Größtenteils harmlos

Kai J. Sasses „Realitätsfalle“ wandelt unmotiviert zwischen den Welten

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Widmung zur Novelle „Realitätsfalle“ des 2012 verstorbenen „Agnostikers und Anarchisten“ (so der Worlaut des Klappentexts) Kai J. Sasse stellt den Leser vor ein vielschichtiges wie gewitztes Rätsel. „In memoriam Brigid O’Shaughnessy“ heißt es im Untertitel des im Wehrhahn Verlag erschienenen Buches. Erinnert wird hier an eine Figur aus dem amerikanischen Kriminalfilm „Die Spur des Falken“ (1941), die in diesem ersten Film aus der Ära des Film noir ein falsches Spiel mit Humphrey Bogart spielt. Eben diesen Text einer fiktiven Frau zu widmen, die sich durch Täuschung in einer Kriminalgeschichte zu behaupten versucht, kann als erster Lesehinweis dienen, auch wenn Brigid O’Shaughnessy in der Erzählung keine weitere Rolle spielt.

Diese beginnt nicht mit einem Rätsel, sondern mit einem (recht konventionellen) Einsatz medias in res: „Dass ich nach Großavignon abgerufen wurde, verwunderte mich nicht.“ Der Ich-Erzähler, Martin Senkel, ist das „Schatzkästlein“ des international führenden Lebensmittelkonzerns INUSA (International Utilisation and Sale) – er bewahrt das Geheimrezept. Durch eine besondere Form der Konditionierung ist es unmöglich, ihm dieses Rezept mit Mitteln der Manipulation oder mit Gewalt zu entlocken. „Foltern Sie mich, nada. Geben Sie mir Drogen, es nützt nichts. Weder Gehirnwäsche noch sonst irgendetwas kann mich dazu bringen, auch nur ein Prozent meines Wissens preiszugeben. […] [I]ch bin der einzige Mensch, der das INUSA Geheimrezept kennt, und ich bin unfähig es preiszugeben, außer es geschieht völlig, ich wiederhole, völlig freiwillig.“ Auf dem Weg zum geheimen Hauptquartier wird er von der Konkurrenzfirma CDIF (Christian und Dresen International Food) gekidnapped und mit Hilfe eines „Realitätssimulators“ durch verschiedene künstliche Welten geschickt. Zunächst glaubt Martin, man wolle ihn solange verwirren, bis er nicht mehr weiß, ob er sich in der „realen Welt“ befindet oder in einem Cyber-Kosmos, und so das Rezept freiwillig preisgibt. Doch auch die Simulationen „seiner Realität“ erkennt er als solche und behält das Geheimnis für sich. Einzige Konstante auf seiner Odyssee durch die verschieden Projektionen ist die lilafarbene Elefantendame Frederike, die immer wieder auftaucht und Martin aus prekären Situationen rettet. Sie erklärt ihm, dass es durch seine Reise in der Simulationsmaschine zu einer Vermischung der Realitäten gekommen sei. „Aber diese Herren, Christian und Dresen, haben sozusagen beiläufig, jedenfalls unbewusst, Ihren Realitätstunnel erweitert. Sie haben, dadurch, dass sie Sie hypersensibilisiert haben, für Sie das Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen. Nämlich zu meiner. Aber auch das ist eher begrüßenswert, so im Sinne von intergalaktischer Freundschaft und so weiter, Sie verstehen.“ Am Ende wird Martin von Frederike in eine weitere Realität gebracht, die an ein romantisch verklärtes, mittelalterliches Europa erinnert. Oder ist auch das nur wieder eine Projektion derjenigen, die die Maschine bedienen? Diese Frage bleibt ungeklärt, scheint aber aus Sicht des Ich-Erzählers auch beinahe unwichtig.

Diese Tour de Force durch die verschiedenen Realitäten ist gepflastert mit unterschiedlichsten popkulturellen und philosophischen Anspielungen. In einer etwas zusammengeklaubten Mischung aus „Matrix“, „Per Anhalter durch die Galaxis“ und „Alice im Wunderland“ wird hier Descartes’ methodischer Zweifel ausbuchstabiert. Der böse Dämon, der den Protagonisten ständig täuscht, hat hier das Gesicht der konkurrierenden Lebensmittelfirma. Statt einem weißen Kaninchen folgt man einem lilafarbenen Elefanten durch virtuelle Welten und erhält von ihm den Rat „Verlier nicht dein Handtuch“. Schon die Ausgangssituation des Protagonisten als hochbegabter Spezialist, der aufgrund fast übermenschlicher Fähigkeiten eine besondere Position in einem fadenscheinigen Großkonzern innehat, erinnert stark an Haruki Murakamis „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“. Nicht zuletzt klingt in der Figur der Elefantendame Frederike sowohl die Viele-Welten-Theorie der Quantenphysik als auch das buddhistische Gleichnis „Die blinden Männer und der Elefant“ an.

Das 86 Seiten kurze Science-Fiction-Potpourri, das sich in „Realitätsfalle“ ausbreitet, ist also – entgegen der Gattungszuschreibung „Novelle“, die auf dem Cover zu lesen ist – keine „unerhörte Begebenheit“. Doch nicht die fehlende Originalität macht den Text so harmlos, sondern eher der uninspirierte Erzählton, die manchmal biedere Darstellungsweise und die leicht zu durchschauende Konstruktion. So setzt sich Elefantendame Frederike gerne mal „elefantös“ irgendwo hin. Auch der intertextuelle Verweis auf das buddhistische Gleichnis und die ‚Handtuch-Anspielung’ auf „Per Anhalter  durch die Galaxis“ wirken sehr gewollt und unnötig inszeniert. Der für Martin Senkel abgestellte Bodyguard stirbt zu Beginn der Geschichte einen unter Personenschützern häufig gestorbenen Tod, der aber meist etwas spannender erzählt wird. „Laufenberg sagte nichts. Laufenberg saß auch nicht. Er war im Sitz heruntergerutscht. Das irritierte mich. Genau wie seine schlaff herunterhängenden Hände. Und der kleine Pfeil, der aus seiner grauen Weste stak. Genaugenommen wirkte er wie ein Toter. Genaugenommen war er tot.“

Ohne allzu große Überraschungen begleitet man den Protagonisten durch eine voraussehbare Geschichte, ohne sich je wirklich um ihn zu sorgen. Dennoch ist „Realitätsfalle“ recht unterhaltsam und kurzweilig. Das Buch mag überdies vielleicht – als Jugendbuch oder in der Schule eingesetzt – einen Anstoß liefern, über die Verlässlichkeit von Sinneseindrücken, mediale Täuschungen und die Frage nach sicherer Erkenntnis nachzudenken.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kai J. Sasse: Realitätsfalle. Novelle.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2014.
85 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865253750

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