogen. Man mag den enttäuschten Leserinnen daher dankbar sein, dass sie die Beispiele gar nicht als ihr Wissensbedürfnis befriedigende registrierten, zumal diese auf eine äußerst unbehagliche Weise tendenziell sind, dass hier offensichtlich doch ein Nachdenken über Widerstand für den Zweck des „Politisierens“ zugerüstet wird.

Es ist das Verhältnis Israels zu den palästinensischen Autonomiegebieten, das nahezu für die gesamte Beispielebene herhalten muss. Der Gegenstand der „Enteignung“, Ausgangspunkt einer „Dekonstruktion“ von Dogmatismen politischer Vollzüge, wird hier zur dogmatischen Setzung eines Rechtfertigungsrahmens, innerhalb dessen jegliches palästinensisches Agieren als Widerstand auftreten kann. Wenn es um die „Ideologie des Besitzindividualismus und Besitznationalismus“ geht, führen Athanasiou und Butler Israels „Kolonialismus“, „koloniale Gewalt“ und „Landnahme Palästinas“ an. Wenn es um „Enteignung als Moment eines autoritären und häufig paternalistischen Apparats der Kontrolle und der Aneignung des Raumes und der Mobilität, der Affekte, Potentialitäten und Bezogenheiten der (neo-)kolonial Unterworfenen“ geht, zeigt sich ihnen das in „Strategien der Apartheid wie bei den Sperranlagen in Palästina“, schließlich „verwerfen“ „Kontrollpunkte“ und „Checkpoints“ die „Möglichkeiten eines Zusammenlebens“ und „durchkreuzen […] die Beziehungen stiftende Form des Enteignet-Werdens“. Glücklicherweise jedoch brächten sie nicht nur „Unterwerfung hervor“, sondern ließen auch „Widerstand, Mut und Kampfgeist entstehen“. Und wenn gegen Ende des „Dialoges“ dann noch einmal ausgeholt wird, um den Zusammenhang von Widerstand und Freiheit zu erörtern, dann mündet das in den „Slogan ‚Freiheit für Palästina‘“.

Wenn es dann darum geht, wie „jene Normen, die in manchen Situationen im Namen der Freiheit wirken, sich zu Vehikeln eines Kulturimperialismus und der Unfreiheit verkehren können“, dann geht es den Autorinnen – aber natürlich, liebe Leserinnen – um Israel! Die „‚outness’ schwulen Lebens“ in Tel Aviv, so Butler, „dient […] der Ablenkung von der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten, von der beschädigten Staatsbürgerschaft palästinensischer Israelis und vom erzwungenen Exil“. Um dieses Butler’sche Breittreten der „Homonationalismus“- und „pinkwashing“-Thesen Jasbir Puars und die problematischen Verkürzungen ihrer eigenen Staatskritik gibt es seit Jahren eine kritische Debatte, von der überhaupt nichts zu spüren ist, wenn nun im Wortlaut nahezu Identisches von Athanasiou wiedergekäut wird. Butlers Immunität gegenüber einer Kritik ihrer „Israelkritik“ erweist ihren verdienstvollen theoretischen Bemühungen um eine Kritik der Mechanismen gesellschaftlicher Normierung(en) keinen guten Dienst. Wenn es um ein Reflektieren im Vollzug politischer Praxis geht, verhält sie sich zu ihrer eigenen Theorie so instrumentell-reduktionistisch wie sich einst die KPdSU zur Marx’schen Theorie verhielt.

Mit all den zuvor umfassend entwickelten Forderungen nach einer Perspektive, die der Komplexität aktueller kritisch-politischer Vollzüge gerecht werden würde, mit all den Forderungen nach einem Denken der Andersheit des Anderen, einer Hinterfragung von Zu- und Festschreibungsmechanismen von Identitäten und mit dem Anspruch eines Denkens „jenseits von Dualismen und Dichotomien“ hat das dann überhaupt nichts mehr zu tun. Die parteiliche Übernahme der politisch-ökonomischen Perspektive eines palästinensischen Nationalismus, die Israel stets nur als Täter und Aggressor, als mit sich selbst identische Einheit, als den einen mörderischen Souverän auftreten lässt, mitsamt einer derartigen Enthistorisierung und Komplexitätsreduktion der politischen Situation lässt die Grenzen zwischen Kritik und Ressentiment, zwischen Empathie und Apologie verschwimmen.

Wenn die Autorinnen gegen jedweden Nationalismus Stellung beziehen, so ist es immer der Andere, nämlich Israel, dessen Nationalismus zu problematisieren ist. Die verschiedenen Formen des arabischen Nationalismus, die Propaganda all der Regime der Ölrente, welche die Parole „Freiheit für Palästina“ durchaus zur Herrschaftssicherung gebrauchen, das nationalistische Gebaren der Fatah oder Hamas, das Leiden der palästinensischen Bevölkerung durch das Handeln ihrer politischen Organisationen sind kein Gegenstand ihrer kritischen Betrachtungen. Vielmehr müssen Athanasiou und Butler das Leiden derjenigen, die von ihnen als Täter identifiziert werden, ausblenden, um sehr unterschiedliche Praxen gegen Israel als „Widerstand“ darstellen zu können.

Der unheilvollen Verdrängung, der solche Ausblendungen Futter geben, ist es ein Glück, dass in den Gefilden des Ideologischen keine wirklichen Konsequenzen des massenmörderischen Handelns der Hamas, keine blutigen Folgen des geschichtlichen und rezenten Antisemitismus zu vernehmen sind und sich den Autorinnen selbst das „Geschehen eines ‚Selbstmordattentats‘“ blumig als Sterben der „Attentäterin oder der Attentäter […] zusammen mit ihren/seinen Opfern in einer umfassenden thanatopolitischen Intimität“ darstellt.

Angesichts einer rezenten Zunahme antisemitischer Äußerungen im Gewand widerständigen Handelns sind solche vereinseitigenden Darlegungen der Autorinnen alles andere als nebensächlich zu gewichten, auch wenn sie sich mithilfe ihrer eigenen Ansprüche an ein kritisch-politisches Denken selbst dekonstruieren ließen. Denn hier geht es nicht mehr um eine Reflexion des Politischen, sondern es zeigt sich ein instrumentelles Verständnis von Politik – das Nachdenken über Widerstand und Widerstände gerät so zu einer Logistik, nach deren antiemanzipatorischer Pfeife hoffentlich kein „book bloc“ jemals tanzen wird.

Titelbild

Judith Butler / Athena Athanasiou: Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Atzert.
Diaphanes Verlag, Zürich 2013.
266 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783037344286

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